"Warme Brüder" im Kalten Krieg (eBook)
303 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-110777-6 (ISBN)
Die Schwulenbewegung in der DDR der 1970er und 1980er Jahre war in Ursprung und Entwicklung immer ostdeutsch und deutsch-deutsch zugleich. Teresa Tammer beschreibt die Bedeutung der Teilung Deutschlands insbesondere für den Schwulenaktivismus in der DDR, aber auch in West-Berlin und der Bundesrepublik seit Anfang der 1970er Jahre; sie analysiert eingehend die Selbstbehauptungsstrategien der Ostdeutschen, zu denen Selbstdarstellungen, Aneignungen, Positionierungen und Forderungen gegenüber unterschiedlichen Adressaten gehörten. Zudem untersucht sie die Netzwerke und Transfers zwischen ost- und westdeutschen Schwulenaktivisten. Die Akteure in der DDR mussten stets balancieren zwischen Anpassung und Auflehnung sowie zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten, etwa zur DDR und einer transnationalen Bewegung oder zwischen Staat und Kirche. Teresa Tammer erzählt eine multiperspektivische Geschichte der DDR-Schwulenbewegung, die eingebettet ist in die deutsch-deutsche Geschichte, aber auch in transnationale und globale Prozesse, und die über den Mauerfall hinausreicht.
Teresa Tammer ist Referentin und Stellvertreterin der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nach ihrem Studium der Geschichte in Berlin und Warschau hat sie in Münster über schwule Bewegungen in der DDR und im geteilten Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren promoviert. Als Ausstellungsassistentin arbeitete sie im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und war in der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Geschichte der Sexualitäten und Homosexualitäten, der materiellen Kultur sowie der DDR-Geschichte.
I. Einleitung
1. Thema und Fragestellung
Als Franz Josef Strauß 1971 mit dem Satz „Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“ zitiert wurde, 1 ahnte er vermutlich nicht, dass er damit schwulen Aktivisten auf beiden Seiten der Mauer die Vorlage für eine Sprache des Protests und der Selbstbehauptung geliefert hatte. Auf der ersten Demonstration von Schwulen und Lesben 1972 in Münster wurde das Zitat bereits aufgegriffen. Die Protestierenden bemächtigten sich der Rhetorik des Kalten Kriegs und der Verächtlichmachung von Homosexuellen durch den Bayerischen Ministerpräsidenten, indem sie Strauß’ Äußerung zum einen wiederholten und skandalisierten, sie zum anderen aber auch ins Gegenteil verkehrten und verkündeten: „Lieber ein warmer Bruder als ein kalter Krieger“. 2 Der Slogan begann sich zu verbreiten und tauchte unter anderem 1978 als Titel einer Broschüre des Arbeitskreises Homosexualität der FDP-Jugendorganisation wieder auf. 3
Der Begriff „Kalter Krieg“ wurde 1946 von Herbert B. Swope, einem Mitarbeiter des US-amerikanischen Präsidentenberaters Bernard Baruch, geprägt und 1947 erstmals öffentlich verwendet. Er bezeichnet den globalen Ost-West-Konflikt zwischen den konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen der staatssozialistischen „Volksdemokratie“ auf der einen und der liberalkapitalistischen parlamentarischen Demokratie auf der anderen Seite vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre. 4 Die Bezeichnung „warmer Bruder“ für einen homosexuellen Mann ist in Berlin bereits für das 18. Jahrhundert belegt, wobei der Begriff immer abwertend konnotiert war. 5 Als positive Selbstbezeichnung wurde „warm“ gelegentlich in den 1970er und 1980er Jahren von schwulen Aktivisten genutzt.
