Über dem Luftmeer (eBook)
219 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0399-1 (ISBN)
Martin Burckhardt, 1957 in Fulda geboren, ist Audiokünstler, Kulturtheoretiker und Dozent. Er verfasste diverse technikphilosophische Bücher zur Genealogie der Maschine. Burckhardt lebt und arbeitet in Berlin.
Martin Burckhardt, 1957 in Fulda geboren, ist Audiokünstler, Kulturtheoretiker und Dozent. Er verfasste diverse technikphilosophische Bücher zur Genealogie der Maschine. Burckhardt lebt und arbeitet in Berlin.
Einleitung
Denken Sie sich die Luft weg.
GALILEO GALILEI, Dialog über die beiden
hauptsächlichsten Weltsysteme
Wenn Totgesagte länger leben, so deswegen, weil die Rede über die Welt nicht mit der Welt deckungsgleich sein muss, ja weil das Totsagen, wie der Traum auch, eine Form des Wunschdenkens ist. Sigmund Freud hat diesen Zusammenhang auf überaus lakonische Weise festgehalten: Habe sich nach seinen Vorträgen ein Schweigen eingestellt, als habe er an den »Schlaf der Welt« gerührt, habe man später die Ausbreitung des psychoanalytischen Denkens nach Leibeskräften negiert – was Freud als Zeichen zunehmender Vitalität verzeichnete: »Totgesagt war doch ein Fortschritt gegen Totgeschwiegen!«1
Dieser Logik zufolge wäre auch die totgesagte, ins Postmoderne hinübergerutschte Moderne vitaler denn je. Denn wie häufig ist schon ihr Ende ausgerufen worden! Bereits im Jahr 1944 schrieben Adorno und Horkheimer, in der Antizipation des Atompilzes, die folgende Zeile: »Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«2 Waren mit der Atomspaltung Religion und materielle Welt zertrümmert, so war mit dem Holocaust auch der Glaube an die Menschheit Geschichte, mehr noch: das Vertrauen in jeglichen Fortschritt verloren. Mit dem Sturz in die Nachgeschichte erscheint die Moderne als eine Art Schattenreich.3 Trotzdem sollte das Vertrauen in die Moderne in der Nachkriegszeit einen überraschenden Aufschwung erleben – eine Zeit des Atemholens zumindest. Im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre jedoch wurden Stimmen laut, die mit dem Übergang in die postindustrielle und postmaterialistisch atomisierte Gesellschaft das Thema erneut aufgriffen.4
In Anbetracht dieser Vorgeschichte ist Lyotards Diagnose vom Ende der großen Erzählungen keine einschneidende Geste, vielmehr eine Rede am offenen Grab. Zwar ist seit der Ausrufung der Postmoderne bald ein halbes Jahrhundert vergangen, jedoch ist nicht einmal in Ansätzen sichtbar, was der Moderne nachfolgen könnte. Es scheint, als ob der Moderne das Schicksal eines Serienhelden bevorsteht, der, kaum dass man ihn glücklich aus der Welt rauskatapultiert hat, in neuer Gestalt wiederauftreten muss. Und weil diese postheroischen Wiedergänger zunehmend finster ausschauen, drängt sich der Eindruck auf, als stünde man einer Zombiegestalt gegenüber.5
Konnten sich Adorno und Horkheimer noch der Ahnung nahenden Unheils hingeben, beschreibt die Gedankenfigur des Anthropozäns eine Form des Futur II, genauer: eine Zukunft, die längst schon Vergangenheit ist. Dabei wird der erdgeschichtliche Auftritt des Weltzerstörers auf das Jahr 1784 angesetzt und mit der Erfindung der Dampfmaschine verknüpft.6 Kippt hier das Unbehagen an der Moderne in eine Form des Millenarismus hinüber, ist diese apokalyptische Geistesaustreibung zu einem regelrechten Schlachtgesang angeschwollen. Gewissermaßen erscheint das System als symbolische Zwangsjacke, die ihre Insassen einhüllt und nicht mehr in die Freiheit entlassen will. Als hätte sich das helle Licht der Aufklärung in eine schwarze Sonne, eine menschengemachte Finsternis verwandelt, erhebt das Monster einer weltlichen Apokalypse sein Haupt.
Das Gefühl, in einer Untergangskultur zu leben, ist so groß, dass fast alle gegenwärtigen Zeitstrebungen mit dem Präfix des Post- ausgestattet werden. Konnte der Postmaterialismus, von der Digitalisierung befördert, der Angestelltenkultur noch ein papierloses Büro in Aussicht stellen, lässt die postnationale, postdemokratische, postfaktische Trias keinen Zweifel daran, dass das moderne Selbstverständnis in einen Dämmerzustand, ja eine tiefe Depression verfallen ist. Weil das eigene Haus, wie in dem Film The Omega Man, von eine Zombiearmee belagert scheint, hat die zurückgebliebenen Einwohner das übermächtige Gefühl der Oikophobie7 erfasst. Es scheint nur mehr darum zu gehen, die passende Exit-Strategie zu finden. Aber da jeder Ausweg verstellt scheint, bleibt als einziger Fluchtweg die Apokalypse. Wenn es einfacher ist, »sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«,8 geht mit diesem Offenbarungseid der Einbildungskraft das bittere Eingeständnis einher: So wenig Zukunft war nie!
