Religionen im Kreuzverhör (eBook)
288 Seiten
Gerth Medien (Verlag)
978-3-96122-631-3 (ISBN)
Kapitel 1
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DER GERICHTE
Das amerikanische Rechtssystem mag zwar erst etwas über zweihundert Jahre alt sein, doch seine Wurzeln reichen weit zurück. Amerikanische Gerichte nutzen ein Geschworenensystem, um die faktische Wahrheit zu ermitteln. Bereits in der Magna Carta (1215) galt eine „Jury aus Gleichgestellten“ als entscheidend für eine gerechte Beilegung von Streitigkeiten. Im Laufe der Jahrhunderte haben Gerichte spezifische Regeln entwickelt, um sicherzustellen, dass die Wahrheit bestmöglich ermittelt werden kann. Die Gesellschaft hat das Vertrauen und die Erfahrung, dass das System genutzt wird, um festzustellen, wer eine rote Ampel überfahren hat, wer wen betrogen hat und ob jemand ein Mörder ist oder nicht.
Wenn Menschen hingerichtet oder mit Freiheitsentzug bestraft werden, geschieht dies im Vertrauen darauf, dass Gerechtigkeit vollzogen wird. Dieses Vertrauen wurzelt in der Überzeugung, dass unser Gerichts- und Geschworenensystem, wenn es wie vorgesehen funktioniert, das bestmögliche System zur Ermittlung bestimmter Wahrheiten ist. Entscheidend dabei ist, dass Gerichte und Geschworene den geltenden Regeln folgen – dass sie vorurteilsfrei, unvoreingenommen, ehrlich und transparent urteilen.
Wäre ich heute im Gericht, würde ich wahrscheinlich hören, wie der Richter den Geschworenen im Einzelnen erklärt, was ihre Aufgabe ist und was nicht. Diese „Belehrung“ erfolgt routinemäßig, um die Jury bei ihrer wichtigsten Aufgabe zu unterstützen: Die Jury muss entscheiden, ob die im Verfahren dargelegten Fakten die zweifelsfreie Wahrheit darstellen oder nicht.
Im Jahr 2021 führten Pete Weinberger und ich den ersten Geschworenenprozess der USA im Zusammenhang mit der Opioid-Epidemie. Dieser Fall, von der New York Times als „der komplexeste in der amerikanischen Rechtsgeschichte“ bezeichnet, wurde durch die Belehrung der Jury durch den Richter erheblich vereinfacht.[1] Ein Richter gibt der Jury keine willkürlichen Anweisungen darüber, wie sie die Wahrheit ermitteln soll. Die Anweisungen des Gerichts wurden über Jahrhunderte der Rechtsprechung geformt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Belehrung die Jury am besten informiert und Leitplanken setzt, um sicherzustellen, dass Gerechtigkeit und Wahrheit sich durchsetzen.
Ich beziehe mich hier auf die Belehrung, die üblicherweise in einem Zivilprozess gegeben wird, nicht die aus einem Strafprozess. Aber abgesehen von der „Last der Beweisführung“ (oder der Beweiskraft der Daten, die nötig ist, um die Anschuldigungen und Vorwürfe zu entkräften) entsprechen sie im Wesentlichen auch den Belehrungen der Jury in einem Strafprozess.
Ich unterbreche hier kurz, um wiederzugeben, was diese Belehrung beinhaltet. Wenn von „Beweisen“ die Rede ist, denken viele Menschen nicht an Gerichtssäle als Modelle für „Beweise“. Viele denken eher an Labore oder an Mathematikstunden. In diesen Bereichen dienen Beweise dazu, etwas wissenschaftlich zu erweisen. Aber nicht wissenschaftliche Wahrheiten, etwa solche, die sich aus Fragen wie „Liebe ich meine Frau?“, „Wer ist über die rote Ampel gefahren?“ oder „Hat das Unternehmen die Anleger betrogen?“ ergeben, können nicht in einem Labor nachgewiesen werden.
