Michael Lentz' ›Schattenfroh‹ (eBook)
376 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-074442-2 (ISBN)
Ralf Simon und Emmanuel Heman, Universität Basel, Schweiz.
Vorwort
Michael Lentz’ großer Prosatext Schattenfroh. Ein Requiem aus dem Jahr 2018 ist ebenso faszinierend wie rätselhaft. Es liegt ein über tausendseitiger Text vor, der sich als radikales Experiment mit Sprache, Geschichte, Religion, Kunstgeschichte, Metaphysik und anderem mehr offenbart. Die Lektüre dieses opus magnum stellt die Leserschaft vor erhebliche Probleme. Schattenfroh durchkreuzt die konventionellen Erwartungen an literarische Prosa konsequent. Eine Handlung lässt sich nicht identifizieren. Lentz’ Text erzählt in diesem Sinne nicht, weshalb sich an dieser Stelle auch keine Zusammenfassung geben lässt. Schattenfroh funktioniert vielmehr über paradigmatische Clusterungen, die immer wieder in neuen Szenarien und Konstellationen durchgespielt werden.
Daneben erschwert Schattenfroh die Lektüre durch eine enorme inhaltliche sowie formale Komplexität. Nur schon das sich über mehrere Seiten erstreckende, ins Buch integrierte Literaturverzeichnis lässt vermuten, dass wir es hier mit einem Text zu tun haben, der in eine intensive Auseinandersetzung mit literaturtheoretischen, philosophischen und kunsthistorischen Theoremen tritt und sie im Stile einer bricolage in ein neues, literarisches Programm überführt.1 In formaler Hinsicht lässt sich beobachten, dass Schattenfroh permanent seine eigenen Verfahren reflektiert. Dies geschieht zunächst auf einer ganz basalen Ebene: Die primäre Aufgabe des Protagonisten besteht darin, ein Buch, nämlich Schattenfroh, zu schreiben. Der Text versucht, dies in Echtzeit abzubilden, sodass sich der textintern verhandelte Prozess des Schreibens mit dem textexternen Vorgang des Lesens verbindet: Wir lesen Schattenfroh als ein work in progress. Dieser Prozess verläuft allerdings nicht reibungslos, sondern wird über rekursive Schleifen, mehrfaches mise en abyme oder paradoxe Verschachtelungen der Erzählebenen für die Rezeption sichtbar gemacht. Nicht umsonst lautet der erste und der letzte Satz des Buches »Man nennt es schreiben«. Schattenfroh lässt sich vor diesem Hintergrund als eine einzige, groß angelegte Schreibszene verstehen. Diese Reflexion auf die Bedingungen des Schreibens und des Geschriebenen geht aber so weit, dass dabei nicht selten die Materialität der Sprache selbst in den Blick gerät, etwa über Geheimschriften, typographische Experimente oder Anagramme, um hier nur die offensichtlichen Techniken zu nennen. Schattenfroh verfährt mit seinem Material in einer Weise, die zu einer ›Spürbarkeit der Zeichen‹ führt, um an eine Formulierung Roman Jakobsons zu erinnern.
Diese kurzen Bemerkungen sollten bereits verdeutlichen, dass sich Schattenfroh über die traditionellen literaturwissenschaftlichen Zugänge kaum adäquat beschreiben lässt. Das Fehlen einer Narration, die unablässige Thematisierung des eigenen Produktionsprozesses und eine extensive, überschießende Selbstreflexion überschreiten den Normalfall des literarischen Erzählens. Wir begreifen Schattenfroh deshalb nicht als Roman, sondern als ›avancierte Prosa‹, eigentlich sogar als einen exemplarischen Text für die ›Theorie der Prosa‹, die den Namen für die Buchreihe gegeben hat, in der der vorliegende Band erscheint.
Schon der Roman gilt als formloses Genre. Aber er partizipiert an den poetischen Formen, aus deren immanenter Reflexion er besteht, so die Auskunft der frühromantischen Romantheorie und der ihr nachfolgenden Theoriebildung. Ein umfangreicher, geradezu enzyklopädischer Prosatext aber, dem nicht nur die Romanfabel fehlt, sondern der überhaupt auf erzählerische Entwicklung verzichtet und anstatt dessen ein Register paradigmatischer Ordnungen instrumentiert und in Szenen übersetzt, ist selbst mit fortgeschrittener Romantheorie nicht mehr zu konzeptualisieren. An die Stelle von narrativen Plänen, Subgenres und literarischen Formen treten die Register der poetischen Selbstreferenz. Avancierte Prosa liegt dort vor, wo solche Selbstreferenzen das poetische Regime bilden und textmodellierend werden. Schattenfroh ist zuvörderst ein Buch über das Schreiben, genauer also: eine einzige große Schreibszene, als Darstellung der gesamten poetischen Phatik.2 Aber als mehrfach durchgeführte Genese des poetischen Subjekts, also als generische Herleitung poetischer Kreativität, ist Schattenfroh auch eine tiefgehende Recherche der poetischen Emotivität, zentral im Mittelteil des Textes, in dem in den 23 Zimmern des Elternhauses das Symbolsystem der literarischen Phantasie ausgeführt wird. Insofern Schattenfroh in jedem einzelnen Zug sogleich dessen Reflexion leistet, ist der Text seine eigene Metasprache, die er so intensiv kultiviert, dass er in paradoxer Inversion die objektsprachliche Ebene in die metasprachliche aufhebt: poetische Metasprache als