Identität und Begehren (eBook)
170 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043080-8 (ISBN)
Prof. Dr. med. Michael Ermann ist emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und nunmehr vor allem als Autor und Ausbildungspsychoanalytiker tätig.
Prof. Dr. med. Michael Ermann ist emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und nunmehr vor allem als Autor und Ausbildungspsychoanalytiker tätig.
2. Vorlesung
Sexualität und die Psychoanalyse
In der Psychoanalyse hat die Sexualität in verschiedenen Kontexten Bedeutung:
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Die Theorie des Unbewussten wurde zu Beginn aus einer reinen Triebtheorie heraus entwickelt. Der Sexualtrieb spielte dabei eine maßgebliche Rolle.
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Die Psychoanalyse betrachtete intrapsychische, soziale und kulturelle Prozesse lange ausschließlich als Ergebnis einer sexuellen Energie, der Libido und ihrer Verarbeitung.
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Sie verstand die Neurosenentstehung zuerst als Folge verdrängter Sexualtriebe.
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Sie entwarf eine Lehre der menschlichen Entwicklung als Triebentwicklung.
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Sie befasst sich mit der Sexualität im psychotherapeutischen Prozess.
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Sie untersucht und behandelt die Psychopathologie der Sexualität.
Sexualität wird dabei in einem sehr weiten Sinne verstanden. Sie umfasst das gesamte Lust- und Unlusterleben, das mit seelischen und körperlichen Empfindungen verbunden ist. Der Begriff meint aber weit mehr als genitale Geschlechtlichkeit. Sigmund Freud beschrieb als Libido (lateinisch für Begehren, Verlangen) die Lebensenergie, die hinter allen psychischen Prozessen steht und die das Bewusstsein ebenso beherrscht wie das Unbewusste.
Damit steht die Sexualität in ihren verschiedenen Funktionen und Erscheinungsformen im Zentrum des ursprünglichen psychoanalytischen Denkens. Ihre Bedeutung hat sich in den über 100 Jahren der weiteren Entwicklung durch Neuerungen und Weiterentwicklungen der Theorie und Technik allerdings grundlegend verändert. Die Bedeutung der Triebtheorie ist zurückgegangen. Heute ist sie für die Psychoanalyse nicht mehr prägend.
Der Ursprung der Sexualität
Wie der Trieb entsteht, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass mit dem Menschsein etwas Existenzielles verbunden ist, das wir als psychosexuelle Konstitution oder mit Sigmund Freud als Trieb bezeichnen, den wir gemeinhin dem Körperlichen zurechnen. Als Sexualität dient er dem Arterhalt und der Fortpflanzung. Nach Freud ist er die Basis aller Motivationen.
Die neuere Affektforschung33 sieht das anders. Danach stellen die Affekte die primären Motivationen dar und nicht die Triebe. Eingebettet in Beziehungen, soziale Prozesse und kulturelle Kontexte entwickelt sich daraus der bio-psycho-soziale Komplex, dem wir als Sexualität begegnen. Sie hat sich im Laufe des Zivilisationsprozesses zu Gunsten der Lustbefriedigung von der Aufgabe der Fortpflanzung gelöst.
Es ist einer der genialen Einfälle von Freud, dass er erkannte, dass die Sexualität, der wir beim Erwachsenen begegnen, nicht mitgebracht ist, sondern sich erst in einem Prozess der Reifung entwickelt. Er nahm an, dass sie in der oralen Beziehung zur Mutter als dem ersten Liebesobjekt ihren Ursprung hat. Prägend sind die frühen Körpererfahrungen, die durch Lustempfindungen bei der Pflege im Kind hervorgerufen werden. Danach kann man bildhaft sagen: Die Sehnsucht nach der Mutterbrust ist der Motor für späteres sexuelles Begehren.
Heute sehen wir mehr als damals, dass die psychophysische Reifung nur eine der Entwicklungsbedingungen ist und dass die Ausformung der Sexualität mehr mit Beziehungserfahrungen und soziokulturellen Vorgaben zu tun hat als mit der Biologie.
Der Exponent dieser Auffassung ist Jean Laplanche, der mit seiner allgemeinen Verführungstheorie die frühere Freud'sche Verführungstheorie34 von 1896 einer Revision unterzogen und damit neue Perspektiven eröffnet hat.35 Für ihn ist die unbewusste Sexualität der Eltern, ihr unbewusstes Begehren in der Beziehung zu ihrem Kind, von entscheidender Bedeutung. Seine wegweisende Erweiterung besteht darin, dass er die Pflege- und Stillsituation zwischen der Mutter und ihrem Säugling als eine zutiefst sexuelle Verführungssituation versteht. Danach geht die infantile Verführung nicht, wie bei Freud, von ödipalen Männern wie dem Vater aus, sondern zuvorderst von der präödipalen Mutter.
Bei Laplanche erscheint die Mutter erstmals als ein begehrendes sexuelles Wesen, und die Interaktion zwischen beiden ist unvermeidlich. So wird der Säugling das Objekt ihres unbewussten Begehrens, deren »rätselhafte Botschaften« es in seiner Unreife weder verstehen noch verarbeiten kann. Über diese rätselhaften sexuellen Botschaften in der engen direkten Berührung mit dem mütterlichen Körper entstehen die Phantasien, die den Kern des Unbewussten bilden. Nach Laplanche wird durch das Begehren der Eltern das Unbewusste des Kindes geschaffen.