In der DDR war die westdeutsche Umkehrung des Strauß-Zitats anschlussfähig. Mit „Lieber ein warmer Bruder als ein kalter Krieger“ überschrieb der Arbeitskreis Schwule in der Kirche sein Informationsplakat zur Friedenswerkstatt 6 1983 auf dem Gelände der Erlöserkirche in Ost-Berlin. 7 Die jungen Männer kritisierten damit die Blockkonfrontation und traten wie viele andere Teilnehmer*innen der Friedenswerkstatt für Abrüstung und Frieden ein. Sie präsentierten sich aber auch erstmals als schwule Gruppe einer kleinen Öffentlichkeit in der DDR. Zu lesen war der Satz außerdem in einer Handreichung der Arbeitsgruppe Homosexuelle Liebe Jena mit dem Zusatz: „Wer Frieden will, muss auch bereit sein, warme Brüder leben zu lassen, von ihnen zu lernen und mit ihnen zu leben.“ 8 Damit verbündeten sich die Ostdeutschen nicht nur mit der westdeutschen Schwulenbewegung, sondern sie eigneten sich deren Slogan auch für die spezifische Situation in der DDR an, wo sich sowohl Schwulen- und Lesbengruppen als auch Friedensinitiativen in den 1980er Jahren unter dem Dach der evangelischen Kirche trafen und daher besonders nahestanden.
In der Rückschau dienten die „warmen Brüder“ und die „kalten Krieger“ noch deutlicher der Selbstverortung von Aktivisten. So veröffentlichte der Vikar und DDR-Schwulenaktivist Eduard Stapel 1999 ein Heft mit dem Titel „Warme Brüder gegen Kalte Krieger. Schwulenbewegung in der DDR im Visier der Staatssicherheit“. Darin erklärt Stapel sich selbst wie auch andere Schwulenaktivisten und -gruppen zu Widerständlern gegen den SED-Staat und zu Opfern der Staatssicherheit. 9 Der DDR-Aktivist Christian Pulz wählte ebenfalls „Lieber ein Warmer Bruder als ein Kalter Krieger“ als Titel für einen Aufsatz aus dem Jahr 2007, in dem er die Lesben- und Schwulengruppen in der DDR der 1980er Jahre als „Widerstandsbewegung“ darstellt. 10
Der zur Parole umgewandelte Satz von Franz Josef Strauß steht demnach für die grenzübergreifende Anschlussfähigkeit von Protest gegen die öffentliche Diffamierung von Homosexuellen im geteilten Deutschland der 1970er und 1980er Jahre, aber auch für die Durchlässigkeit der streng bewachten Grenze zwischen Ost und West. Er verweist auf die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Schwulenbewegungen in den beiden deutschen Staaten genauso wie auf die Selbstverortung und Selbstbehauptung der Aktivisten in der DDR und in Ostdeutschland über die Friedliche Revolution hinaus. Der Titel „‘Warme Brüder‘ im Kalten Krieg“ kündigt somit eine deutsche-deutsche Verflechtungsgeschichte an, in der ostdeutsche, vor allem männliche Akteure im Mittelpunkt stehen.
Auch wenn die Geschichte des Kampfes für die Rechte und gegen die Diskriminierung von Homosexuellen weit zurückreicht und immer schon von transnationalen Verbindungen geprägt war, so brachte die Zeit Ende der 1960er Jahre doch eine neue Qualität: Im Kontext der Student*innenproteste, gesellschaftlicher und strafrechtlicher Liberalisierungen sowie schließlich der Stonewall Riots in den USA kam es zu einem Aufbruch von Aktions- und Emanzipationsgruppen in der Bundesrepublik, in Westeuropa und den USA, die breit aufgestellt und öffentlich sichtbar waren. Ihre Mitglieder eigneten sich bisher nahezu ausschließlich als Schimpfworte verwendete Begriffe wie schwul und lesbisch an, besetzten sie positiv und forderten die Anerkennung ihres Andersseins. 11 Im sozialistischen Ostblock ist für die 1970er Jahre nur eine aktivistische Homosexuellengruppe bekannt, und zwar in Ost-Berlin, die mit ihrer Nähe zum Westen als Teil des transnationalen Phänomens schwuler und lesbischer Bewegungen betrachtet werden muss. Aber sie war nicht nur das. Denn ihre Anhänger*innen verstanden sich immer zuerst als Schwule und Lesben in der DDR – so wie die ab den 1980er Jahren bei evangelischen Kirchengemeinden und später in staatlichen Jugendclubs angesiedelten ostdeutschen Gruppen auch. Das Transnationale und das Lokale gehören daher zusammen, wobei transnational in diesem Fall deutsch-deutsch bedeutet, weil nur diese Begegnungen, Transfers und Beobachtungen untersucht werden. Lokal heißt hierbei innerhalb der DDR, wo die im Fokus stehenden Personen und Zusammenschlüsse sich organisierten, mobilisierten, staatliche Stellen kontaktierten und versuchten, politische und gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Wie sich zeigen wird, konnten gerade im Nebeneinander von transnationalen Bezügen und dem Agieren vor Ort Handlungsspielräume geschaffen und ausgeweitet werden.
