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Narzissmus -  Michael Ermann

Narzissmus (eBook)

Fachbuch-Bestseller
Vom Mythos zur Psychoanalyse des Selbst
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
136 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043077-8 (ISBN)
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Mit der 'Einführung des Narzißmus' leitete Sigmund Freud um 1910 die erste große Wende in der Entwicklung der Psychoanalyse ein. Damals galt Narzissmus als nicht behandelbar. Inzwischen hat die Auffassung sich grundlegend verändert, und die Behandlung narzisstischer Störungen macht einen bedeutenden Teil der Psychotherapie in der Praxis aus. In diesem Buch werden die Marksteine der Konzeptgeschichte des Narzissmus von Freuds Libidotheorie und der Ichpsychologie über die Objektbeziehungstheorie und die Selbstpsychologie hin zum intersubjektiven Ansatz dargestellt. Konsequenzen für die Behandlung werden erläutert und alltägliche narzisstische Phänomene reflektiert. Für die Neuauflage wurde der gesamte Text überarbeitet und dem aktuellen Stand unseres Wissens angepasst.

Prof. Dr. med. Michael Ermann ist emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und nunmehr vor allem als Autor und Ausbildungspsychoanalytiker in Berlin tätig.

Prof. Dr. med. Michael Ermann ist emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und nunmehr vor allem als Autor und Ausbildungspsychoanalytiker in Berlin tätig.

1. Vorlesung
Narzissmus als Thema unserer Kultur


Einleitung: Was ist Narzissmus?


»Was ist Narzissmus?« Ich habe einmal in der Psychosomatik-Vorlesung meine Studenten gefragt, was ihnen zu »Narzissmus« einfällt. Die Antworten waren ziemlich einhellig: Narzissmus sei krankhafte Selbstliebe, rücksichtsloser Egoismus, Selbstdarstellung und Geltungssucht, Selbstbezogenheit und Selbstsucht. Das hat meine Erwartung bestätigt, dass Narzissmus im Allgemeinen negativ bewertet wird.

Auch in der Psychotherapie hat Narzissmus zumeist eine negative Konnotation und wird im Zusammenhang mit Fehlentwicklungen gesehen. Das mag daran liegen, dass wir als Psychotherapeuten vor allem mit dem Narzissmus zu tun haben, wenn er Leid hervorruft und Krankheit erzeugt.

Dabei wird meistens nicht bedacht, dass Narzissmus im Sinne von Selbstliebe und Selbstwert auch eine ganz normale Seite der menschlichen Psyche ist, nämlich ein Aspekt der Entwicklung und eine Grundlage des Erlebens und Verhaltens. Wenn er »gezähmt« wird und die bizarren Extreme des narzisstischen Erlebens und Verhaltens gemäßigt werden, trägt er unser Selbstwertgefühl. Er wird dann zu einer Quelle der Kreativität und bereichert unsere Beziehungen und die Kultur. Um beziehungsfähig zu sein, brauchen wir ein gesundes narzisstisches Gleichgewicht. Macht und Einfluss, Erfolg und Geltung beruhen oftmals auf einer positiven narzisstischen Grundhaltung. Wer in unserer Gesellschaft vorankommen will, braucht ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein, er braucht einen gesunden Narzissmus.

Narzissmus ist die Art und Weise des Selbstbezugs. Er wird in den frühen Beziehungen geformt. Das Grundmuster wird in der kindlichen Entwicklung angelegt und das ganze Leben lang als Ergebnis von Erfahrungen mit sich selbst und anderen neu gestaltet. Er bildet die Grundlage für völlig verschiedene alltägliche und klinische Phänomene (▸ Kasten 1.1). Als normaler Narzissmus ist er ein bedeutsames Merkmal unserer Individualität, eine Dimension unserer Beziehung zu anderen, ein Motivator unseres Schaffens und unserer Lebenskraft. Als pathologischer Narzissmus bildet er die Grundlage für vielfältige Formen psychischer Störungen.

