Historische Biographik und kritische Prosopographie als Instrumente in den Geschichtswissenschaften (eBook)
189 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-113780-3 (ISBN)
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge dokumentieren den Ertrag des Workshops 'Historische Biographik und kritische Prosopographie als Instrumente in den Geschichtswissenschaften', der 2021 an der TU Bergakademie Freiberg durchgeführt wurde. Die Autorinnen und Autoren loten die komplexen Problemlagen der historischen Biographik und der prosopographischen Forschung im Zeitalter der Digital Humanities aus. Das Themenspektrum reicht dabei von der individual-biographischen Forschung und Oral History über Erfahrungsberichte prosopographischer (Groß-)Vorhaben bis hin zu den Herausforderungen bei der Entwicklung und Nutzung multifunktionaler Prosopographiedatenbanken und ihrer Verfügbarmachung im Internet.
H. Albrecht, TU Bergakademie Freiberg; M. Farrenkopf & T. Meyer, Deutsches Bergbau-Museum Bochum; H. Maier, Bergische Univ. Wuppertal.
Einleitung
Zu Thema und Anlass des Workshops
Noch in den 1990er-Jahren genossen biographische Studien einen zweifelhaften Ruf, bedienten sie doch häufig das Klischee des ‚genialen Erfinders und Entdeckers‘. Die Vernachlässigung der in den Geschichtswissenschaften methodisch zwingend gebotenen Kontextualisierung brachte die Biographik unter Historiker:innen in Misskredit. Und schlicht auf die „Rekonstruktion“ von Lebensgeschichten reduzierte dichte Darstellungen ohne forschungsseitig rückgebundene Fragestellungen mündeten – typischerweise in der Wissenschafts- und Technikgeschichte – in ‚Heroengeschichten‘.1 Der Aufsatz von Pierre Bourdieu unter dem Titel „Die biographische Illusion“ von 1985 kam der Vernichtung des Genres gleich – unterstellte er doch eine Komplizenschaft des Biographen mit dem Biographierten durch seine Neigung, die künstlichen Sinnstiftungen der Biographierten unreflektiert zu übernehmen.2 Und noch 2001 kursierte in den Literaturwissenschaften der Satz: „Die Biographie ist akademischer Selbstmord“ (Deidre Bair).3
Trotz dieser Kritik trat die Biographik in den 1990er-Jahren als Impulsgeberin historiographischer Publizistik prominent in Erscheinung, speziell in den Bereichen der NS-Forschung (Ulrich Herbert)4 oder der Wissenschaftsgeschichte (Margit Szöllösi-Janze).5 Und in einem ganz forschungspraktischen Sinn verharrte die Nachfrage nach biographischen Basisdaten von historischen Akteuren auf einem hohen Niveau. Denn erst deren Kenntnis ermöglicht die historische Einordnung von Persönlichkeiten, weshalb prosopographische Enzyklopädien und Lexika für die Forschung unverzichtbar sind.6 Tatsächlich hat die historische Biographik einen derart starken Aufschwung genommen, dass inzwischen vom biographical turn die Rede ist.7 Und wie Thomas Etzemüller schon 2012 betonte, mache es heute „keinen Sinn mehr, von der Biographie zu sprechen“, vielmehr handele es sich um ein „überraschend komplexes Genre“.8
Maßgebliche Wurzeln des biographical turn lassen sich in der „Geschichte von unten“ ab den 1970er-Jahren verorten, aus der u. a. die heute etablierte Oral History hervorging. Sie zielte auf die Erforschung sozialer Gruppen ohne ‚eigene Stimme‘ in den Akten („Unterschichten, Frauen, Minoritäten“) mit Hilfe von Zeitzeugen-Befragungen bzw. lebensgeschichtlichen Interviews.9 Die Forschung zu individuellen Erinnerungsprozessen bezüglich des Holocaust – am prominentesten „Opa war kein Nazi“ (Harald Welzer u. a.)10 – hat jedoch gezeigt, dass das autobiographische Gedächtnis letztlich durch das Generationengedächtnis, Gegenwartsdeutungen und nationale Narrative überformt wird („Weitererzählforschung“).11 Zusätzlichen Schub erfuhr die historische Biographik ab den 1980er-Jahren, als eine kritische Geschichtswissenschaft ansetzte, mit Hilfe kollektivbiographischer Untersuchungen das menschliche Element in der sozio-ökonomischen Strukturgeschichte zu verankern. Kollektivbiographische Studien bildeten in der Wissenschaftsgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre nicht nur ein Projekt feministischer Biographik, sondern dienten auch „als Methode, die Alltags- und Mentalitätsgeschichte der Arbeiterklasse sichtbar zu machen“.12
Ende der 1990er-Jahre fand die Kollektivbiographie endgültig Eingang auch in die Technikgeschichte, wie das Themenheft der „BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History“ zeigt.13 Hier ging es darum, die „biographische Normalgestalt“ von Angehörigen sozialer Gruppen, ihre zeitgenössische Prägung, ihre Handlungsspielräume und die „Einfädelung des Individuums in die Gesellschaft“ zu ergründen (Helmuth Trischler).14 Umfangreichere prosopographische Lexika zur Technikgeschichte bzw. den technowissenschaftlichen Disziplinen, die sich nicht auf die herausragenden Persönlichkeiten beschränken, sind gleichwohl häufig älteren Datums und daher nicht mehr auf dem aktuellen methodischen Stand.15 Personenlexika zu bestimmten technischen Professionen auch jüngeren Datums, die im Verbund mit den technisch-wissenschaftlichen Vereinen und Gesellschaften herausgegeben werden, rücken die fachspezifischen Errungenschaften der Biographierten in den Vordergrund.16 Demgegenüber stammen ausführliche biographische Darstellungen über Ingenieure, die dem oben formulierten Anspruch Rechnung tragen, in der Regel aus der Feder von Technik-, Wissenschafts-, Sozial- und Wirtschaftshistoriker:innen (Wolfhard Weber).17
