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»Der Butt« (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
406 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-131573-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Der Butt« - Werner Frizen
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Mit Heißhunger wurde Der Butt nach seinem Erscheinen von den Lesern verschlungen, die der Schmalkost der Siebzigerjahre-Literatur überdrüssig waren - so Günter Grass selbst über den 'geradezu überdimensionalen Erfolg' seines epischen Brockens.

Aus dem Abstand von annähernd einem halben Jahrhundert möchte dieser Kommentar wieder Appetit machen auf den Roman und dazu die erforderlichen Zutaten bereitstellen: eingehende Erläuterungen zu den Figuren, zu politischen Hintergründen der Siebziger Jahre, zu damals wie heute bewegenden Gender-Fragen, zu historischen, kulturhistorischen und geschichtsphilosophischen Zusammenhängen, die in den menschheitsgeschichtlichen Episoden des Romans vom Neolithikum bis zum Danziger Werftstreik von 1970 Gestalt gewinnen und ein vielfach verflochtenes Themen- und Motivgewebe erzeugen.

Für alle, die wissen wollen, wie man 'a damn good novel' schreibt, dürfte von nicht geringerem Interesse sein, dass der Kommentar in der Entstehungsgeschichte bis zu den Anfängen zurückgeht und zeigt, mit welchen Strategien Grass eine veritable Schreibblockade überwand, wie er Methoden der Ideenfindung entwickelte und aberhundert Einzelinspirationen speicherte, bis endlich der Butt in die Reuse ging - ein glücklicher Fischzug, der den kreativen flow freisetzte.



Werner Frizen, Köln

Einführung


Das erzählende Kochbuch


Wen wundert es, dass Der Butt an Frankreichs Küste in die Reuse ging? Im Juli/August 1969 erholte sich Günter Grass von Vorwahlkampfstrapazen mit seiner Familie an den Côtes d’Armor und lebte im Land der Gourmandise so, wie es sich gehört, nämlich wie der liebe Gott. Goldbrassen und Petrusfische, Rochen, Abalone und Seespinnen standen auf dem Schlemmerplan. Mal wurden Makrelen auf den Grillrost gelegt, mal Stinte geröstet, mal köchelten Venusmuscheln im Weißweinsud. Inmitten solcher Sinnenfreuden ist sie plötzlich da, die Idee: „Bevor ich mal alt bin und womöglich weise werde, will ich ein erzählendes Kochbuch schreiben: über 99 Gerichte, über Gäste und Menschen als Tiere, die kochen können, über den Vorgang Essen, über Abfälle …“ (Aus dem Tagebuch einer Schnecke, 8, S. 183).1 Im sprichwörtlichen Feinschmeckerparadies entwickelt sich die Ur-Inspiration zum Roman gewissermaßen beim Topfgucken von selbst.

Einmal auf den Appetit gebracht will der Koch-Künstler das Alt- und Weisewerden gar nicht erst abwarten und macht sich gleich nach der Vollendung des Schneckentagebuchs an die Genuss verheißende Arbeit. „Kochbuch – am 6.6.72 begonnen“ (GGA 344) steht in übergroßer Schrift auf der Sammelmappe mit den ersten Einfällen zum neuen Roman. Sie hält ein paar Notizen zur Herkunft der Kartoffel und zur Geschichte der Ernährung sowie erste – fünfzig – Rezeptideen fest. Das Spektrum der Kochvorschläge reicht von der Hausmannskost („Leber mit Zwiebeln und Äpfeln“) über das gehobene Wildgeflügelgericht („Fasan mit Trauben und Weinkraut“) bis zu den bekannten Grass’schen Ekelmahlzeiten: „Kutteln mit Tomaten, Kümmel, Knoblauch“, „Hirn mit Ei und Kräutern als Omelette“. Die schriftstellerische Vorratswirtschaft scheint sich aber noch auf ein bloßes Rezeptbuch zu beschränken; Ansätze für eine sinnstiftende Erzählidee fehlen vorerst.

