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Hexenangst und Hexenverfolgung in Goethes ›Faust‹ (eBook)

Die Deutung verschwiegener Spuren in der Literatur

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
528 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-131157-9 (ISBN)

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Hexenangst und Hexenverfolgung in Goethes ›Faust‹ - Anne Uhrmacher
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Schätzungsweise 60 000 tödlich endende Hexenprozesse in Europa haben nicht nur in Prozessakten Spuren hinterlassen. Im Bewusstsein der Zeitgenossen - und in der Literatur - blieben sie noch lange nach den großen Verfolgungswellen präsent. Wenn man sich das markante Geschehen heute ins Gedächtnis ruft, sind neue Einblicke in die Literaturgeschichte und in Konstanten des Empfindens von Bedrohung möglich. Dies zeigt das Beispiel Goethes Faust: Das Drama enthält nicht nur die bekannten Hexenimaginationen, sondern auch viel mehr historische Wirklichkeit als bisher wahrgenommen worden ist. Und weil es eines der besterforschten Werke ist, kann man es als Präzedenzfall für verschwiegene Spuren in der Literatur(wissenschaft) betrachten.

In der Studie wird Goethes Wissen um die Hexenverfolgung ermittelt und dessen Manifestation im Faust rekonstruiert. Einerseits führt dies zu einer an vielen Stellen neuen Interpretation des Werkes. Andererseits stößt man auf beredte Leerstellen in der Literaturwissenschaft, die Sozialgeschichte rezipiert und schreibt.



Anne Uhrmacher, Universität Trier

1 Hexenangst und Hexenverfolgung als Wissen in der Literatur: das Beispiel Goethes „Faust“


Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.1

In seiner Abhandlung „Trauerspiel und Tragödie“ schrieb Walter Benjamin: „Die tiefere Erfassung des Tragischen hat vielleicht nicht nur und nicht sowohl von der Kunst als von der Geschichte auszugehen.“2 Die fast 400 Jahre währende Hexenverfolgung in Europa ist ein Teil der Geschichte, der genuin tragische Elemente hat: Mitleid mit den Opfern und Furcht vor dem Menschen können die Resultate sein, wenn man sich mit dem Geschehen auseinandersetzt; ebenso Hochachtung für dessen mutige Widersacher.

Frühneuzeitliche Zauberei- und Hexenprozesse zeitigten schätzungsweise bis zu 60 000 Todesopfer3 und werden zu Recht eine „der schlimmsten von Menschenhand angerichteten Katastrophen der europäischen Geschichte“4 genannt. Die markanten historischen Szenarien haben das Bewusstsein der Zeitgenossen geprägt und noch lange nach den großen Verfolgungswellen Spuren in der Literatur hinterlassen. Die Lehre vom Hexenwesen, die „Dämonologie“, und die in ihr geschürte Hexenangst wurden schon seit ihrer Verbreitung zu Beginn der frühen Neuzeit in literarischen Werken rezipiert und durch diese auch weitergetragen. Explizite Verarbeitungen der real praktizierten Hexenverfolgung finden sich aber vor allem in der Literatur des 19. Jahrhunderts, im weiten Feld der Heimatliteratur, in historischen Romanen sowie in Jugendliteratur seit den 70ger Jahren des 20. Jahrhunderts. In diesen Feldern wurde die Rezeption der Hexenverfolgung erforscht, wenn auch noch nicht sehr oft, aber immerhin in einigen Untersuchungen.5 Dagegen wurde die subkutane Präsenz des Themas in der Literatur noch kaum wahrgenommen: seine verdeckten, manchmal unleserlich gemachten, aber wirkmächtigen Spuren. Selbst wenn sich die Literaturwissenschaft explizit mit frühneuzeitlicher Geschichte befasst, ist die Hexenverfolgung bisher weithin ein blinder Fleck dieser Forschung. Das zeigt beispielhaft die wissenschaftliche Wahrnehmung eines der berühmtesten Werke der Literaturgeschichte: Goethes „Faust“.