Wenn es um die Frage nach der Existenz Gottes geht, sollte man nicht nach einem Labor- oder wissenschaftlichen Beweis suchen. Das wäre so, als würde man ein Thermometer verwenden, um die Entfernung von A nach B zu beweisen. Ein Thermometer kann zwar eine genaue Temperatur anzeigen, aber nicht die Entfernung von meiner Haustür zum Briefkasten bestimmen.
In keinem Labor oder wissenschaftlichen Experiment lässt sich nachweisen, wie groß meine Liebe zu meiner Frau ist. Ebenso kann ich in einem Mordfall nicht im Labor beweisen, dass der Täter schuldig ist. Selbst Laborevidenz wie etwa DNA, die auf der Tatwaffe gefunden wurde, bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Angeklagte das Opfer ermordet hat. Der Verdächtige könnte die Waffe nach dem Mord in der Hand gehabt haben.
Das Rechtssystem erkennt an, dass unterschiedliche Situationen verschiedene Arten und Stufen von Beweisen erfordern. Daher haben die Gerichte im Laufe der Zeit sorgfältige Regeln für Geschworene entwickelt, die ihnen in der Belehrung mitgeteilt werden – mit dem einzigen Ziel, die Wahrheit zu finden, damit Gerechtigkeit geschieht.
Eine gerechte Gesellschaft erfordert es, dass Gerichte diesbezüglich korrekt arbeiten. Vertrauen in die Justiz ist grundlegend für jede erfolgreiche Gesellschaft, und Fehlurteile sind mehr als eine Tragödie – sie gefährden die Lebensweise aller Bürger in einem Rechtsstaat. In sehr realer Weise sind die Belehrungen bei Gericht das Ergebnis der besten Bemühungen der Menschheit, die unverfälschte Wahrheit über sorgfältig geprüfte Fakten zu finden. Deshalb beziehe ich mich bei der Untersuchung verschiedener Weltreligionen auf die darin enthaltenen Regeln in der Hoffnung, auf diese Weise gerechte und wahrheitsgemäße Schlussfolgerungen zu erzielen.
Im Folgenden gebe ich den Wortlaut der Belehrung wieder, die das Gericht im Opioid-Fall gegeben hat. Sie wurde den Geschworenen vorgelesen und auch schriftlich mitgegeben. Die erste Anweisung erklärt die Pflichten der Geschworenen.
Aufgaben der Geschworenen
Es ist Ihre Pflicht als Geschworene, dem Gesetz gemäß der Belehrung des Gerichts zu folgen und die so gegebenen Rechtsvorschriften auf die Fakten anzuwenden, wie Sie sie aus den Beweisen im vorliegenden Fall erkennen …
Führen Sie diese Pflichten fair aus. Lassen Sie sich bei Ihrer Entscheidung in keiner Weise von möglichen Vorurteilen, Sympathien oder Abneigungen beeinflussen, die Sie gegenüber einer der Parteien empfinden könnten. Alle Parteien sind vor dem Gesetz gleich …
Beide Parteien wie auch die Öffentlichkeit erwarten, dass Sie alle Beweise im vorliegenden Fall sorgfältig und unvoreingenommen prüfen, dem vom Gericht festgelegten Gesetz folgen und ohne Rücksicht auf die Folgen eine gerechte Entscheidung treffen.
Dieselbe Verpflichtung sollte auch für mich und für Sie als Leser gelten, wenn wir die unterschiedlichen religiösen Ansichten betrachten. Wir alle haben die starke Tendenz, unsere bereits bestehenden Meinungen zum Filter für Argumente und Beweise zu machen, die uns vorgetragen werden. Diese Vorurteile müssen wir bewusst und gewissenhaft beiseitelegen. Tun wir das nicht, werden wir Entscheidungen treffen, die auf Vorurteilen und Voreingenommenheit beruhen.