Ilka Quindeau36 hat diese Theorie auf die Entstehung der Sexualität angewandt. Sie betont dabei die Asymmetrie der Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind. Anders als die moderne Entwicklungspsychologie sieht sie weniger den »kompetenten« Säugling37, der Verhalten in den Eltern induziert, als seine Unterworfenheit. Er ist dem Begehren der Erwachsenen, das ihm weitgehend unbewusst bleibt, ausgesetzt. Doch die ersten Befriedigungserlebnisse mit der Mutter im Stillakt werden in das Körpergedächtnis eingeschrieben. Der Körper wird dadurch zu einem sexuellen Körper. Darauf antwortet das Kind mit eigenem Begehren. Auf diese Weise wird das Sexuelle im Kind durch frühe Interaktionen hervorgerufen.
Die libidinöse Besetzung des kindlichen Selbst durch das Begehren der Eltern spielt bei der Aktivierung der sexuellen Protoidentität eine bedeutende Rolle. Man kann aber fragen, ob das allein der entscheidende Vorgang ist. Diese Sichtweise unterschätzt nach meiner Auffassung den Anteil des Kindes. Dieser besteht in den Signalen, die es aussendet und die das Begehren der Eltern hervorrufen: Das sind protosexuelle Aktivitäten wie sein Lächeln und Lallen, seine Laute und Gestik, sein Geruch und in einem noch viel umfassenderen Sinne seine bloße Existenz, die Eltern glücklich macht.
Ich bevorzuge daher die Sichtweise, dass die Konstituierung des sexuellen Selbst ein intersubjektiver Prozess ist, an dem beide Seiten – Eltern und Säugling – zusammenwirken. Der Säugling erlebt in den frühen Interaktionen die Wirkmächtigkeit seiner protosexuellen Aktivität, auf die das Begehren der Eltern antwortet.
So scheint mir die Annahme berechtigt, dass das sexuelle Selbst eine Ko-Konstruktion38 ist, die ohne die Berücksichtigung aller Beteiligten nicht hinreichend verstanden wird – nicht in der frühen Selbstentwicklung und auch nicht in den späteren Partnerschaften. Es ist ein intersubjektiver Prozess, der sich in jeder neuen Beziehung wiederholt. Erst durch das Zusammenwirken der unbewussten Interaktionen, erst aus dem gegenseitigen Begehren entsteht die Sexualität als ein Drittes.
Die Triebtheorie der Neurosen
Das »Skandalöse« der Psychoanalyse ist die Annahme einer infantilen Sexualität. Diese Annahme war im ausgehenden 19. Jahrhundert, als Sigmund Freud die Grundlagen der Psychoanalyse entwickelte, nicht völlig neu. Die Sexualwissenschaft hatte damals die Sexualität des Kindes bereits als Gegenstand der Forschung entdeckt. Dennoch erregte Freud Aufsehen mit seiner Beobachtung, dass die Sexualität nicht auf das Erwachsenenalter begrenzt ist. Er fand, dass bereits Kinder trotz ihrer sexuellen Unreife von Geburt an bestimmte Sexualäußerungen zeigen, z. B. die kindliche Masturbation und die Zeigelust. Die Annahme einer Asexualität des Kindes bezeichnete er als realitätsfremd. Bei der Empörung über diese Auffassung wurde allerdings häufig übersehen, dass Freud nicht eine genitale Ausrichtung der kindlichen Sexualität unterstellt hat, sondern alle Formen von Lusterleben am eigenen Körper als infantile Sexualität betrachtete.
Um die damalige Empörung zu verstehen, muss man sich das prüde gesellschaftliche Klima im Wien der k. u. k. Zeit um 1900 vergegenwärtigen. Trotz aller technischen Neuerungen und kulturellen Errungenschaften, trotz eines gewissen Aufbruchsklimas herrschte in sexueller Hinsicht damals eine zutiefst gespaltene Moral: Wien war einerseits in sexuellen Dingen viel offener, als man zumeist glaubt. Das Thema Sexualität lag gleichsam in der Luft, wie das damals gierig und zugleich empört aufgenommene Buch Geschlecht und Charakter von Otto Weininger belegt, das 1903 erschienen war. Allerdings war das, was in bestimmten Kreisen gelebt und diskutiert wurde, durchaus nicht allgemein akzeptiert. In diesem Klima war man natürlich hellhörig und reagierte gereizt auf die provokativ erscheinende Annahme einer kindlichen Sexualität.
Freud begründete auf dieser Annahme seine gesamte Neurosenlehre. Er legte die Grundzüge dazu um 1890 bei der Behandlung von Patientinnen, die sich zumeist wegen hysterischer Symptome an ihn gewandt hatten. Er betrachtete die Hysterie als Ausdruck...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2023 |
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Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Michael Ermann, Dorothea Huber |
Zusatzinfo | 6 Abb., 1 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Psychoanalyse / Tiefenpsychologie |
Schlagworte | Gender • Psychoanalyse nach Freud • psychoanalytische Bewegung • Psychoanalytische Praxis • Sexualität • Sexuelle Orientierung |
ISBN-10 | 3-17-043080-7 / 3170430807 |
ISBN-13 | 978-3-17-043080-8 / 9783170430808 |
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