Goethe behandelt hier nicht nur den Teufelspakt, sondern auch die Hexenthematik zentral und lässt Faust sogar am „Hexensabbat“ teilnehmen. Das Drama gilt als prägend für die Rezeptionsgeschichte der Hexenimaginationen, es ist bis heute ein Multiplikator dieser Phantasien. Viele Historiker zitieren auch in aktuellen Studien Goethes „Faust“, um Hexenvorstellungen anschaulich werden zu lassen.

Dämonologische Elemente spielen in Goethes Werk eine wichtige Rolle. Die in der frühen Neuzeit weit verbreiteten Theorien und Ängste sind auch in der Goethe-Forschung – wenigstens zum Teil – als Quelle für Hexenphantasien beachtet worden. Es werden zum Beispiel die Fragen behandelt: Wie spielt sich eine Walpurgisnacht ab? Welche dämonologischen Details hat Goethe aus welchen Quellen bezogen? Die Sekundärliteratur zu „Faust“ richtet den Blick dabei aber fast ausschließlich auf die imaginäre Seite der Dämonologien: die Phantasien und Ängste; etwa: „Was sind Hexen? Was an ihrem Tun ist obszön? Wie zaubern sie?“ Ignoriert wird sogar in diesen Untersuchungen zu dämonologischen Quellen meist die reale Seite der Hexenimaginationen, die massenhaft praktizierten Verfolgungen. Einzelne Autoren erwähnen sie zwar am Rande, das Wort „Hexe“ erscheint sogar in zahlreichen Titeln, aber als Gegenstand der Forschung zu Goethes „Faust“ ist das Hexenthema meist ein rein phantastisches Konstrukt.

Anders als es bisher in dieser Forschung geschehen ist, muss man jedoch beachten, dass viele dämonologische Quellen, die Hexenängste verarbeiten und die Goethe rezipierte, eben nicht nur eine Phantasiewelt schildern. Im Zusammenspiel mit anderen Faktoren entfalteten die Traktate überaus fatale Wirkungen und bildeten den theoretischen Hintergrund für die frühneuzeitlichen Hexer- und Hexenverfolgungen. Sie enthalten ganz konkrete Beobachtungen oder Anweisungen zur juristischen Verfolgung vermeintlicher Hexen und Zauberer, zur Definition des Hexereideliktes und zur Durchführung von Hexenprozessen. Sie geben oft sogar konkrete Handlungsanweisungen, zum Beispiel, unter welchen Bedingungen Folter durchgeführt werden solle und welche Fragen im Verhör zu stellen seien. Viele Dämonologen hatten Erfahrungen mit real praktizierter Hexenverfolgung.

Auch manche der bekannten juristischen Lehrwerke der frühen Neuzeit enthielten dämonologische Abhandlungen. Ein Beispiel hierfür sind die Schriften Benedict Carpzovs (1595–1664), die noch lange nach seinem Tod in der juristischen Praxis und Ausbildung einflussreich waren. Auch Goethe hat diese rezipiert und sich aus ihnen Details aus Verhörprotokollen echter Hexenprozesse herausgeschrieben. Die Exzerpte sind in den Entwürfen zu „Faust“ überliefert.

Diese reale Seite der Hexenphantasien und Hexenangst durchzieht, wie den Fauststoff, Goethes Drama ebenfalls sehr deutlich. Es ist geprägt von der sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts, die dem Fauststoff innewohnt. Goethe lässt sie lebendig werden: Fausts und Gretchens Tragödien haben detailgetreue Vorbilder in Hexenprozessen der frühen Neuzeit. Es gibt sogar Indizien dafür, dass Gretchens Hinrichtung vom Dichter ursprünglich als Hexenprozess geplant war, eine These, die schon 1982 veröffentlicht wurde.6 In anderen künstlerischen Verarbeitungen des Fauststoffes, etwa Bildern und Filmen, wird die Nähe zur Hexenverfolgung manchmal sehr stark betont.