Das Interesse gilt somit den grenzübergreifenden Kontakten schwuler DDR-Aktivisten in die Bundesrepublik und nach West-Berlin sowie ihren Selbstbehauptungsstrategien im eigenen Land. Die Fragestellung lautet, ob und wie sie über die Mauer hinweg Gemeinsamkeiten und kollektive Sinnzusammenhänge herstellten, welche Ideen und Impulse sie aus dem anderen Teil Deutschlands aufnahmen und für ihre Arbeit in der DDR produktiv zu machen versuchten. Welche Funktionen hatte das Sprechen über das jeweils andere Deutschland innerhalb der Bewegung und in der Kommunikation mit Staat und Gesellschaft? Welche Selbstbeschreibungen lassen sich wann und in welchem Kontext finden? Wie und wo verorteten sich die handelnden Akteure und inwiefern versuchten sie, die Systemkonkurrenz zu nutzen, um ihre Ziele zu erreichen? Die Blicke westdeutscher Schwulenaktivisten sowie schwul-lesbischer Medien werden einbezogen, um zum einen die Ost-West-Verhältnisse besser zu verstehen, zum anderen aber auch, um die Bedeutung der DDR für die Debatten und Auseinandersetzungen innerhalb der westdeutschen Schwulenbewegung einzuschätzen. Hauptanliegen bleibt, die Geschichte der Schwulenbewegung in der DDR nachzuvollziehen und zugleich die grenzübergreifenden Verflechtungen 12 schwuler Aktivisten als wesentliches Strukturelement für den Wandel im Umgang mit Homosexuellen in Deutschland herauszuarbeiten.
2. Forschungsstand
Die Geschichte der Homosexualitäten ist in der historischen Forschung kein randständiges Thema mehr. Tatsächlich kann behauptet werden, dass die Zahl der Forschungsprojekte – insbesondere auch zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Homosexualitätsdiskurse und Strafrechtsentwicklungen, Verfolgung und emanzipatorische Bewegungen, Subjektivierungen, subkulturelle und institutionelle Infrastrukturen sowie Vergangenheitserzählungen werden in jüngst veröffentlichten oder bald erscheinenden Forschungsarbeiten untersucht. 13 Dieses Buch reiht sich hier ein und steht damit für eine neue und breitere Hinwendung der universitären Forschung zu Fragen, die bisher vor allem in bewegungsnahen Einrichtungen und von Homosexuellenaktivist*innen gestellt wurden. Sie ist an der Schnittstelle angesiedelt, an der eine Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland, die Geschichte der DDR und der deutschen Teilung sowie die Geschichte sozialer Bewegungen zusammentreffen. Zu jedem dieser Themen liegen unzählige Literaturtitel vor, die hier nicht vollständig vorgestellt werden können. Vielmehr werden lediglich diejenigen Schriften herausgegriffen, die entweder eine wichtige Grundlage darstellen oder als deren Weiterführung und Ergänzung sich das Buch versteht. Der Fokus liegt zunächst auf der Geschichte der Schwulen- und Lesbenbewegungen seit den 1970er Jahren. 14 Auf Abhandlungen zur...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
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Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte | Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Deutsch-Deutsche Zeitgeschichte • German-German contemporary history • Homosexualität • Homosexuality • Social Movements • Soziale Bewegungen |
ISBN-10 | 3-11-110777-9 / 3111107779 |
ISBN-13 | 978-3-11-110777-6 / 9783111107776 |
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