Die Durststrecke, die Grass von diesen ersten rasch hingeworfenen Notaten bis zum Beginn des Manuskripts durchmessen musste, betrug dann nicht weniger als 18 Monate, eine Durststrecke, während derer er sich aus einer veritablen Lebens- und Schaffenskrise herausarbeitete und zu neuer Produktivität fand. Nach dem Abschluss der später so genannten Danziger Trilogie war das Themenreservoir aus Nazi- und Kriegszeit erschöpft, das Grass als Zeitgenosse und Augenzeuge zu „anhaltende[r] Schreibwut“ (22, S. 445) angetrieben hatte. Besonders bleiern scheint auf ihm die Zeit nach dem parteipolitischen Engagement und dem Tagebuch einer Schnecke gelastet zu haben, das nicht von ungefähr vom Grau der Melancholie eingefärbt war. Um zu einem erneuten großen Wurf ausholen zu können, musste er sich dem Problem stellen, wie er einen neuen Stoff, der nicht aus der lebensgeschichtlichen Erfahrung stammt, aus der produktiven Einbildungskraft, gewissermaßen e nihilo, herausbilden könne.

Eher orientierungslos behalf der Unschlüssige sich zunächst einmal mit einer Art Brainstorming, um das noch reichlich formale Programm von 1969 mit Inhalt anzureichern. Methoden der Kreativitätssteigerung wie die aus Erkenntnissen der kognitiven Psychologie entwickelten Findestrategien des Mindmappings oder des Clusterings waren ihm unbekannt, doch praktizierte er Formen der Ideen- und Textgenerierung nach seiner Façon. Der Ideensammler verwendete eine in der Schreibvorbereitungsphase bei ihm immer wieder anzutreffende Technik litaneienartiger Reihungen, die sich – wie im Cluster – um einen Kernbegriff gruppieren, diesen ausfalten, umspielen, nach seinen Aspekten forschen, mit ihm verbundene Zusammenhänge entdecken:

1)  Die Köchin in mir singt beim Kochen.

2)  Die Köchin in mir läßt einen großen Furz wehen (fahren).

3)  Die Köchin in mir kocht für die versammelten Säuerlinge.

4)  Die Köchin in mir spricht über die Emanzipation der Frauen. […]

10) Die Köchin in mir geht mit mir auf dem Bahnhof Sülzkotelett essen.

11) Die Köchin in mir verabschiedet die Gäste.

(GGA 2084)

1) Wenn sie sich verfinstert und auf eine Fliege guckt … […]

3) Wenn sie sich nicht erinnert, z. B. an die Hussitenzeit …

4) Wenn sie in Saubohnen und Speck das Absolute sucht …

5) Wenn sie auf ihre „Große Zeit“ bei den Ordensherren zu sprechen kommt … […]

(GGA 2086_004_01)

Formationen und Szenarios dieser Art halten die Gedankenbewegung in Fluss, greifen ältere Ideen auf und ergänzen sie mit neuem Material, während die Zensur noch weitgehend ausgeschaltet bleibt, die das vermeintliche Chaos vorzeitig ordnen und organisieren würde.

Im November und Dezember 1972 hat sich aus dem ‚Brainstorming‘ der Ansatz eines (später allerdings wieder verworfenen) Erzähl-Konzeptes entwickelt: die Geburt und die Geschichte der „Köchin in mir“. Weiterhin kreist alles um eine einzige Köchin als Mittelpunktsfigur, die, das stellt die erzähltechnische Besonderheit des Plans dar, wesenseins ist mit dem Erzähler-Ego. Diese eine Köchin schafft dem Ganzen einen Erzählrahmen: Sie soll als Kopfgeburt zu Beginn des Erzählprozesses im Autor-Erzähler geboren werden und in der Folge „in mir“, in der Erzählergestalt, ihre berufsspezifischen Tätigkeiten entfalten. Ein blasphemischer Schelm, wer dabei an die christliche Lehre von den innertrinitarischen Prozessionen denkt, die die ewige Zeugung und Geburt des Gottessohnes (und des Geistes) aus dem Vater bekundet, während der Vater selbst der ursprungslose Ursprung der beiden anderen göttlichen Personen ist. Im Aufriss des Gesamtromans vom 12. Dezember 1972 agiert und spricht die Köchin als eine solche Hypostase ihres Schöpfers (Abbildung 1):