In der Kollektivbiographik werden mit der Gruppenbiographik und der Prosopographie zwei Formen unterschieden. Will einerseits die Gruppenbiographik die „Unterschiede zwischen den individuellen Lebensläufen“ der der Gruppe zugehörigen Individuen herausarbeiten, fasst andererseits die Prosopographie eine größere Zahl von Individuen unter bestimmten „biographischen Faktoren“ zusammen. Im Zuge der Digitalisierung der Geisteswissenschaften erfuhr die Prosopographie einen enormen Aufschwung (Digital Humanities). Denn die Möglichkeiten, weiterführende Fragestellungen mit Hilfe relationaler Datenbanken zu beantworten, eröffneten gegenüber klassischen Prosopographien (Nationalbiographien, Exil- und Emigrationsforschung) unerwartete Erkenntnisgewinne. So ermöglicht die statistisch-empirische Methodik die „systematische quantitative Sammlung und Auswertung ausgewählter Lebensdaten […] möglichst umfassende[r] Einheiten.“18
Historische Biographik und Prosopographie reichen in ihrer Bedeutung weit über die zahlreichen Felder historischer Forschung, für die sie zu den elementaren Methoden zählen, hinaus. So kam den Nationalbiographien im Kontext der Bildung der Nationalstaaten bereits im 19. Jahrhundert eine zugleich identitätsstiftende Funktion zu.19 Vor dem Hintergrund der europäischen Integration tritt dieser explizit politische Impetus ganz aktuell und in gewandelter Form erneut in Erscheinung. Fragen nach einer europäischen Identität, die Repräsentation europäischer Werte und politischer Vorstellungen („Europäistik“) können wiederum nur unter dem Rubrum einer „europäischen Biographik“ beantwortet werden. Nach den Worten von Michael Gehler besitzen dabei die „am weitest gediehenen biographischen Lexika in Europa […] die besten Ausgangspositionen für eine Pionierfunktion in Bezug auf die Begründung und Entwicklung einer europäischen Biographik.“ Dabei ist bezeichnend, dass das digitale Biographie-Portal,20 an dem u. a. die Neue Deutsche Biographie (NDB), das Österreichische Biographische Lexikon (ÖBL) und das Historische Lexikon der Schweiz beteiligt sind, als „Ausgangspunkt für ein allumfassendes Einigungsprojekt“ gilt. Von grundlegender Bedeutung ist, dass es dabei auch und nicht zuletzt um „ein Forum bzw. eine Plattform zur Normierung und Standardisierung von akkumulierten Datensätzen unterschiedlichster Berufsgruppen“ geht.21
Dementsprechend sah sich auch das Teilprojekt „Biographik/Biographisches Lexikon“ des Verbundvorhabens „Umweltpolitik, Bergbau und Rekultivierung im deutsch-deutschen Vergleich. Das Lausitzer Braunkohlenrevier, die Wismut und das Ruhrgebiet (1949–1989/2000)“22 mit den verschiedensten methodischen Herausforderungen konfrontiert. Das biographische Teilprojekt macht sich zur Aufgabe, die in Umweltpolitik und Rekultivierungspraxis relevanten Akteur:innen in den drei untersuchten Bergbaurevieren prospographisch zu erfassen. Dabei sollen biographische Brüche und Kontinuitäten mit den strukturellen Veränderungen der Makroebene in Verbindung gesetzt werden. Die Erforschung der Akteursperspektive bildet eine zentrale Voraussetzung für die Rekonstruktion des Wissens- und Know-how-Transfers. Um die Transferprozesse auch im deutsch-deutschen Systemvergleich sichtbar zu machen, ist das Teilvorhaben als Querschnittsprojekt des Forschungsverbunds konzipiert.23 Mit dem Ziel, die aktuellen Entwicklungen zu reflektieren, initiierte das Teilprojekt den Workshop „Historische Biographik und kritische Prosopographie als Instrumente in den Geschichtswissenschaften“.24
Im Anschluss an die oben skizzierte methodische Debatte konnte das Verbundvorhaben bereits vor dem Workshop im November 2021 erste Ergebnisse des Teilprojekts präsentieren. Die seinerzeit von Simon Große-Wilde betreute biographische Datenbank legt ihren „Fokus auf die Beziehungen der Personen zu Körperschaften und Institutionen“. Dadurch wurde es möglich, „Verflechtungen zwischen den einzelnen Personen und Institutionen untereinander“ systematisch zu rekonstruieren. So konnte am Beispiel der „Zentralstelle für die Forschung zur...
Erscheint lt. Verlag | 7.8.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums | Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum |
Zusatzinfo | 22 col. ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte |
Schlagworte | Environmental Policy • Landscape Design • Post-mining landscape • Post-war history |
ISBN-10 | 3-11-113780-5 / 3111137805 |
ISBN-13 | 978-3-11-113780-3 / 9783111137803 |
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Größe: 3,7 MB
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