Nicht wie ein Liberaler denken (eBook)
267 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77570-7 (ISBN)
»Schlussendlich müssen wir entscheiden, welche Art von Menschen wir sein möchten, als Individuen ebenso wie als Kollektiv. Die Philosophie kann dabei eine Rolle spielen, aber wir sollten darüber hinaus auf Ressourcen zurückgreifen, die breiter sind als diejenigen, die die Philosophie zur Verfügung stellen kann.«
Für die meisten Menschen im »Westen« ist der Liberalismus zu einer Gegebenheit quasinatürlicher Art geworden, zu einem auf Dauer gestellten Hintergrundrauschen. Und doch gibt es in jeder Gesellschaft Winkel abseits des kulturellen Mainstreams. Der Philosoph Raymond Geuss ist in einem solchen Winkel aufgewachsen und zeichnet in seinem Buch nach, wie er in jungen Jahren mit einer ethisch-politischen Perspektive vertraut gemacht wurde, die sein Denken nachhaltig geprägt hat.
1959 kommt der begabte Sohn eines tiefkatholischen Stahlarbeiters auf ein Internat am Stadtrand von Philadelphia. Umgeben von Eisenhowers Amerika, versuchen ungarische Priester dort, den jungen Geuss zu immunisieren: gegen den repressiv-autoritären Kommunismus, dem sie entflohen waren, aber auch gegen den geistlosen liberalen Kapitalismus, in dem sie nun leben. Danach - es ist Vietnamkrieg und »1968« - geht Geuss zum Studium nach New York, wo er auf legendäre akademische Lehrer wie Sidney Morgenbesser trifft, und nach Westdeutschland, wo er das erste Mal Adorno liest.
Nicht wie ein Liberaler denken führt mit analytischer Klarheit durch die intellektuellen Strömungen, die Geuss' ablehnende Haltung zu Liberalismus und Autoritarismus geformt haben. Eine faszinierende persönliche Ideengeschichte und eine fesselnde Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen der Philosophie.
Raymond Geuss, geboren 1946 in Evansville, Indiana, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Cambridge. Er studierte an der Columbia Universityin New York, wo er 1971 promovierte, sowie in Freiburg und lehrte u. a. in Heidelberg, Chicago und Princeton. Geuss war Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und ist Mitglied der British Academy.
11Vorwort
Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos. Das ist nicht die unwichtigste ihrer Eigenschaften.
– Unsichtbares Kollektiv, Der kommende Aufstand (2007)
Das politische, soziale und ökonomische Modell angelsächsischer Provenienz, das ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit einer liberalen Form der parlamentarischen Demokratie kombiniert, schien für Großbritannien und seine englischsprachigen ehemaligen Kolonien vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gut zu funktionieren – vor allem für die Eliten dieser Länder. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sah es sogar so aus, als etabliere es sich als maßstabsetzende Größe für alle modernen Gesellschaften. Seit dem letzten Jahrzehnt werden nun allerdings Auflösungserscheinungen sichtbar. Die Beschleunigung des Niedergangs während der Jahre, als Donald Trump in den Vereinigten Staaten das Sagen hatte und im Vereinigten Königreich die Kampagne für den Austritt aus der Europäischen Union lief, war schwindelerregend.
