Trauernde begleiten (eBook)
196 Seiten
Trias (Verlag)
978-3-432-11633-4 (ISBN)
<p><strong>Susanne Haller</strong> leitet seit 2010 die Elisabeth-Kübler-Ross-Akademie<sup>®</sup> des Hospiz Stuttgart. Sie ist Krankenschwester, Palliative-Care Fachkraft, Trauerbegleiterin, Personzentrierte Beraterin, Supervisorin und Coach (DGSv).</p> <p>Für die beruflichen Weiterbildungskurse in der Akademie ist sie zertifizierte Kursleiterin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und zertifizierte Qualifizierende für die Basisqualifikation zur Trauerbegleitung des Bundesverbandes Trauerbegleitung (BVT). Mehr erfahren Sie unter: <a href="http://www.hospiz-stuttgart.de">www.hospiz-stuttgart.de</a></p> <p><strong>Martina Reinalter </strong>ist eine erfahrene Trauerbegleiterin des Hospiz Stuttgart und Referentin an der Elisabeth-Kübler-Ross-Akademie am Hospiz Stuttgart. Darüber hinaus arbeitet sie als Arbeitscoach und unterstützt Menschen darin, ihren Weg zu finden. Mehr erfahren Sie unter: www.elisabeth-kuebler-ross-akademie.de </p>
Trauer als Anpassungsprozess
Rogers Persönlichkeitstheorie lautet: „Der Mensch wird das, was er ist […].“(28) Mit dieser hoffnungsgebenden Haltung gibt Rogers zu verstehen, dass uns unbewusst eine Kraft innewohnt, schwere Krisen zu überstehen. Das Gedicht „Bitte“ von Hilde Domin drückt diese Handlungsmöglichkeit – dass Menschen die Fähigkeit besitzen, konstruktiv mit allen Aspekten ihres Lebens fertigzuwerden – kreativ aus.
Bitte
Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut
der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht
es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden
und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.(29)
Hilde Domin
Warum Trauernde Unterstützung suchen
Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, dann verlieren wir ein Stück von uns selbst. „Man tritt in einen Prozess ein, in dem ein durcheinandergeworfenes Puzzle mit fehlenden Teilen wieder zusammengesetzt werden muss, um am Ende ein sinngebendes Bild zu erkennen.“(30) Bis wieder alle Puzzlestücke passen, ist eine prozesshafte Auseinandersetzung mit dem Verlust notwendig. Dies ist eine Anpassungsleistung mit den unterschiedlichen Formen der Puzzlestücke, bis alles wieder in ein (neues) Bild passt – eines, das den Verlust integriert hat. Das heißt, Trauern ist eine großartige Anpassungsleistung zu der wir Menschen fähig sind, die uns dennoch herausfordert und manchmal überfordert.
Trauer als Stress
Der Tod eines Kindes ist eines der größten traumatischen Lebensereignisse, das Auswirkungen auf die mentale und physische Gesundheit der Eltern hat.(31) Viele Eltern berichten rückblickend, dass der Tod ihres Kindes eines der schlimmsten und stressigsten Lebensereignisse war. 2020 berichten Song und Mitarbeitende in ihrer Studie „Mortality in parents after the death of a child“ von einer um 32 Prozent höheren Mortalitätsrate bei trauernden als bei nicht-trauernden Eltern.(32) Sie geben zudem einen signifikant hohen Anteil am Versterben durch Herzerkrankungen an.
Tatsächlich gibt es in der Trauer die Krankheit des gebrochenen Herzens, das „Broken heart syndrome“. Die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin lösen bei großem emotionalem Stress diese Symptome aus, ohne die bei einem Herzinfarkt beobachtete Veränderung des Herzmuskels und der Herzkranzgefäße. Zudem kann sich hoher, langanhaltender Stress tatsächlich auf die Gesundheit auswirken. Probleme mit dem Verdauungssystem, Magengeschwüre, Haut- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen können durch Stress entstehen und auch die Psyche kann erkranken. Deshalb sind Trauerarbeit und Trauerbegleitung auch eine wichtige Gesundheitsprävention.
Körperliche Stressreaktion
Wir wissen, wie Stress im Körper ausgelöst wird: Die Amygdala im Zentralhirn aktiviert die Stressreaktion bei Bedrohung des Organismus von außen und löst Flucht- oder Kampfbereitschaft („fight or flight“) aus. Der Hypothalamus steuert die Hormonfreisetzung. Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet und der gesamte Organismus in Alarmbereitschaft versetzt. Bei langanhaltender Stressbelastung kann der Körper Entspannung und Anspannung nicht mehr im Geichgewicht halten (Homöostase). Die Überflutung durch Stresshormone kann auf lange Sicht Immunschwäche und daraus folgende Erkrankungen begünstigen.(33)
Psychologische Stressreaktion
Stress ist das, was die Person als solchen wahrnimmt. Nach dem Transaktionalen Stressmodell nach Lazarus und Folkmannen entsteht Stress durch die subjektive Bewertung des Einzelnen.(34) Das Stressempfinden umfasst die belastende Situation, die Reaktion darauf und das Bewältigungsverhalten (Coping). Das Stress-Erleben kann als bedrohlich, schädigend und herausfordernd erfahren werden. Stress entsteht, wenn die wahrgenommene (kritische) Situationsanforderung nach Einschätzung der betroffenen Person größer ist als die verfügbaren und wahrgenommenen eigenen Bewältigungsressourcen.
