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Zwischen Beharrung, Kritik und Reform (eBook)

Psychiatrische Anstalten und Heime für Menschen mit Behinderung in der deutschen Nachkriegsgeschichte
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
429 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45261-6 (ISBN)

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Zwischen Beharrung, Kritik und Reform -
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Psychiatrische Anstalten und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen erregten in jüngerer Zeit öffentliche Aufmerksamkeit, da Betroffene ihre dort gemachten Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung und Ressourcenmangel publik machten. Die Beiträge dieses Bandes analysieren die Entwicklung der institutionellen Strukturen seit der Nachkriegszeit und ordnen das Handeln der Anstaltsleitungen und die wissenschaftlichen Konzepte, die der Ausübung von Gewalt Vorschub leisteten, zeitgeschichtlich ein. Zudem geben sie Einblicke in die Alltagsgeschichte in den Heimen aus der Sicht der Betroffenen.

Cornelius Borck leitet das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und ist Sprecher des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL). Gabriele Lingelbach ist Professorin für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Kiel.

Cornelius Borck leitet das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und ist Sprecher des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL). Gabriele Lingelbach ist Professorin für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Kiel.

Psychiatrie und Behindertenhilfe in der Nachkriegszeit: Beobachtungen zum Verhältnis von Medizingeschichte, Disability History und Zeitgeschichte


Cornelius Borck und Gabriele Lingelbach

In der Psychiatriegeschichte gelten die hundert Jahre zwischen 1870 und 1970 als die Phase der großen Anstalten, in denen ein immer größerer Anteil der Bevölkerung in Großeinrichtungen sozial isoliert und oft langfristig untergebracht wurde, bis mit den neuen sozialen Bewegungen allmählich ein Umdenken einsetzte und sozialpsychiatrische Reformen den bis heute andauernden Prozess der sogenannten Dehospitalisierung einleiteten.1 Den in den Einrichtungen hospitalisierten Menschen wurden nicht nur Grundrechte und Lebenschancen vorenthalten, vielmehr mussten sie sich weitgehend fremdbestimmt den Regeln und Zwängen des jeweiligen Anstaltsregimes anpassen. In jüngster Zeit hat eine große Zahl von Einzelstudien darauf aufmerksam gemacht, in welchem Maße die Bewohner*innen damals Gewalt in vielfältigster Form ausgesetzt waren, von physischer und psychischer Gewalt bis zu sexualisierter und medizinischer Gewalt.2 Die heutige öffentliche Empörung über die damaligen Zustände unterstreicht dreierlei: Erstens eine langanhaltende, nahezu flächendeckende Duldung dieser Verhältnisse seitens der Verantwortlichen sowie ein weitgehendes Wegsehen seitens der Bevölkerung trotz gelegentlicher Skandalisierungen dieser Zustände schon damals. Zweitens eine mittlerweile stattgehabte tiefgreifende Veränderung gesellschaftlicher Einstellungen gegenüber institutioneller Autorität und Gewalt sowie autoritären Disziplinarregimen. Drittens schließlich ist die momentane Skandalisierung früherer Zustände auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Diversitätsakzeptanz in bedeutenden Teilen der Gesellschaft zu lesen, die dazu führt, dass nicht nur Gewalt gegenüber Menschen mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen, sondern auch die Einschränkung ihrer Rechte und Teilhabechancen unter Rechtfertigungsdruck gerät.

Kritik an den Verhältnissen in den Anstalten gab es allerdings bereits seit Längerem: Seit den späten 1960er Jahren – im Ausland auch schon früher, in der Bundesrepublik teilweise mit erheblichen Verzögerungen – mehrten sich Stimmen, welche die Verhältnisse in psychiatrischen Anstalten missbilligten: Die Anstalt galt immer weniger als angeblich notwendiger Schutzraum, und die problematischen Effekte von Isolierung und Verwahrung rückten immer stärker in den Vordergrund.3 Als daraufhin ein Prozess sozialpsychiatrischer Reformen begann und erste extramurale Versorgungsstrukturen aufgebaut wurden, wurde damit auch das ärztliche Behandlungsmonopol für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und Krankheiten durch Hinzuziehen vor allem von Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen aufgebrochen, die ihrerseits vielfach gegenüber den bis dato vorherrschenden Strukturen und Praktiken eine kritische Distanz einnahmen. Darüber hinaus wurden im Zuge der sogenannten Deinstitutionalisierung dann auch in der Bundesrepublik viele Großeinrichtungen aufgelöst; wobei der Erfolg umstritten ist, weil oft andere Formen fremdbestimmter Kollektivbetreuung an ihre Stelle traten.4 Eine umfassende Teilhabe der betroffenen Menschen an der Gesellschaft stellt weiterhin eine große Zukunftsaufgabe dar.

