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Schuld und Respekt (eBook)

Über die Praxis von Vergeltung und Versöhnung
eBook Download: EPUB
2024 | 1., Originalausgabe
191 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77598-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schuld und Respekt - Maria-Sibylla Lotter
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Anders als Nietzsche dachte, ist die Schuld nicht aus dem modernen Leben verschwunden, sondern erobert zunehmend den politischen Raum. Schuldbekenntnisse sind heute fester Bestandteil nationaler wie internationaler Politik. Maria-Sibylla Lotter hinterfragt die kulturelle Bedeutung der neuen Schuldpraxis und unterscheidet die politische Bedeutung von Schuldbekenntnissen von ihrer moralischen und rechtlichen. Wie Praktiken der Ausrede und der Rache dienen auch Schuldbekenntnisse der Wiederherstellung gestörter Respektsbeziehungen unter Gleichen. Aufgrund ihrer Anfälligkeit für moralistische Missverständnisse können sie aber auch eine destruktive Eigendynamik entwickeln.



<p>Maria-Sibylla Lotter lehrt als Privatdozentin an der Universit&auml;t Z&uuml;rich.</p>

9Vorbemerkung


Du hast ja keine Ahnung von Frauen. Die besten sind nicht so gut, wie du glaubst, und die schlechten sind nicht so schlecht – nicht annähernd so schlecht.  Die Falschspielerin

Wenn von Schuld die Rede ist, denken wir zunächst an eine moralische Verfehlung, die einer Person vorgeworfen wird, oder an ein Verbrechen, für das sie vor Gericht steht. Die Schuld besteht hier in der Verletzung einer allgemein gültigen moralischen Regel oder eines Gesetzes.

Im Unterschied zu diesem engen moralischen und juristischen Schuldbegriff geht es in diesem Buch um eine soziale und politische Dimension von Schuld, in der die gestörten Beziehungen zwischen Menschen im Mittelpunkt stehen. Übergriffe, Demütigungen und Gewalt werden nicht nur als Normverletzungen empfunden, sondern zunächst und vor allem als Verletzungen und Missachtungen von Personen. Sie werfen die Frage auf, wie – und ob – die Beschädigung der sozialen Beziehungen repariert werden kann oder neue, respektvollere Beziehungen entwickelt werden können. In der alltäglichen und politischen Kommunikation über Fehlverhalten geht es nicht wie vor Gericht um Anklage und Verurteilung. Sie verfolgt vor allem den sozialen Zweck, Missachtungen rückgängig zu machen bzw. respektvolle Beziehungen wiederherzustellen: Indem Erklärungen eingefordert, Ausreden und Entschuldigungen vorgebracht, das Versprechen künftig rücksichtvolleren Verhaltens gegeben wird – oder die gedemütigte Partei durch herabsetzende Äußerungen Rache übt. In diesem Buch gehe ich von der Annahme aus, dass diese mehr oder weniger informellen Praktiken der Reparatur moralischer Verletzungen dienen, und untersuche ihre Funktionen. Dabei konzentriere ich mich auf zwei Praktiken der Reaktion auf soziale Verletzungen und Missachtungen, eine alte und eine relativ neue in der Geschichte der Menschheit: im ersten Teil auf Praktiken der Rache und Vergeltung, im zweiten auf stellvertretende politische Entschuldigungen für historisches Unrecht. Beide Teile können einzeln gelesen werden. Sie sind jedoch Teilelemente eines umfassenderen Projekts und behandeln alternative Lösungen des10selben Problems: Was ist notwendig, um Beziehungen des Respekts zwischen Individuen und Gruppen nach Gewalttaten oder anderen Formen der Missachtung (wieder)herzustellen?

Unter dem Respekt unter Gleichen verstehe ich nicht einen Respekt, der sich auf gleichwertige Leistungen von Personen in einem speziellen Bereich bezieht, wie etwa die besondere Hochachtung, den eine erstklassige Wissenschaftlerin einem ebenso exzellenten Kollegen entgegenbringt, weil sie fähig ist, seine Leistung zu beurteilen und daher auch besonders zu schätzen. Ich begreife Respekt vielmehr im Sinne der angemessenen Rücksicht auf die berechtigten Interessen anderer Menschen als gleichberechtigter sozialer Akteure, unabhängig von ihren speziellen Eigenschaften und Leistungen.[1]  Der Gedanke eines Respekts unter Gleichen wird nicht selten in eine moralische Fortschrittsgeschichte eingebunden, in der sich die Menschheit von hierarchischen Strukturen zu egalitären Strukturen weiterentwickelt haben soll, die erst in der rechtlichen Gleichstellung aller Bürger und Bürgerinnen in den gegenwärtigen westlichen Demokratien wirklich realisiert wurde. Auch das ist hier nicht gemeint. Vielmehr gehe ich davon aus, dass es in allen kulturellen Kontexten, auch in stark hierarchischen Gesellschaften, Respektsbeziehungen unter sozial Gleichen gibt, wobei diese Beziehungen je nach Kontext mit unterschiedlichen normativen Erwartungen verbunden sind.[2] 

Die Frage, wie Beziehungen des Respekts nach Missachtungserfahrungen wiederhergestellt werden können, kann deskriptiv verstanden werden, als Frage nach den bestehenden Praktiken der Wiederherstellung von Respektbeziehungen, oder normativ, als Frage nach den moralischen Ansprüchen, die hier zu stellen sind. Man kann sie aber auch kritisch interpretieren, im Sinne einer Hinterfragung gegenwärtiger moralischer Ideen mit Blick auf ihre Angemessenheit. Alle diese Aspekte spielen im Folgenden eine Rolle, wobei die normative Frage erst auf der Grundlage einer Beschreibung der kulturhistorischen Befunde gestellt wird.