Die in der gesamten frühen Neuzeit praktizierten Hexenverfolgungen sind in der Literaturwissenschaft, auch wenn sie sich mit sozialgeschichtlichen Hintergründen des Goethe’schen Dramas auseinandersetzt, noch kaum berücksichtigt worden. Diese Lücke ist besonders auffällig, weil das Thema Hexenverfolgung zum einen aufgrund des Stoffes naheliegt: der Geschichte eines frühneuzeitlichen Teufelsbündners; und zum anderen aufgrund der unvergleichlich breiten Forschungsgeschichte des Werkes, die sonst kaum ein Gebiet auslässt.

Zuwenig wird die Tatsache bedacht, dass Strafbestimmungen gegen vermeintliche Hexen in vielen Ländern bis ins frühe 19. Jahrhundert galten und Goethe noch ein Zeitgenosse der letzten Hexenprozesse war.7 Von ihm selbst sind einige Äußerungen zum Thema der Hexenverfolgung überliefert. Ein strafrechtliches Vorgehen gegen angebliche Hexen war zu Goethes Zeit durchaus noch Realität, von Lynchjustiz und Stigmatisierung ganz zu schweigen.8

Der Dichter hat auch vehemente Kritik an der Verfolgung miterlebt, etwa als die letzte legale europäische Hexenhinrichtung 1782, die im Schweizer Kanton Glarus stattfand, publizistische Proteste auslöste. So ist das populäre Bild einer zu Goethes Zeit vollzogenen „Aufklärung“9 mit Blick auf dämonologische Vorstellungen zu modifizieren. Der Dichter selbst macht Aberglauben und Aufklärung zu einem Metathema im „Faust“, etwa wenn ein Besucher der Walpurgisnacht die Hexen mit folgenden Worten verscheuchen will:

Ihr seid noch immer da! Nein das ist unerhört.

Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! (4158 f.)10

Goethe hat in seinem „Faust“ Hexenimaginationen vielfach variiert und transformiert. Er hat dämonologische Details sehr kenntnisreich verarbeitet und setzt bei seinen Rezipienten dämonologisches Wissen voraus. Auch das juristisch verfolgte Hexereidelikt, das man in der frühen Neuzeit als kumulativ definierte, ist vollständig im Drama repräsentiert. Es setzte sich aus den folgenden Bestandteilen zusammen: dem Teufelspakt, der Teufelsbuhlschaft, der Luftfahrt, also dem Flug der „Hexen“, der Teilnahme am „Hexensabbat“ und dem Schadenzauber. In Goethes Drama kommt der Pakt zwischen Faust und Mephistopheles zustande. Nachdem Faust zum Blocksberg geflogen ist, beteiligt er sich am „Hexensabbat“; dort wird er zum Beischlaf mit einer Hexe verleitet, dessen Vollzug ungeklärt bleibt. Gretchens Mutter wird durch Fausts Schlaftrunk vergiftet, was als Schadenzauber ausgelegt werden könnte.

Aktuelle Ergebnisse der Forschung zur Hexenverfolgung drängen die historische Perspektive auf Goethes „Faust“ geradezu auf. Sie zeigt beispielhaft: Wenn das markante Verfolgungsgeschehen ins Bewusstsein gerückt wird, sind neue Einblicke in die Literatur, ihre Rezeptionsgeschichte und auch in diachron präsente Bedrohungsszenarien möglich.

Nicht zuletzt dürfen Hexenverfolgungen keineswegs als alleiniges Thema der Vergangenheit gesehen werden. Noch immer ist der Glaube an Hexerei auch in Europa existent.11 Und bei aller Vorsicht vor generalisierenden Kulturvergleichen12 ist doch offensichtlich, dass heute Hexenverfolgungen in vielen Teilen der Erde, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, stattfinden.13 Der Historiker Wolfgang Behringer kritisiert zu Recht manche anthropologischen Relativierungen einer Gefahr des Hexenglaubens,14 der doch weltweit unzählige Menschenrechtsverletzungen und Morde nach sich zieht. Die geschichtswissenschaftliche Forschung betrachtet inzwischen...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2023
Reihe/Serie ISSN
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte
Zusatzinfo 22 b/w and 18 col. ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Faust • Goethe • Hexenverfolgung • literature and knowledge • Literatur und Wissen • witch hunts
ISBN-10 3-11-131157-0 / 3111311570
ISBN-13 978-3-11-131157-9 / 9783111311579
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