Kasten 1.1: Alltägliche und klinische narzisstische Phänomene

  • ·

    Narzisstische Eigenschaften: Selbstbezogenheit, Selbstdarstellung, Selbstverliebtheit

  • ·

    Persönlichkeitsstrukturen: Narzisstische Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung

  • ·

    Beziehungsformen: Narzisstische Objektbeziehung, narzisstische Objektwahl, narzisstische Kollusion

  • ·

    Psychische Störungen: Narzisstische Neurosen, narzisstische Persönlichkeitsstörungen

  • ·

    Entwicklungspsychologische Positionen: Narzisstisches Grundkonflikt, phallisch-narzisstische Phase

  • ·

    Ätiologische Konzepte: Narzisstische Entwicklung, Störung der Selbst-Entwicklung

  • ·

    Psychodynamische Prozesse: Libidobesetzung des Ich, Rückzug der Libido auf das Ich/das Selbst

  • ·

    Soziokulturelle Entwicklungen: Narzisstischer Sozialisationstyp, Zeitalter des Narzissmus

Man kann den Narzissmus auch als Persönlichkeitsakzentuierung beschreiben, die durch ein geringes Selbstwertgefühl bei gleichzeitiger Selbstüberschätzung ausgezeichnet ist. Sie umfasst verschiedene Grade der Selbstbezogenheit als Gegenstück zur Fremdbezogenheit, der Objektliebe. Dabei schließen Selbstliebe und Objektliebe sich nicht aus. Jeder Mensch hat beide Anteile in sich.

Gesunder (»positiver«) Narzissmus bewegt sich im Zwischenbereich zwischen beiden Polen; das Gewicht des einen gegenüber dem anderen Pol wird in Beziehungen zwischen den Beteiligten unbewusst ausgehandelt. Es kann sich, je nach Situation und Kontext, auch verschieben.

Pathologischer Narzissmus ist die Folge einer Fehlentwicklung, die auf das Selbst bezogen ist. In Kurzform kann man auch sagen: Pathologischer Narzissmus ist eine Störung im Selbst. Dabei handelt es sich um Formen der Selbstbezogenheit, bei denen starre narzisstische Haltungen vorherrschen und rigide narzisstische Verarbeitungsmuster die inneren Prozesse beherrschen. Wenn jemand völlig auf sich selbst bezogen ist, sodass er für andere nur dann Interesse hat, wenn er seinem Selbst dient, kann man von einer krankhaften Selbstliebe sprechen. Diese Einstellung ist der Kern des pathologischen Narzissmus. Er ist ein Krankheitsrisiko und kann verschiedene Formen klinischer Syndrome hervorbringen, oder er kann sich zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung weiterentwickeln (▸ 4. Vorlesung).

Beim pathologischen Narzissmus handelt es sich, grob betrachtet, um zwei Gruppen von Patienten:

  • ·

    Patienten mit sog. narzisstischen Neurosen, d. h. mit psychischen und körperlichen Symptomen, denen eine narzisstische Persönlichkeitsentwicklung und Psychodynamik zugrunde liegen. Dazu gehören viele depressive, Angst- und somatoforme Störungen;

  • ·

    Patienten mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen in verschiedener Schwere und Ausprägung; häufig steht bei ihnen die Charakterpathologie mit Selbstwert- und Beziehungsproblemen, Lern- und Arbeitsstörungen im Vordergrund, oft kommen auch Verhaltensstörungen wie Essstörungen und Suchtverhalten hinzu.