Im Gegensatz zu dem hier verfolgten Ansatz kann die Frage 11aber auch in einem primär normativen Sinne aufgefasst werden, der sich explizit von den gegebenen Praktiken abgrenzt und geradezu eine moralische Revolution verlangt, wie es etwa Martha Nussbaum in ihrem Buch Zorn und Vergebung unternimmt. Dort kritisiert sie den Wunsch nach Vergeltung ebenso wie die an Bedingungen geknüpfte Vergebung, »die am Ende eines traumatischen und aggressiv-eindringlichen Prozesses der Selbstverleumdung in Aussicht steht«.[3]  Nussbaum plädiert für ein großzügiges und bedingungsloses Verzeihen anstelle der verbreiteten Praxis, von der anderen Seite eine Bekundung von Reue und Zerknirschung oder eine andere Form des Ausgleichs von Missachtungen zu erwarten. Sie missbilligt diese Praxis wegen der durchschimmernden Krämerhaftigkeit, mangelnden Großzügigkeit und der verborgenen Freude an der Demütigung der anderen Partei. Und in der Tat kann man nicht behaupten, dass auf den menschlichen Praktiken der Vergeltung und Entschuldigung der Glanz reiner Tugendhaftigkeit liegt. Diese Praktiken hätten in einer vollkommenen Welt reiner Vernunftwesen nichts zu suchen. Daraus folgt jedoch nicht, dass sie in der menschlichen Welt zu verachten wären, wenn sie dazu beitragen können, etwas (wieder)herzustellen, was das menschliche Zusammenleben in vielen verschiedenen kulturellen Kontexten so wertvoll macht: Beziehungen des gegenseitigen Respekts unter Gleichen, in denen sich dann auch Großzügigkeit entfalten kann. Mich interessiert hier weniger die Frage, durch welche moralischen Haltungen die Menschen zu besseren Wesen werden könnten, als die Frage, welche Praktiken sich in der bisherigen Menschheitsgeschichte tatsächlich herausgebildet haben, um durch Missachtungserfahrungen zerstörte Beziehungen unter Gleichen wiederherzustellen, und was wir daraus im Hinblick auf die Besonderheiten unserer heutigen politischen und sozialen Probleme lernen können.

Insoweit es um Respekt unter Gleichen geht, überschneidet sich meine Fragestellung an einigen Stellen mit der Anerkennungstheorie, wie sie von Axel Honneth im Anschluss an Hegels »Kampf um Anerkennung« entwickelt wurde. Auch Honneth kritisiert rein utilitaristische Erklärungs- und Bewertungsmodelle sozialen Handelns und geht davon aus, dass »sich die Motive für sozialen Wi12derstand und Aufruhr im Rahmen von moralischen Erfahrungen bilden, die aus der Verletzung von tiefsitzenden Anerkennungserwartungen hervorgehen«.[4]  Ungeachtet dieser Gemeinsamkeit teilen meine folgenden Überlegungen jedoch weder die Grundannahmen noch die Ziele der Anerkennungstheorie. Diese interpretiert Reaktionen auf gefühlte Missachtungen im idealistischen Rahmen einer normativen sozialen Theorie moralischen Fortschritts und einer Bildungstheorie, in der es vor allem um die Anerkennung von Identität geht, sodass »menschliche Subjekte zu einer positiven Einstellung gegenüber sich selber gelangen können«.[5]  Dieser Anspruch liegt den hier vorgestellten Überlegungen nicht zugrunde. Erstens ist die Frage nach der Wiedergutmachung negativer Missachtungserfahrungen eine ganz andere als die Frage nach der Herstellung eines positiven Selbstbildes, die auch aktuelle identitätspolitische Diskussionen durchzieht. Zweitens ist die Anerkennungstheorie mit der Annahme einer allgemeinen moralischen Fortschrittsgeschichte der Menschheit verbunden, die mir wenig überzeugend scheint, auch wenn ich keineswegs bestreiten möchte, dass es sinnvoll ist, im Hinblick auf bestimmte Veränderungen im Normenwandel wie die moralische Verurteilung der Sklaverei und die Emanzipation der Frau, von lokalem moralischen Fortschritt zu sprechen (und vielleicht auch im Hinblick auf andere, wie den Respekt vor den Älteren, von lokalem moralischen Rückschritt). Im Unterschied zu dem Fortschrittsmodell gehen die folgenden Überlegungen in Anlehnung an Nietzsche und Bernard Williams davon aus, dass wir auch aus antiken Vorstellungen oder Praktiken in anderen Kulturen viel über den Menschen lernen können, was auch für die Gegenwart moderner Gesellschaften relevant ist. Die Frage, wie...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Friedrich Nietzsche • Internationale Politik • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Moralphilosophie • nationale Politik • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Politik • politische Schuld • politisches Schuldbekenntnis • Respektsbeziehungen • Schuldbekenntnis • Schuldpraxis • STW 2407 • STW2407 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2407 • Verantwortung • Vergeltung
ISBN-10 3-518-77598-7 / 3518775987
ISBN-13 978-3-518-77598-1 / 9783518775981
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