Last der Beweisführung – Überwiegen des Beweismaterials
Die Kläger müssen alle Einzelheiten ihrer Forderung durch „Überwiegen des Beweismaterials“ (preponderance of the evidence) belegen. Diese Verpflichtung ist als Last der Beweisführung bekannt. Etwas auf diese Weise nachzuweisen bedeutet zu belegen, dass etwas eher wahr als unwahr ist.
Überwiegende Beweise sind solche, denen ein größeres Gewicht zukommt, also Beweise, die man für glaubwürdig hält, weil sie die Gegenbeweise überwiegen oder ausgleichen. Überwiegende Beweise sind solche, die plausibler, überzeugender, wahrscheinlicher oder von größerem Beweiswert sind. Denn es ist nicht die Menge der Beweise, die zählt, sondern ihre Qualität, und die muss gegeneinander abgewogen werden.
Dieser Standard verlangt keinen absoluten Beweis, da ein absoluter Beweis in kaum einem Fall möglich ist.
Normalerweise sehen Menschen Beweise nicht in diesem Licht. Viele begehen den Fehler anzunehmen, dass Beweise lediglich ein anspruchsvoller Begriff aus dem Chemie- oder Geometrieunterricht in der Schule sind. Geometrie-Beweise funktionieren für die Mathematik; ein Indikatorpapier kann beweisen, ob eine Flüssigkeit sauer oder basisch ist. Beide Beweisverfahren sind jedoch für andere Bereiche nutzlos.
Ich habe den brillanten Philosophen David Chalmers über die Frage sprechen hören, ob Menschen eine unsterbliche Seele haben.[2] Chalmers greift zurück auf seinen Hintergrund als Philosoph und Logiker, und er kommt zu dem Schluss, dass Menschen nicht nur aus Atomen und Molekülen bestehen, aber er würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass es eine unsterbliche Seele gibt. Aus seiner Sicht gibt es dafür keinen Beweis. Leider beschränkt sich Chalmers auf ein enges Verständnis von Beweisen aus der Perspektive eines Logikers und Philosophen. Das Rechtssystem dagegen ist weitaus umfassender und erkennt an, dass Beweise weit über Chalmers’ enge Auffassung von der Natur eines Beweises hinausgehen. Was in einem Gerichtssaal als wahr bewiesen werden kann, unterscheidet sich stark von dem, was ein Logiker als bewiesen wahr betrachten mag.
Dieser Unterschied bedeutet jedoch nicht, dass der Gerichtssaal unlogisch ist. Im Gegenteil, der Gerichtssaal ist äußerst logisch. Der Unterschied rührt daher, dass man anerkennt, dass nicht allem absolute, unbestrittene Gewissheit zukommt. Das bedeutet jedoch nicht, dass man keine annehmbare Gewissheit finden kann. Dies wird besser im folgendem Teil der richterlichen Belehrung verdeutlicht, der sich auf „Indizienbeweise“ konzentriert.
Gewichtung von Beweisen
Bei der Beurteilung der Beweise sollten Sie Ihren gesunden Menschenverstand einsetzen. Berücksichtigen Sie dabei Ihre alltäglichen Erfahrungen mit Menschen und Ereignissen und geben Sie den Beweisen das Gewicht, das Sie für angemessen halten. Wenn Ihre Erfahrung Ihnen sagt, dass bestimmte Beweise vernünftigerweise zu einer Schlussfolgerung führen, steht es Ihnen frei, diese Schlussfolgerung zu...
Erscheint lt. Verlag | 12.2.2024 |
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Übersetzer | Jokim Schnöbbe |
Verlagsort | Asslar |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Buddhismus |
Schlagworte | Glaubensrichtungen • Spiritualismus • Weltreligionen |
ISBN-10 | 3-96122-631-8 / 3961226318 |
ISBN-13 | 978-3-96122-631-3 / 9783961226313 |
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