permanente Poetologie ihrer selbst. Und natürlich ist auch das Lesen und Rezipieren (poetische Konativität) ein durchgängiges Thema. Es wird durch verschobene Pluralisierungen der Textinstanzen, die sich gegenseitig lesen, realisiert. Die poetische Referentialität (Fiktion) schließlich wird durch die originelle Verfahrensweise erzeugt, den Ich-Erzähler in den Innenwelten von Gemälden agieren zu lassen, sodass Ekphrasen zu Bildimmersionen gesteigert werden und anstelle einer Romanfabel und der durch sie bereitgestellten Handlungswelt nunmehr die Bildräume als Szene dienen. – Diese Register der poetischen Sprache, hergeleitet aus der Ausbuchstabierung der poetischen Selbstreferenz (vgl. Simon 2022), dienen dazu, ein Ensemble aus relativ abstrakten Sinnsystemen der literarischen Darstellung zuzuführen: Semantik der bürgerlichen Kernfamilie, Katholizismus, Buchstabenmystik mit starken Bezügen zur Kabbala, Geschichte als Kampfplatz mit den paternalistischen Regimen der Macht, Foltermethoden als Wahrheitsinstrumente – um die zentralen Sinnsysteme zu nennen. Alles dies führt zu einer Sprache, die die Formen subvertiert, indem sie auf das Letztelement des Buchstabens zurückgeht und somit nicht einmal mehr das Wort als atomare Größe akzeptiert. Die Anagrammatik und der Lettrismus bilden die zentrale sprachpoetische Verfahrensweise von Schattenfroh. So ist zu konstatieren, dass Lentz’ opus magnum auf allen Ebenen mit Recht ›avancierte Prosa‹ genannt werden kann: An die Stelle von poetischen Formen treten die Register der poetischen Selbstreferenz, die Sprache zerkleinert die Zusammenhänge bis hinunter zum Buchstaben oder zum Laut, die thematischen Einheiten sind solche des objektiven Geistes (Geschichte, Familie, Herrschaft etc.), die aber als Romanfabel zur literarischen Darstellung finden. Dass Schattenfroh in der vorliegenden Buchreihe zur Theorie der Prosa behandelt wird, hat mithin nicht nur seinen Grund in der Bedeutung und der Qualität des Buches, sondern auch in der exemplarischen Gestalt, die es für eine fortgeschrittene Prosatheorie besitzt.
Auch wenn sich Schattenfroh nicht nacherzählen lässt: Die paradigmatischen Einheiten (Sinnsysteme), nach denen der Text strukturiert ist, lassen sich gleichwohl referieren. In diesem Sinne sei hier eine knappe Übersicht dieser Einheiten gegeben.
I. Eine Sterbeszene, den Tod erzählen: Der Ich-Erzähler liegt in der Röhre einer Computertomographie oder eines MRT. Es ist vielleicht die Sterbeminute, in der der Film seines ganzen Lebens, projiziert auf die weiße, als Leinwand dienende Innenfläche des Gehäuses, abläuft. Schattenfroh ist dieser Film. Es würde also alles, was auf den 1002 Seiten geschrieben ist, in idealer Gleichzeitigkeit stattfinden. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass alle Sinnsysteme des Textes als horizontale, übereinander gelagerte Schichten vorhanden sind, die in der vertikalen Durchsicht immer auf den gemeinsamen Nenner, den Tod, zurückführen. Schattenfroh so zu lesen bedeutet: Es liegt hier eine Erkundung derjenigen Repertoires vor, die das Leben bestimmt haben und die sich im Moment des Todes ins Bild setzen.
II. Der Sohn als Figur des Dritten: Der Ich-Erzähler ist in vielen Szenen der Sohn. Als solcher setzt er sich mit dem Vater auseinander, sekundär auch mit der Mutter. Schattenfroh ist deshalb stärker ein Vatervermeidungsbuch als ein Mutterbeischlaftext. Die ödipale Situation wird durchaus nicht im üblichen Sinne durchgeführt. Klassischerweise tötet der Sohn den Vater, um selbst einer zu werden, womit das System als solches fortgeschrieben wird. Was aber, wenn der Sohn kein solcher Vater werden will? Was, wenn er das Spiel durchschaut hat und den Schritt in die symbolische Ordnung verweigert? Was, wenn er statt Herrschaftsgelüsten eher eine bizarre Phantasie sein Eigen nennt und lieber Dichter wird? Dann wird der Vater nur symbolisch getötet, indem er in den Symbolsystemen permanent verschoben wird, aber real weiterlebt. Der Sohn, der den Vater vermeidet, selbst keiner wird, sondern immer alles verschiebt, ist folglich: weder a noch non a, tertium datur. In Schattenfroh tötet der Sohn den Vater nicht, aber er lässt sich von ihm auch nicht töten. Er ist, indem er Phantasievollzug ist, ja auch gar nicht da. Passend dazu lautet sein Name: Niemand. Man kann definieren: Der Sohn ist die Figur des Dritten, Personifikation einer logischen Unmöglichkeit, ein, mit dem Cusaner zu...
Erscheint lt. Verlag | 6.6.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Theorie der Prosa | Theorie der Prosa |
Zusatzinfo | 7 b/w and 40 col. ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik |
Schlagworte | encyclopaedia • Enzyklopädie • lentz • Lentz, Michael • Michael • Prosa • Prose • Schattenfroh |
ISBN-10 | 3-11-074442-2 / 3110744422 |
ISBN-13 | 978-3-11-074442-2 / 9783110744422 |
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