Gottes Umzug ins Ich (eBook)
296 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-567-2 (ISBN)
Malte Nelles, Jahrgang 1982, ist Diplom-Politologe (FU Berlin), Lehrtherapeut (DGfS) und Heilpraktiker für Psychotherapie mit Ausbildungen in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, Aufstellungsarbeit und Paartherapie. Er ist Geschäftsführer des Nelles-Instituts für phänomenologische Psychologie, das er gemeinsam mit seinem Vater Wilfried Nelles leitet. Seit 2009 arbeitet er in eigener psychotherapeutischer Praxis in Berlin und leitet europaweit und bis zur Coronakrise auch in China Ausbildungen und Aufstellungskurse. Sein Weg zur Psychotherapie verlief über eigene existenzielle Lebensfragen in die eigene Lehrpraxis. Für das vorliegende Buch ist neben seiner psychotherapeutischen Arbeit seine akademische Herkunft als Sozialwissenschaftler wesentlich; sie hat ihn geprägt, den Einzelnen als Resultat größerer sozialer, kultureller und historischer Zusammenhänge zu betrachten. Malte Nelles lebt mit seiner Familie (zwei Kinder) in Berlin.
Malte Nelles, Jahrgang 1982, ist Diplom-Politologe (FU Berlin), Lehrtherapeut (DGfS) und Heilpraktiker für Psychotherapie mit Ausbildungen in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, Aufstellungsarbeit und Paartherapie. Er ist Geschäftsführer des Nelles-Instituts für phänomenologische Psychologie, das er gemeinsam mit seinem Vater Wilfried Nelles leitet. Seit 2009 arbeitet er in eigener psychotherapeutischer Praxis in Berlin und leitet europaweit und bis zur Coronakrise auch in China Ausbildungen und Aufstellungskurse. Sein Weg zur Psychotherapie verlief über eigene existenzielle Lebensfragen in die eigene Lehrpraxis. Für das vorliegende Buch ist neben seiner psychotherapeutischen Arbeit seine akademische Herkunft als Sozialwissenschaftler wesentlich; sie hat ihn geprägt, den Einzelnen als Resultat größerer sozialer, kultureller und historischer Zusammenhänge zu betrachten. Malte Nelles lebt mit seiner Familie (zwei Kinder) in Berlin.
Einleitung:
Wo Gott war, werde Ich
»Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung […] aller Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling […] eintreten muß. All diesen Besitz darf er als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden.«1
Sigmund Freud
»Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein.«
Inschrift auf Carl Gustav Jungs Grabstein
Der Tod Gottes
Wer bestimmt, was in meinem Leben passiert? Noch vor hundert Jahren hätten viele Menschen intuitiv »Gott« geantwortet. Heute lautet die Antwort: »Ich«. Der einstmals Allmächtige in Bezug auf die großen Fragen meines Lebens bin nun ich.
Die Geschichte des modernen Menschen ist die des großen Gewinns der Freiheit: Freiheit von den Fesseln der Bevormundung durch Herrschende, Kirche und Tradition. Dem modernen Zeitalter liegt das mythische Versprechen zugrunde, dass das persönliche Leben nicht davon entschieden wird, wo und von wem wir geboren werden, sondern dass wir uns von unserer Herkunft lösen können und die Chance haben, zu jenem einzigartigen Wesen zu werden, das wir sind. Als moderne Menschen entscheiden wir selbst, wohin der Weg gehen soll.
Diesen Gewinn an Freiheit bezahlen wir mit einem Verlust: Im sicheren Bett der Tradition, die uns sagte, was richtig ist und wer wir sind, können wir nicht mehr ruhen. Die Wiederholung dessen, was gestern stimmte, ist in einer Welt, deren erste Charaktereigenschaft in ihrer fortwährenden Veränderung liegt, keine Option. Im Weltlichen haben wir unsere traditionelle Heimat unwiderruflich verlassen. Im Spirituellen haben wir Gott verloren. Der Vater, der einst schützend seine Hand über unser Leben hielt, von dem wir kamen und zu dem wir zurückkehrten, ist nicht mehr da. Übrig sind wir.