Allein schon dieser knappe Überblick zeigt, dass Psychiatriegeschichte in einem weit größeren Maße als andere Zweige der Medizingeschichte immer auch Gesellschaftsgeschichte ist, insbesondere, weil sie Gesellschaften von ihren Rändern her beschreibt. Sie ist zudem Zeitgeschichte marginalisierter Menschen und Menschengruppen.5 Beides verbindet sie mit der Disability History, die erst in jüngster Zeit in der Bundesrepublik etabliert wurde und die interdisziplinäre Perspektive dieses Bandes mitbestimmt.6 Diese Verknüpfung ist noch ungewöhnlich, auch, da die divergierenden institutionellen Anbindungen – die Medizingeschichte eher an den medizinischen Fakultäten, die Disability History eher an den philosophischen Fakultäten oder den Hochschulen für Sozialarbeit – eine gegenseitige Wahrnehmung und eine Zusammenarbeit erschwerten.7 Doch eigentlich ist eine solche Zusammenarbeit naheliegend, da psychisch Kranke und geistig Beeinträchtigte lange Zeit in denselben Einrichtungen hospitalisiert wurden – oft mit dem Preis, dass beiden Gruppen kaum adäquate Behandlung zuteilwurde. Das gilt in besonderer Weise für den hier untersuchten zeitlichen und geographischen Raum, die Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik.8 Entgegen der Ausdifferenzierung psychiatrischer Versorgungsformen bereits seit dem 19. Jahrhundert und dem Entstehen spezialisierter Angebote der Sozial- und Psychotherapie sowie kindlicher Förderung in der Weimarer Republik wurden in der Bundesrepublik nach den Jahren der mörderischen Biopolitik des Nationalsozialismus die bestehenden Großeinrichtungen sehr schnell und undifferenziert wieder aufgefüllt – nur unter zumeist erheblich schlechteren räumlichen und personellen Bedingungen, als dies in der Zwischenkriegszeit der Fall gewesen war.

»Warum wurden die psychiatrischen Anstalten nicht geschlossen, als der Zweite Weltkrieg beendet war? […] Hätte es […] angesichts der Vorgeschichte und der aktuellen Notlage 1945 nicht nahegelegen, die Anstalten endgültig aufzugeben und für die Patienten, die überlebt hatten, Versorgungsformen zu entwickeln, welche die Gefährdungen der unmittelbaren Vergangenheit in Zukunft wenn auch nicht unmöglich, so doch wenigstens strukturell erschweren würde?«9

Cornelia Brink nennt das zwar einen »kontrafaktischen Gedanken«, aber genau diese Frage steht angesichts der Ergebnisse der jüngsten Studien zu Leid und Unrecht in psychiatrischen Einrichtungen im Raum. Schließlich entstand nachhaltig wirksame Kritik an den Verhältnissen einer Verwahrpsychiatrie ja erst im Zuge des politischen Aktivismus der späten 1960er Jahre; als Zäsur gilt allgemein die vom Deutschen Bundestag 1971 eingesetzte Enquête-Kommission zur Lage der Psychiatrie, die 1975 ihren Abschlussbericht vorlegte.10

International hingegen reicht die Entstehung kritischer Ansätze weiter zurück. Bereits 1957 hatte der Soziologe Erving Goffman die psychiatrische Anstalt in einer verdeckten teilnehmenden ethnographischen Studie als »totale Institution« charakterisiert und in seinem Buch Asylums von 1961 mit ähnlichen Einrichtungen wie dem Gefängnis verglichen (die deutsche Übersetzung erschien erst 1972 im Suhrkamp Verlag).11 Im selben Jahr hatte Michel Foucault Folie et déraison vorgelegt, seine Studie zur Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (wie der Untertitel der deutschen Übersetzung von 1969 lautet) mit der zentralen These eines »grand renfermement«, wonach die Durchsetzung der neuzeitlichen Konzeption von Vernunft sich wesentlich einem parallelen Prozess der »großen Einsperrung« verdanke, wodurch abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht worden seien.12 So wichtig das Konzept der totalen Institution und die These einer Ausgrenzung des Wahnsinns für die politische Diskussion wurden, gelten sie heute in der Historiographie als problematisch, weil sie mit ihrem totalisierenden Zugriff die Eingesperrten ihrerseits entmächtigten und vorhandene Handlungsspielräume ausblendeten. So hat Roy Porter in seinem Plädoyer für eine »history from below« schon 1985 »the mad« in den Blick genommen und exklusiv aus ihren Stimmen seine Sozialgeschichte des Wahnsinns verfasst.13

Foucaults Rekonstruktion der Moderne als Ausgrenzung alles Nichtvernünftigen ist deshalb von der Psychiatriegeschichte ähnlich häufig wiederholt wie bestritten bzw. differenziert worden,14 sie hat aber die Psychiatriegeschichtsschreibung vor allem mit dem Argument geprägt, dass an die Stelle sozialer Ausgrenzungsstrategien medizinisch definierte Kontrollmechanismen getreten seien. Wie schon in der älteren Fachgeschichte blieb deshalb auch im Anschluss an Foucault die Geschichte psychisch kranker und behinderter Menschen ein Bereich der Medizingeschichte, nun mit der Medikalisierung von Devianz als Bezugspunkt.15 Das unterscheidet sie von den Disability Studies und der Disability History,16 deren wesentlicher Impuls in der Kritik am sogenannten medizinischen Modell von Behinderung und am...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2023
Reihe/Serie Disability History
Disability History
Co-Autor Monika Ankele, Viola Balz, Thomas Beddies, Christof Beyer, Cornelius Borck, Burkhart Brückner, Stefanie Coché, Christine Hartig, Jonathan Holst, Uwe Kaminsky, Franz-Werner Kersting, Gabriele Lingelbach, Nils Löffelbein, Raphael Rössel, Maike Rotzoll, Frank Sparing
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Behinderte • Behinderte Menschen • Behinderung • Bundesrepublik Deutschland • Disability History • Gewalt in Heimen • Heime für Behinderte • Medizingeschichte • Nachkriegsgeschichte • Psychiatriegeschichte • Psychiatriekritik • Psychiatrische Anstalten • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-593-45261-8 / 3593452618
ISBN-13 978-3-593-45261-6 / 9783593452616
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