Es lag immer eine gewisse Spannung in der Art, wie das angelsächsische Modell in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wahrgenommen wurde. Einerseits wurde es als ein allgemeingültiges Paradigma dargestellt, das alle Menschen in allen Gesellschaften erstrebten und dessen Übernahme unabweisbar in ihrem eigenen Interesse liege. Eine regelgeleitete internatio12nale Ordnung aus parlamentarisch verfassten kapitalistischen Gesellschaften sei »das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung«, wie Marx formuliert, allerdings bezogen auf ein vollkommen anderes politisches Projekt, den Kommunismus nämlich.1 Andererseits wurde ganz unmissverständlich angenommen (obgleich wohl niemals offen ausgesprochen), dass »wir« – Großbritannien und die Vereinigten Staaten als politische Gebilde sowie die Mitglieder der dominanten sozioökonomischen Gruppen dieser beiden Gesellschaften – als zwangsläufiges Ergebnis verlässlich an der Spitze bleiben würden, wenn die gesamte Welt die kapitalistische liberale Demokratie übernähme. Hier wird erkennbar, welch immense ideologische Macht ein Konstrukt hatte, das universalistische Ansprüche mit nüchtern kalkuliertem Eigennutz zusammenbrachte, und zwar insbesondere dann, wenn es sich durch handfeste wirtschaftliche und militärische Erfolge zu bestätigen schien. Ich glaube, für jeden, der in einer dieser beiden Gesellschaften aufwuchs, ist es schwer zu verstehen, wie vermessen es war, anzunehmen, dass diese beiden Aspekte – der universalistische und der exzeptionelle – für immer zuverlässig korreliert bleiben würden. Selbst diejenigen, die zweifellos sozial, wirtschaftlich oder politisch geknechtet waren und von denen man hätte erwarten können, dass sie keinerlei besonderen Beweggrund hatten, diese Ideologie zu akzeptieren, fanden es nicht unbedingt einfach, ihre Unzufriedenheit zu äußern, weil ihnen die passenden Begriffe und ein geeigneter Rahmen fehlten. Mitglieder von Randgruppen mit ihren eigenen theoretischen Traditionen, selbst wenn diese zutiefst vormodern waren, hätten vielleicht eine größere Chance gehabt, den Konflikt zwischen diesen beiden Aspekten klar zu sehen. Als die wirtschaftliche und politische Situation für die Vereinigten Staaten und für 13Großbritannien unruhiger wurde, ließ sich die Spannung zwischen den beiden Konzeptionen schwerer ignorieren und bewältigen. Donald Trump in seiner ungehobelten Art erkannte dies und zog eine schlüssige, wenngleich abstoßende Folgerung.
Die Wirtschaftskrise von 2008 wurde direkt durch die Deregulierung des Bankensystems verursacht, das heißt durch die Anwendung von Ideen, die unzweifelhaft wie maßgebliche liberale Prinzipien für den Finanzsektor aussehen. Eine Zeitlang waren die Menschen anscheinend unwillig, die Bedeutung dieser Tatsache anzuerkennen, und wenn sie es taten, war ihre Reaktion überraschend gedämpft. Der von dem ökonomischen Kollaps ausgelöste Stress hatte jedoch die Wirkung einer sanften Welle, die eine Weile brauchte, bis sie sich ausgebreitet hatte. Erst mit Verzögerung, fast ein Jahrzehnt später, bewirkte sie, dass die politischen Systeme in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Wie immer die Ätiologie genau sein mag, Trump und der Brexit haben dem internationalen Appeal einer Gesellschaftsform, die sich rechtfertigt, indem sie John Locke, Adam Smith, die Federalist Papers und John Stuart Mill anführt, erheblich geschadet. Der Liberalismus ist ein so wichtiger Teil des ideologischen Rahmens der angelsächsischen Länder, dass nicht zu erwarten ist, dass der reale wirtschaftliche und politische Niedergang der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs für das Schicksal des Liberalismus folgenlos bleiben kann.
