Schulden machen (eBook)
399 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45226-5 (ISBN)
Jan Logemann, PD Dr. phil., lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen. Stefanie Middendorf ist Professorin für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Laura Rischbieter ist Professorin für Globale Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz.
Jan Logemann, PD Dr. phil., lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen. Stefanie Middendorf ist Professorin für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Laura Rischbieter ist Professorin für Globale Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz.
Regierungen: Staatsverschuldung in Kriegs- und Friedenszeiten
Duncan Needham
In der heutigen Zeit gibt es für eine Staatsverschuldung gute und schlechte Gründe. Zu den guten ökonomischen Gründen zählen die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen, Infrastrukturinvestitionen und Maßnahmen zur Glättung der Konjunktur. Zu den schlechten Gründen gehören die Beeinflussung von Wahlen, die Erzielung von Erträgen für Klientelgruppen und die Finanzierung von Konsumausgaben zulasten künftiger Generationen. Im 20. Jahrhundert verschuldeten sich europäische Staaten allerdings vor allem, um ihre Kriegskosten zu decken. Die staatliche Finanzierung von Kriegsausgaben erfolgt aus Gründen der fiskalischen Handlungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Generationengerechtigkeit in der Regel über künftige Steuereinnahmen. Dies setzt eine fiskalische Glaubwürdigkeit voraus, die laut James Macdonald mit dem Grad der Demokratie steigt – »Freiheit und Kreditwürdigkeit lassen sich nicht voneinander trennen«.1 Doch nicht nur Kriege treiben die Staatsverschuldung in die Höhe, sondern auch politische Instabilität. Politische Polarisierung und eine Verunsicherung der Wählerschaft können die Defizitneigung begünstigen und den Schuldenstand ansteigen lassen. Und wenn dann ein hoher Schuldenstand und mangelnde Zahlungsbereitschaft aufeinandertreffen, wie das in der jungen Weimarer Republik der Fall war, kann dies verheerende Folgen für die betroffenen Anleger:innen haben (vgl. den Beitrag von Stefanie Middendorf: Kleinanleger:innen).
In diesem Kapitel soll anhand dreier Fallstudien untersucht werden, in welchem Umfang europäische Staaten im Verlauf des 20. Jahrhunderts Schulden »gemacht« haben. Großbritannien, Frankreich (in geringerem Maße) und Deutschland starteten mit einem relativ niedrigen gesamtstaatlichen Schuldenstand in jenes Jahrhundert.2 Dies spiegelte das fiskal- und geldpolitische Dogma der damaligen Zeit wider, nach dem Regierungen in Friedenszeiten für ausgeglichene Primärhaushalte sorgen und ihre Währungen an Gold koppeln sollten. Obwohl sich in der Folge alle drei Staaten zur Finanzierung der beiden Weltkriege hoch verschuldeten, gingen sie mit der anschließenden Schuldenlast völlig unterschiedlich um. Wie schon im Anschluss an bisherige Kriege erneuerten die britischen Regierungen ihre fiskalische Glaubwürdigkeit durch harte Sparmaßnahmen und setzten (die meisten) ihrer Schuldendienstzahlungen fort.3 Frankreich hingegen trieb seinen Schuldenstand nach dem Zweiten Weltkrieg weiter in die Höhe, als der durch die deutsche Besatzung verursachte wirtschaftliche Schaden das Land dazu zwang, den Wiederaufbau über eine inflationäre Finanzierung zu bewältigen. Deutschland wiederum setzte sich mit zwei Währungsabwertungen gegen seine Schulden zur Wehr. Die Schuldenlast nahm kontinuierlich ab, als nach dem Zweiten Weltkrieg das sogenannte goldene Zeitalter des Kapitalismus anbrach und Wirtschaftswachstum und ein gemäßigtes Inflationsniveau die öffentlichen Defizite vorübergehend ausglichen. Doch nach dem Ende des 1944 etablierten Systems von Bretton Woods, das feste Wechselkurse bestimmt hatte, setzte sich immer mehr eine prozyklische #Fiskalpolitik durch. Regierungen verschuldeten sich in konjunkturellen Schwächephasen, waren in Aufschwungphasen jedoch nicht gewillt, Überschüsse zu erzielen. Aufgrund der Kosten konjunkturpolitischer Maßnahmen während der weltweiten Finanzkrise 2008 und der Corona-Pandemie seit 2020 weisen alle drei Staaten inzwischen einen Schuldenstand auf, wie er zuvor nur nach großen Kriegen erreicht wurde.