»Gott ist tot«, erkannte Friedrich Nietzsche prophetisch zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Nietzsches zur damaligen Zeit noch ungeheuerlicher Satz ist für viele moderne Menschen zur Wahrheit geworden. Wir glauben heute nicht mehr an Gott und das, was in der Heiligen Schrift über ihn berichtet wird, sondern an die Befunde der Wissenschaft. Statt auf Gottes Willen zu vertrauen, sind wir aufgerufen, die Angelegenheiten in unserem Leben selbst in die Hand zu nehmen: persönlich in unserem Leben oder gemeinsam als Kollektiv bei Fragen wie der Klimakrise oder dem Umgang mit dem Coronavirus.
Die humanistische Religion und das neue Paradies
Den Preis des Gottestodes hat der Mensch gezahlt, da die Moderne ein neues Heilsversprechen gab. Sie hat den christlichen Mythos von der Erlösung von allem Leid durch das ewige Leben nach dem Tod ersetzt durch die Vision, das Paradies bereits zu Lebzeiten zu verwirklichen. Warum lebenslang warten und glauben, wenn wir eigenmächtig handeln können? Die Erlösung von Schmerz, Krankheit, einem schicksalhaften frühen Tod und willkürliche Bevormundung: Die Moderne gibt sich als die Religion, die dem Menschen das Wohl im Diesseits verspricht. Es war und ist dieser Glaube, gepaart mit der Erfahrung von den tatsächlich schier unglaublichen Wundern der modernen Wissenschaft, der die kirchliche Autorität ablöste durch den Glauben an den Menschen. Dass Gott auf diese Weise in der Moderne Mensch wurde, ist eine geschichtliche Entwicklung, in der sich ein tiefes Streben der christlichen Kultur offenbart. Dass die wissenschaftlich-humanistisch orientierte moderne Welt auf dem Fundament jener Kultur entstand, die man das christliche Abendland nannte, findet seine religiöse Entsprechung im Mythos von der Menschwerdung Gottes in Jesus.
Nicht weniges der modernen Prophezeiung ist bereits wahr geworden: Wir leben heute in einem Paradies, das sich Menschen in anderen Zeiten nicht hätten erträumen können. Nie war die Lebenserwartung höher, nie die Kindersterblichkeit niedriger; in Bezug auf die Ernährung leiden wir viel stärker unter den Problemen eines Zuviel statt an jenen des altbekannten Zuwenig. Dies gilt im 21. Jahrhundert nicht mehr nur exklusiv im Westen, sondern auch bereits für eine beträchtliche Anzahl von Menschen in Asien und mit größeren Abstrichen auch in Südamerika und Afrika. Selbst den Ärmsten, die das allgemeine Bild in den größten Teilen der Welt weiterhin prägen, geht es physisch zumindest besser als in allen anderen Epochen der Menschheitsgeschichte. Obwohl die Realität moderner Lebensverhältnisse dort noch weit entfernt ist, verfangen der Glaube daran und die Sehnsucht danach auch im globalen »Süden«.
Die Verheißung des modernen Lebens endet nicht damit, menschliche Grundbedürfnisse nach wirtschaftlicher Sicherheit und besserem Schutz vor Krankheiten zu verwirklichen. Ging es in anderen Zeiten darum, ein gottgefälliges Leben zu führen, seine vorgegebene Rolle als Frau oder Mann mit dem eigenen Einsatz zu füllen, so dient das heutige Leben der Erfüllung der Freiheit, das zu werden, was wir werden möchten und werden können. Und haben wir dabei nicht unglaubliche Fortschritte gegenüber unseren Vorfahren erzielt? Ein Blick auf unsere Herrschenden zeigt den Wandel: Ein schwarzer Mann als amerikanischer Präsident? Eine Frau, die 16 Jahre Deutschland regiert? Homosexuelle Minister? Weibliche Regierungschefs mit kleinen Kindern? Das ist alles nicht nur möglich, sondern bereits Zeitgeschichte.