Narzisstische Störungen haben heute einen großen Anteil an der Alltagsarbeit in der dynamischen, psychoanalytisch begründeten Psychotherapie. Damit hat sich das Arbeitsprofil der Therapeuten gegenüber den Anfängen der Psychotherapie grundsätzlich verändert. Denn Sigmund Freud, der sich auf der Grundlage der Triebpsychologie hauptsächlich mit »klassischen« Neurosen befasst hatte, hat narzisstische Patienten für unbehandelbar gehalten.1 Er konstatierte bei ihnen eine besondere Art der Bindung und Fixierung der Libido an die eigene Person. Sie bewirke, so dachte er, dass diese Patienten in der Selbstliebe verhaftet bleiben. Deshalb könnten sie keine Liebe aus ihrer Kindheit auf die gegenwärtige psychoanalytische Behandlung übertragen. Da er die Analyse der Übertragung damals aber als den Angelpunkt seiner Therapie betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass der Narzissmus mit den Mitteln der Psychoanalyse nicht zu behandeln sei. Diese Auffassung ist von ihm nie revidiert worden2 und wurde von der Generation seiner Schüler übernommen.

Inzwischen hat sich die Einstellung gegenüber dem Narzissmus grundlegend gewandelt. Dazu haben die Erfahrungen aus der Behandlung von Psychotikern ab 1940, vor allem in den USA, die Entwicklung der Ich- und Objektbeziehungspsychologie sowie die Ausweitung des Behandlungsspektrums Mitte des vorigen Jahrhunderts maßgeblich beigetragen. Die Selbstpsychologie und ihre innovative Narzissmustheorie in den Folgejahren prägen unser heutiges Verständnis. Wegweisend war dabei die Auffassung, dass das Selbst eine eigenständige, von der bis dahin gültigen analytischen Entwicklungstheorie nicht erfasste Entwicklung nimmt. Damit wurden ganz neue Perspektiven für die Behandlung narzisstischer Störungen entwickelt. Heinz Kohuts Heilung des Selbst3 ist dafür ein bedeutsamer Markstein (▸ 3. Vorlesung und ▸ 5. Vorlesung).

Die Anzahl der Patienten mit narzisstischen Störungen in der psychotherapeutischen Praxis und Klinik steigt seit Jahren an. Das differenzierte psychoanalytische Verständnis für die Entwicklung des Selbst und für narzisstische Beziehungen und Übertragungen machen die Arbeit mit diesen Patienten heute zur speziellen Domäne der analytischen Psychotherapie.

Der Mythos von Narziss


Im Zentrum dieser klinischen Vorlesung steht die narzisstische Psychopathologie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, ihre Ursachen, ihre Folgen und ihre Behandlung. Aber man kann das Thema nicht würdigen ohne die vielfältige Rezeptionsgeschichte des Mythos des Narziss zu betrachten, in welcher der Wandel der Einstellung zum Narzissmus Niederschlag gefunden hat. Diese werde ich in groben Zügen nachzeichnen. Das Ergebnis wird sein, dass es sich beim Narzissmus nicht um ein spezielles Thema der Psychologie oder gar der Psychoanalyse handelt, sondern um ein Thema der Menschheit. In ihm sind Fragen und Probleme aufgehoben, die um die Existenz des Menschen, die Beziehung zwischen dem Selbst und anderen kreisen und von Selbsterkenntnis und Identität handeln, Themen, die jeden betreffen und die die Menschheit von jeher beschäftigt haben. Wir werden sehen, dass der Mythos des Narziss eine variantenreiche Tradition in unserer Kultur durchlaufen hatte, bevor er als Metapher für eine spezifische Psychopathologie in die psychoanalytische Theorie und therapeutische Praxis Eingang fand.

Der Mythos von Narziss gehört zum alten Kulturgut der griechisch-römischen Welt. Der Name...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Michael Ermann, Dorothea Huber
Zusatzinfo 8 Abb., 3 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
Schlagworte Narzisstische Störung • Persönlichkeit • Psychoanalytische Behandlung • Psychoanalytisches Verstehen
ISBN-10 3-17-043077-7 / 3170430777
ISBN-13 978-3-17-043077-8 / 9783170430778
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