Die kognitive Situationsbewertung teilt sich auf in
-
äußere Anforderungen: problemlösungsorientiert;
-
innere Anforderungen: emotionsorientiert (welche Gefühle werden erlebt und wie verarbeitet man sie).
Das Verhalten bei der Stressbewältigung hängt auch von der Aktivierung von Ressourcen ab.
Dieses Verhalten teilt sich auf in
-
äußere Ressourcen: beispielsweise, wie das soziale Netz aktiviert wird;
-
innere Ressourcen: personale, wie beispielsweise Natur, Sport, Zuversicht, Hoffnung, Glaube, Sinn etc.(35)
Als Folge ist wichtig zu erkennen, dass es das eine ist, seine Ressourcen zu kennen, und das andere, sie zu nutzen! Nur wenn Ressourcen als nicht ausreichend bewertet werden, wird eine Stressreaktion ausgelöst.(36)
Zur Ressourcenaktivierung kann man als Trauerbegleitende folgenden Fragen formulieren:
-
„Was hat Ihnen früher Freude gemacht?“
-
„Mit welchen Menschen sind Sie gerne zusammen?“
-
„Was hat Ihnen früher Kraft gegeben?“
-
„Was tut Ihnen momentan gut?“
Stressbewältigung – Coping
Die Bewältigung von vielfältigen und unterschiedlichen Belastungen nennt sich auch Coping. Coping umfasst alle Versuche, die Menschen bei bereits bestehenden oder zu erwarteten Belastungen unternehmen, um diese aufzufangen, auszugleichen und zu bewältigen. Die Coping-Strategien können auf einer gedanklichen und emotionalen Verarbeitung sowie auf zielgerichtetes Verhaltem basieren.
„Trauer-Coping“ ist ein dynamischer Prozess, der im Verarbeitungsprozess wie ein Pendel hin- und herschwingen kann.
Das Trauerpendel
Wenn das Pendel in der Mitte zur Ruhe kommt: Nach einem Hin- und Herschwingen in unterschiedlicher Dynamik über einen längeren Zeitraum kann es bedeuten, dass eine Balance gelungen ist und das Schicksal (Verlust durch Tod) integriert werden konnte. Tatsächlich ist dies ein Zur-Ruhe-Kommen, ein realistisches Annehmen des neuen Lebens unter den veränderten Bedingungen.
Kommt es nicht zum Pendeln oder endet das Pendeln sehr bald, erscheint es wie ein Erstarren, es findet weder das Leugnen und Auflehnen gegen das Schicksal statt noch das Streben nach einem guten Weiterleben. Der Mensch funktioniert mechanisch und ist wie eingefroren. Kurz nach dem Tod eines nahestehenden Menschen tritt dieser Zustand bei den meisten ein. Danach sollte er ins Pendeln kommen.
Geschieht dies nicht und die Trauernden bleiben in dieser Erstarrung, mögen sie zunächst im Außen als stabil angesehen werden – als Trauernde, die gut zurechtkommen. Es besteht aber die Gefahr, dass sich im Laufe der Zeit negative Folgewirkungen zeigen. Durch die Trauer zu gehen bedeutet, psychisch flexibel zu bleiben.
In der Trauerbegleitung kann man auf der rechten Seite des Pendels spüren, dass der (Über-)Lebenswille stark ist. Auf der linken Seite des Pendels dominiert das Nicht-wahrhaben-Wollen der Situation, die schmerzhaft ist. Zwischen den beiden Polen herrscht eine Ambivalenz, ein „Sowohl-als-auch“, und beides darf sein und gespürt werden.
Hilfreich im Gespräch ist das Aufzeigen dieser Bewegung des Pendels als Geste. Dabei wird sichtbar, wie anstrengend der Prozess des Hin- und Herschwingens und der weiten Ausschläge ist.
Resilienz
Das Faszinierendste an Resilienz ist die Tatsache, wie robust Menschen sind, auch wenn sie Verluste und Traumata erlitten haben. Resilienz (Widerstandsfähigkeit) ist die allgemeine Fähigkeit, auch sehr belastende, erschöpfende, enttäuschende oder traumatische Lebenssituationen angemessen zu bewältigen. Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass wir nicht voraussagen können, wie der Mensch mit dem Stress in der Situation umgehen wird.
Resilienz wird als Ergebnis eines dynamischen Prozesses gesehen, der sich in der Herausforderung entwickelt. Tatsächlich sind noch mehr Langzeitstudien über Resilienz notwendig. Wir können jedoch nachvollziehen, dass eine positive Lebenseinstellung, Freude und Optimismus – die Erwartung, dass gute Dinge passieren...
Erscheint lt. Verlag | 6.12.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Abschied • Abschiednehmen • Elisabeth Kübler-Ross • Krankheit • Resilienz • Sterben • Tod • Trauer • Trauerbegleiter • Trauerbegleitung • Trauermethoden • Trauermodelle • Trauernde • Trauersymptome • Trauerverläufe |
ISBN-10 | 3-432-11633-0 / 3432116330 |
ISBN-13 | 978-3-432-11633-4 / 9783432116334 |
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