Sie alle sind die Propheten des modernen Mythos, der seinen Ursprung in Thomas Jeffersons Streben nach Glück (»Pursuit of Happiness«) findet. »Werde, wer du sein willst« und der »American Dream« sind die Heilsbotschaften, die große Teile der Welt bereits missioniert haben und die weiter um die Seelen der Menschen buhlen. Sie haben bereits zwei Weltkriege, den Kalten Krieg, Wirtschaftskrisen, Pandemien, den islamischen Terrorismus und so viel mehr an Rückschlägen überlebt. Mit dem Klimawandel und der industriellen Erdverschmutzung, die ein direktes Resultat des modernen Lebens sind, steht die nächste Herausforderung ins Haus, aber dass der westliche Individualismus und das kapitalistische Wirtschaftssystem hierdurch grundsätzlich enden werden, ist nicht abzusehen (auch wenn dies politisch selbstverständlich gefordert wird). Im Äußeren erweist sich die humanistische Religion (Yuval Harari) als robust. Wissenschaftlicher Fortschritt und der Eintritt für eine »liberale Weltordnung« (ergo eine Weltordnung, die unseren Werten und Standards entspricht) gelten weiterhin als Universalmedizin für unsere kollektiven Probleme.
Die kranke Seele des modernen Menschen
Doch der vordergründige Siegeszug der modernen Lebensweise wirft einen dunklen Schatten. Wir leben in der besten aller Welten, das persönliche Glück ist die religiöse Währung unserer Zeit, doch noch nie gab es mehr Menschen, die an ihrem Glück verzweifelten. Die Depression ist die neue Volkskrankheit der modernen Welt. Sie ist die Krankheit der inneren, subjektiven Unglückserfahrung des modernen Ichs in einer Welt und Zeit, die das Gegenteil verspricht. Und sie ist nur ein Ausdruck des Seelenleids des modernen Menschen, dessen pandemisches Aufkommen schon Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeugten. Das rastlose Grundgefühl des modernen Ichs offenbart sich in unseren Alltagsphänomenen: dem Tinnitus in den Ohren, wenn man kurz still wird; dem zwanghaften Griff nach dem Handy, auch wenn man es erst vor zwanzig Sekunden in der Hand hatte; dem Gefühl, dauerhaft zu suchen und nie zu finden, was wir ersehnen. Die humanistische Religion löst ihre Heilsversprechen für viele nicht ein. Statt Erlösung durch die neue Freiheit regiert der Stress, der neuronale Zustand des modernen Menschen schlechthin, die Seele. Anstelle äußerer Zwänge werden wir von einem inneren Druck durch ein Leben gehetzt, das uns stets vorauseilt und seine Regeln fortwährend ändert.
Im klinischen Bild ergeben die modernen Krankheiten des Inneren ein wildes Potpourri: psychosomatische Rückenleiden, Borderline-Störungen, sogenannte Aufmerksamkeitsstörungen, aufgrund derer Kleinkinder Substanzen verabreicht bekommen, die andere als Drogen nehmen, Süchte nach Zucker, Fett, Schlankheit, Fitnesstraining, Konsum oder Sex und mehr Selbstmorde als Verkehrstote in der vermeintlich besten aller Welten. Wo sich der Blick auf das einzelne Phänomen in den oftmals seltsamen, irrationalen Symptomen psychischer Erkrankungen zu verlieren droht, zeichnet die Schau des Ganzen ein unbestechliches Bild: Der moderne Mensch...
Erscheint lt. Verlag | 3.7.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Alain Ehrenberg • Carl Gustav Jung • Geisteslehre • Geschichte • Gott • Gottmensch • Hartmut Rosa • humanistische Religion • Karen Horney • Klinische Psychologie • Kultur • Neurose • Nietzsche • östliche Kultur • Peter Sloterdijk • Prophetie • psychischen Volkskrankheiten • Psychologie • psychologische Ich • Psychose • Psychotherapie • Realität • Religion • Seele • Sigmund Freud • spirituelle Leere • Tiefenpsychologie • Trauma • unbewussten • Wolfgang Giegerich • Yuval Harari |
ISBN-10 | 3-95890-567-6 / 3958905676 |
ISBN-13 | 978-3-95890-567-2 / 9783958905672 |
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