Ich schrieb diesen Text im Januar 2021, während eines Lockdowns in der Coronavirus-Pandemie, kurz nachdem das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen hatte. Obwohl ich das Hinscheiden des Liberalismus nicht betrauere, stehen meine Überlegungen auch in diesem anderen, etwas unterschiedlichen, politischen Zusammenhang. In einer gewissen 14Hinsicht ist der gesamte Text ein indirektes Lamentieren über den Verlust, den der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU mit sich bringt. Meine unglaublich privilegierte Stellung als emeritierter Professor mit diversen Ansprüchen (auf Pension zum Beispiel) schützt mich verhältnismäßig gut vor den katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Brexits. Der Verlust von vielem, was von der politischen Macht und dem Einfluss der Briten in der Welt übrig blieb, ist etwas, was meines Erachtens gar nicht so schlecht sein mag, aber der gewaltige kulturelle Verlust, der als eine Begleiterscheinung des Durchtrennens unserer Bindung an die Europäische Union eintritt, ist wohl etwas, über das ich wahrscheinlich nie hinwegkommen werde.
Das Nachdenken über den Brexit und darüber, was die Zukunft für uns bereithalten wird, ruft in mir automatisch Erinnerungen an das Philadelphia wach, das ich noch kannte, als ich dort in den 1950er Jahren aufwuchs, kurz bevor ich auf das Internat wechselte. Es war eine Stadt, die verzweifelt versuchte, einem Image gerecht zu werden, das sie aus einer fernen Vergangenheit bezog, und sie war sich völlig darüber im Klaren, dass sie daran scheiterte. Philadelphia war in den 1790er Jahren eine bedeutende Stadt gewesen, aber um das Jahr 1955 fand alles Wichtige woanders statt, in New York, in Washington, D. C. oder in Chicago. Den in Philadelphia lebenden Menschen war das in einer vagen und unausgesprochenen Weise durchaus bewusst. Auch meine Internatsschule lebte in einer hochgradig stilisierten Vergangenheit, die ich in diesem Buch beschreiben werde. Beim Brexit geht es zum Teil ebenfalls um einen Traum der Rückkehr zu einer fantasierten Vergangenheit, in der die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs rassisch und kulturell ungewöhnlich homogen zusammengesetzt war und die Gesellschaft mächtig genug und auf ihren Inseln ausreichend iso15liert war, um Entscheidungen treffen zu können, ohne die Ansichten, Interessen und Bedürfnisse ihrer unmittelbaren Nachbarn oder sogar vom Rest der Welt großartig einbeziehen zu müssen. Das Thema dieses Buchs ist in erster Linie der Liberalismus, in zweiter Linie ist es die Logik des Lebens in einer Nostalgieblase.
Die Leserinnen und Leser mögen mehr über die Einzelheiten katholischer Theologie, den Glauben und die Praktiken des Katholizismus, über obskure religiöse Polemik und über die frühchristliche Geschichte erfahren, als sie erwartet haben, und mehr, als sie leichthin tolerieren können. Die Aufnahme dieser Erörterung in den Text könnte aus einer Reihe von Gründen seltsam erscheinen. Schließlich bin ich kein Experte für irgendeinen dieser Stoffe, und meine Ansichten dazu sind nicht mehr als Berichte über das, was ich 1960 von einem Lehrer in der weiterführenden Schule hörte, der selbst kein Meister auf irgendeinem der genannten Gebiete war, auch nach damaligem Wissensstand nicht. Der Grund dafür, dies gerade jetzt wieder aufzuwärmen, ist der Kerngedanke, auf den ich mit dieser Geschichte hinauswill. Ich möchte behaupten, dass das Aufwachsen als Mitglied einer gesellschaftlichen Untergruppe mit ihrer eigenen sehr verdichteten und in hohem Maße theoretisch durchdachten Geschichte und mit...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Übersetzer | Karin Wördemann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Not Thinking like a Liberal |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Politische Theorie | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Autoritarismuskritik • bücher neuerscheinungen • ethnografisch • kultureller Mainstream • Liberalismuskritik • Neuerscheinungen • neues Buch • Not Thinking like a Liberal deutsch • Philadelphia • Politikwissenschaft • Politische Theorie • Sidney Morgenbesser • Westdeutschland |
ISBN-10 | 3-518-77570-7 / 3518775707 |
ISBN-13 | 978-3-518-77570-7 / 9783518775707 |
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