Berlin am 12.12.1972

Kochbuch (Plan zwei)

Die Geburt der Köchin in mir

Essen mit Gästen I

Essay über den Stuhlgang

Die Köchin in mir kocht für den Herrn de Montaigne

Essay über die Qualität des Lebens

Essen mit Gästen II (die versammelten Säuerlinge)

Die Köchin in mir läßt einen grossen Furz wehen

Die Köchin in mir singt beim Kochen

Die Köchin in mir schneidet Zwiebeln.

Essen mit Gästen II (historische Gesellschaft)

Tischreden

Die Köchin im mir hält Fastenpredigten

Essay über Magenkrankheiten

Vergessene Rezepte

Die Köchin in mir studiert bei dem Herrn Epikur.

Essen mit Gästen IV (geliebte Frauen)

Die Köchin in mir spricht über die Emanzipation der Frauen

Essay über die Liebe die durch den Magen geht.

Die Köchin in mir geht mit mir auf dem Bahnhof ein Sülzkotelett essen.

Essen mit Gästen V (zufällige von der Strasse)

Die Köchin in mir spricht, während das Rindfleisch zieht, zu aller Welt.

Die Köchin in mir läßt die Erbsen anbrennen.

Essay über die Askese

Die Köchin in mir rührt und rührt.

Essen mit Gästen VI (ungerufenen)

Die Köchin in mir zwingt die Kinder, Spinat zu essen.

Essay über die Brüste der Köchin in mir

Essen mit Gästen VII (die toten Freunde)

Meine Rezepte

Die Köchin in mir verabschiedet die Gäste

Dazwischen: 1.) 50 Gedichte

     2.) 50 Zeichnungen

Abbildung 1: Kochbuch („Plan zwei“) vom 12. Dezember 1972.

Man sieht: Aus lauter Küchenideen wie im „Kochbuch“ vom 6. Juni 1972 haben sich nun narrative Strukturen entwickelt, während „Meine Rezepte“ an den Rand geraten, so dass die Überschrift „Kochbuch“ nicht mehr wörtlich zu verstehen sein dürfte. Der Katalog von „Plan zwei“ entfaltet nach allen Regeln der (Koch-)Kunst thematisch und motivisch eine Serie von Gastereien („Essen mit Gästen I – VII“), die den Rahmen bilden für Köchinnen-Geschichten und zwischengeschaltete Essays des Erzählers. Auf diese Weise ist die Mischung der Stilniveaus schon Teil des Plans: Die typisch Grass’schen Grobianismen und Tabuverletzungen (Darmwinde ebenso wie Darmausscheidungen) versprechen Karnevalistisches und verweisen auf das Vorbild Rabelais; andererseits bekäme es die Köchin mit exemplarischen Figuren der Denkgeschichte zu tun, mit Epikur ebenso wie mit Montaigne, und die Diskurse hätten die Möglichkeit geboten, die Gastmähler in antikisch-humanistischem Sinne mit philosophisch-weltanschaulichem Gehalt zu garnieren. Exemplarisch sind Epikur und Montaigne vor allem deshalb, weil der eine Genuss und Lebensfreude zum Lebensziel erklärt und der andere,...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2023
Zusatzinfo 13 b/w ill., 2 b/w tbl.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Danzig • Einführung • Geschlechterrollen • Günter Grass • Werkkommentar
ISBN-10 3-11-131573-8 / 3111315738
ISBN-13 978-3-11-131573-7 / 9783111315737
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