Großbritannien
Die Geschichte der Staatsverschuldung lässt sich von den italienischen Stadtstaaten des 13. Jahrhunderts über das Geschäftsgebaren der Völker des europäischen Frühmittelalters bis in die Antike zurückverfolgen. Doch der erste Staat, der regelmäßig Schulden im heutigen Maßstab aufnahm, war England (bzw. nach dem Zusammenschluss der Königreiche im Jahr 1707 Großbritannien), das ab 1689 in eine kostspielige Auseinandersetzung mit dem Frankreich des »Sonnenkönigs« Ludwig XIV. verwickelt war. Der britische Fiskal- und Militärstaat vermochte beispiellose Summen aufzunehmen, weil er nach einer Neuordnung seiner Finanzmärkte die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der 1694 gegründeten #Bank of England mit der Autorität des »Königs im Parlament« – also der Verbindung der Krone und der beiden Häuser des Parlaments als Träger der staatlichen Souveränität – verknüpft hatte und so Schuldendienstverpflichtungen über künftige Steuereinnahmen finanzieren konnte (vgl. den Beitrag von Tim Neu: Kerbhölzer). Bis 1733 hatte der britische Staat die nötige haushaltspolitische Glaubwürdigkeit etabliert, die Premierminister Robert Walpole zu der Bemerkung veranlasste, die britischen Gläubiger seien inzwischen nicht mehr daran interessiert, wer von ihnen zuerst, sondern wer zuletzt bezahlt werde4. Trotz weiterer kostspieliger Kriege hatten sich britische Staatsanleihen bis in die 1850er-Jahre zu einer derart sicheren Anlage entwickelt, dass Schatzkanzler William Gladstone, der das »moralische Übel« der Staatsverschuldung nach allen Kräften reduzieren wollte, Anleger:innen nur mit Mühe von ihren #Staatsanleihen trennen konnte. Trotz der Aufnahme weiterer #Staatsschulden zur Finanzierung des Krimkriegs (1853–56), der Verstaatlichung des Fernsprechwesens (1868) und der Übernahme von Anteilen am Suezkanal (1875) gelang es Gladstone und seinen Amtsnachfolgern, zwischen 1850 und 1914 die nominale Schuldenlast um etwa 20 Prozent zu senken. Allerdings zeigt Grafik 1, dass ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Zuge des Wirtschaftswachstums deutlich gesunken war – von schätzungsweise 139 Prozent im Jahr 1850 auf nur 25 Prozent am Vorabend des Ersten Weltkriegs.
Grafik 1: Britische Staatsverschuldungsquote, 1850–2010
Quelle: Office for National Statistic
Im Jahr 1914 beruhte die britische Kriegsstrategie des business as usual darauf, Finanzmittel für Bündnispartner mit größeren Armeen bereitzustellen, die den Großteil der Kämpfe bewältigten, während die Royal Navy gleichzeitig die Deutschen mit ihrer Seeblockade in die Kapitulation zwingen wollte. Die britische Regierung zog es vor, ihre Arbeitskräfte im Land zu behalten, um Munition und Exportgüter zur Finanzierung von Lebensmittel- und Kriegsmaterialimporten zu produzieren. Diese Strategie wechselte 1916, als mit der Vorbereitung der Wehrpflicht der »totale Krieg« eingeleitet wurde. Doch nur etwa ein Drittel der britischen Kriegsausgaben wurden über Steuern finanziert, und der Schuldenstand hatte sich bis 1919 nahezu verzehnfacht. Die #Staatsschuldenquote nahm sogar noch weiter zu, als die britische Wirtschaft im Frühjahr 1920 in eine tiefe Depression stürzte.
Im Jahr 1914 hatten die britischen Staatsschulden fast ausschließlich aus #consols und lediglich zu zwei Prozent aus kurzfristigen Schatzanleihen bestanden. Zu Beginn des Jahres 1919 setzten sich die Sterlingschulden zu etwa 16 Prozent aus #Schatzwechseln und zu weiteren 34 Prozent aus 1917 aufgelegten (fünfprozentigen) Kriegsanleihen zur Tilgung in den Jahren 1929 bis 1947 zusammen. Das #Emissionsvolumen war derart groß, weil Käufer:innen für diese Anleihen mit früheren Kriegsanleihen zu ihrem Nennwert zahlen konnten. Diese Möglichkeit ließ sich die Mehrzahl der Anleger:innen nicht entgehen, weil der Marktwert dieser früheren Anleihen in kurzer Zeit unter ihren Nennwert gefallen war. In den 1920er-Jahren machte der Schuldendienst mehr als ein Viertel der Staatsausgaben aus, da die Bank of England an hohen Zinssätzen festhielt. Sie wollte auf diese Weise Kapital gewinnen (und halten) und das britische Pfund ausreichend aufwerten, um erneut den Goldstandard zum Wechselkurs aus der Vorkriegszeit erreichen und etablieren zu können. Erst nach der Loslösung vom Goldstandard im Jahr 1931 konnte der Staat die Kosten...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Co-Autor | Florian Fastenrath, Lukas Haffert, Arjen van der Heide, Jan Logemann, Stefanie Middendorf, Duncan Needham, Tim Neu, Alexander Nützenadel, Laura Rischbieter, Ursula Rombeck-Jaschinski, Friederike Sattler, Korinna Schönhärl, Mischa Suter, Jakob Tanner, Sebastian Teupe, Leon Wansleben, Heike Wieters, Natasha van der Zwan |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | Erster Weltkrieg • EU-Finanzen • Finanzgeschichte • Finanzkrise • Finanzmarkt • Generationengerechtigkeit • Geschichte • Geschichtswissenschaft • Globale Finanzmärkte • Haushaltsdefizite • Hilfspakete • Historische Praxeologie • Inflation • Internationale Finanzkommissionen • Kapital • Kapitalismus • Moral Hazard • Praktiken in der Wirtschaftsgeschichte • Regierung • Rente • Rentensysteme • Schulden • Schuldenbeziehungen • Schuldenerlass • Staatsschuldenmärkte • Staatsverschuldung • Wirtschaft • Wirtschaftsgeschichte • Zentralbanken • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-593-45226-X / 359345226X |
ISBN-13 | 978-3-593-45226-5 / 9783593452265 |
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