In schärfstem Kontrast zu den Untergangsfantasien, die seit den Siebzigerjahren die Köpfe beherrschen, steht der Umstand, dass die Moderne, als technologische Entwicklung begriffen, sich nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen anmerken lässt – ja dass sie sich auf eine Weise entfesselt, welche noch ihre leidenschaftlichsten Apologeten in Staunen versetzt hätte. Denn während sich im Psychologischen eine Zukunftsverzagtheit hat herausbilden können, erlebt die Gesellschaft technologisch eine grundstürzende Modernisierung. Ist das 19. Jahrhundert mit Eisenbahn und Telegrafie in den Geschwindigkeitsraum der Moderne eingetreten,9 hat die Digitalisierung die Welt in den Zustand des Instant Karma überführt: in das anything, anytime, anywhere der globalen Echtzeitkommunikation. Von daher ließe sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Moderne nicht vorüber ist, im Gegenteil, dass sie erst im Begriff ist, hochzufahren und zu ihrer Betriebstemperatur zu finden. Die Frage stellt sich: Wie konnte man sich zu der verwegenen Behauptung versteigen, dass die Moderne vorüber ist? Und: Wäre es möglich, dass dieses Totsagen nichts anderes ist als der Beweis unerschütterlicher Vitalität?
Die einzig plausible Antwort auf diese Fragen besteht in der Hypothese, dass die großen Erzählungen, die man sich über die Moderne erzählt hat, die falschen gewesen sein müssen, ja dass sich die Moderne auf denkwürdige Weise selbst missverstanden hat. Man könnte sogar einen Schritt weiter gehen und die Frage stellen, ob dieses Verkennen nicht ein verlässlicher Begleiter der Moderne ist, ihre Zwillingsgestalt geradezu. Bezeichnenderweise ist nämlich das Schreckbild der triumphierenden Moderne (in Form der Digitalisierung) keineswegs ein Produkt unserer Zeit, sondern nimmt seinen Ausgang bereits im 17., machtvoller noch im 18. Jahrhundert.10 Offenbar ist im Bauch der Moderne ein Monster herangereift, ein gesellschaftliches Unbewusstes, das sich peu à peu den Lebensverhältnissen eingeschrieben, das Denken formatiert und die Verhältnisse, im Wortsinn, auf den Kopf gestellt hat. Dass man ernsthaft von einem Digital Native sprechen kann, ist das Resultat dieses Wandels, ebenso wie es Ausdruck einer Begriffslosigkeit ist, wenn nicht gar einer flagranten Illiteralität. Denn wenn dieser Geisteskontinent nicht ebenso unversehens, wie die Insel Atlantis versunken ist, aus den Tiefen des Meeres aufgetaucht sein sollte, woher kommt er dann? Und worin bestehen seine geistigen Wurzeln?
Insofern diese Fragen weitgehend unbeantwortet geblieben sind, tut sich eine Leerstelle auf: die große Erzählung, die nicht erzählt worden ist. Tatsächlich überträgt sich das Paradox des totgesagten, gleichwohl quicklebendigen Monsters auch auf das Verhalten der Menschen. Denn die Bewohner dieses Kontinents, die sich als konsumistische Internationale aller digitalen Segnungen erfreuen, sind vor allem darauf erpicht, sich ihre Zumutungen vom Leib zu halten – dort jedenfalls, wo sie mit Kosten und Mühen verbunden sind. Folglich nehmen sie, wie die Apokalyptiker, Zuflucht zu einer Strategie des katechon, und diese gebärdet sich, je nachdem, als Entschleunigungs- oder als Entgiftungsmaßnahme: digital detox. Ex negativo ist damit das moderne Gesellschaftstriebwerk benannt. Und wie Freud uns gelehrt hat, ist das Totsagen ein Fortschritt. Die Welt scheint aus ihrem Schlaf aufgeschreckt.
Ist von einem Unbehagen in der Moderne die Rede, ist die Erinnerung an Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur nicht fern – und diese Doppelbelichtung wiederum gibt Anlass, das Verbindende wie das Trennende deutlich zu machen. Der Grundkonflikt, den Freud in diesem Werk zeichnet, läuft zwischen Trieb und Kultur – und das Unbehagen, das Freud zufolge den Zivilisierten ergreift, hat damit zu tun, dass der Kultivierungsprozess mit einem Triebverzicht, ja einer Form der Kulturversagung einhergeht.11 Aus der Freud’schen Warte betrachtet, kann jede Kultur nur ein Schattenreich ursprünglicher, mächtiger Strebungen sein, eine platonische Höhe, die ihren Insassen bloß das Schattenspiel jener schwarzen Sonne zuteilwerden lässt, die am Anfang allen Gesellschaftslebens steht: der Libido.12
Insofern diese Gedankenlinie eine unwandelbare, dunkle und per se ahistorische Triebstruktur voraussetzt, ist Freuds psychischer Apparat, seinem Namen zum Trotz, keine kulturelle Errungenschaft, sondern ein Residual der Urzeit. Und in dieser Dunkelzone wiederum tobt sich aus, was Freud die Urhorde in uns getauft hat. In Anbetracht dieser Tatsache läuft der Umstand, dass Freud mit dem Apparate-Begriff eine technische Konnotation...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Geschichte • Maschine • Maschine-Mensch-Verhältnis • Maschinengeschichte • Moderne • Motor • Panoptikum • Psychologie • Technik • Technikphilosophie • Technologie • Universalgeschichte |
ISBN-10 | 3-7518-0399-8 / 3751803998 |
ISBN-13 | 978-3-7518-0399-1 / 9783751803991 |
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