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Vom Mut, genau hinzusehen (eBook)

Feministisch-befreiungstheologische Interpretationen zur Apokalyptik
eBook Download: EPUB
2023
240 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-30765-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Mut, genau hinzusehen - Luzia Sutter Rehmann
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Bibel und die Poesie der Hoffnung
Die hier gebotenen Interpretationen zu apokalyptischen biblischen Texten treffen mitten hinein in die Unsicherheiten der Gegenwart. Luzia Sutter Rehmann erschließt alte Texte wie das biblische Buch Daniel oder die Offenbarung des Johannes mit wissenschaftlich historischer Analyse in ihren jeweiligen Kontexten. Aber sie begnügt sich nicht damit. Sie fragt weiter und parteiischer, subjektiver und wertend: Welchen Sinn können diese Texte heute in meinem, in unserem Leben haben?

Im Gespräch mit den Worten der Bibel findet sie zu Imaginationen und zu poetischen Deutungen, die die Kraft haben, das Unerwartete zu wecken, zum Aufbruch zu ermuntern und neue Hoffnung entdecken zu lernen. Eine befreiungstheologische Relektüre von Quellen, die Menschen transformieren und für das Noch-Nie-Dagewesene öffnen können!

Luzia Sutter Rehmann, Dr., geb. 1960. Studium der Evangelischen Theologie in Basel und Montpellier (Frankreich); ordinierte Pfarrerin seit 1986. Promotion über das Gebärmotiv in der Apokalyptik 1994 in Kassel. Ist Titularprofessorin für Neues Testament an der theologischen Fakultät der Universität Basel. Übersetzerin des Lukasevangeliums für die 'Bibel in gerechter Sprache'. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind feministische Befreiungstheologie und Sozialgeschichte des Neuen Testaments.

Vorwort zur Neuausgabe

Das hier neu vorgelegte Buch habe ich vor gut 25 Jahren geschrieben. Die Apokalypse des Johannes so zu lesen, dass sie verständlicher wird, dass einzelne Bilder zu uns sprechen, war mir damals und ist mir auch heute ein Anliegen. Das 1998 im Exodus-Verlag erschienene Buch hat viele LeserInnen gefunden und – was mich besonders gefreut und bewegt hat – den Marga Bührig Förderpreis erhalten. Die Preisurkunde der Stiftung von 1999 lobt »den Mut, Texte ganz genau zu lesen, gegen den Strich, und Frauen sichtbar werden zu lassen, die in der traditionellen Leseweise kaum gesehen werden.« Die exegetischen Ansätze und Erkenntnisse musste ich bei der Überarbeitung kaum korrigieren.

War das Büchlein damals »all jenen Frauen gewidmet …« – so stimmt das heute nicht mehr. Der Kreis der Lesenden hat sich erweitert. Gerne widme ich es auch jenen Männern, die mit mir biblische Texte gelesen haben als Studenten, Kursteilnehmer, Interessierte oder Kollegen. Ich kann heute auch nicht mehr einfach von »Frauenerfahrungen« reden, ohne nachzuprüfen, ob der Ausdruck genau das bezeichnet, was ich meine. Die LGBTIQ*-Bewegung ist mir näher gekommen und ich habe von nonbinären Personen und Trans*menschen viel gelernt. Während des Überarbeitens vergegenwärtige ich mir auch verstärkt die Stimmen postkolonialer TheologInnen. Intersektionalität1, d.h. die Tatsache, dass sich mehrere Unterdrückungsmechanismen treffen und verstärken können, erscheint mir heute zentraler, als ich es damals sehen konnte. Meine Sichtweise ist also bunter geworden und das darf sich auch sprachlich abbilden.

Nach der Erstveröffentlichung des Buches wurde mein exegetischer Blick durch die Mitarbeit am großen Übersetzungsprojekt der Bibel, der »Bibel in gerechter Sprache« geschärft.2 Die »BigS« ist noch immer die einzige deutschsprachige Übersetzung, die sorgfältig antijudaismuskritisch und feministisch mit den Texten umgeht. Ich habe alle Übersetzungen in diesem Buch geprüft, teilweise ausgetauscht. Weil aber jede Übersetzung ihre Grenzen hat, benutze ich gern verschiedene neben einander. Manchmal lässt sich schon allein durch Übersetzungsvergleiche erkennen, wo sich Schwachstellen und theologische Interessen verbergen.

Meine Forschungen zum Hunger und zu den Dämonen im Neuen Testament, die zu meinen beiden letzten Buchveröffentlichungen geführt haben,3 haben meine befreiungstheologische Option für die Armen verstärkt. Ich kann die Evangelien oder die Offenbarung des Johannes nicht mehr lesen, ohne die von Krieg und Gewalt traumatisierte Bevölkerung dieser Zeit wahrzunehmen. Gleichzeitig sehe ich beim Lesen biblischer Texte die kriegsversehrten Städte von heute und Vertriebene aus vielen Ländern vor mir. Bei der Überarbeitung habe ich die ursprüngliche Argumentation beibehalten, mich aber nicht gescheut, teilweise auch stärker in den Text einzugreifen, damit er auf dem gegenwärtigen Reflexionsstand ist und in der heutigen Zeit funktioniert.

Auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene hat sich viel verändert. Neue Krisen sind zu den damaligen hinzugekommen. Sie greifen in unseren Alltag ein, ob wir politisch bewusst leben oder nicht. Hitzewellen und Dürreperioden machen uns zu schaffen und wir müssen erkennen, dass sie wie Überflutungen und Stürme nicht Vorboten des Klimawandels, sondern bereits Teil einer neuen Realität sind. Zu dieser neuen Realität gehört auch das Erschrecken über den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Ich habe gemerkt, wie wenig ich über die Geschichte der Ukraine weiß und lese seither viel und gerne ukrainische Literatur4. Mein Horizont erweitert sich dadurch und ich finde es höchste Zeit, dass wir den Menschen in Osteuropa zuhören. Es gibt Zeiten, in denen es schwierig ist, das Richtige zu tun – und gefährlich, nichts zu tun.

Auch wenn sich der politische Hintergrund der biblischen Texte und der Lesenden heute historisch gesehen fundamental unterscheidet, können wir von den biblischen Geschichten lernen. Dafür müssen wir sie aber sehr genau in ihrem historischen Entstehungskontext und in unseren gegenwärtigen Krisen lesen. Nur wenn wir auf beiden Augen aufmerksam bleiben, entdecken wir Verbindungslinien und die überraschende Stärke dieser Geschichten. Ich bin überzeugt, dass uns biblische Texte Kraft und Sprache geben können, um realistisch in die Welt zu blicken und doch den Mut nicht zu verlieren. Gerade die apokalyptischen Texte blenden Zerstörungsmächte nicht aus, sondern suchen nach Worten und Bildern, sie aus ihrem Versteck zu hieven. Sie erzählen, um Widerstandskraft zu wecken. Ich liebe den Realismus dieser Texte. Sie machen mir immer wieder Mut, auch unangenehmen und schmerzlichen Tatsachen ins Auge zu blicken.

Die Johannesoffenbarung spricht nicht von »schmerzlichen Tatsachen«, sondern z.B. vom mehrköpfigen Drachen (Offb 12,3). Diesen sollten wir nicht als Fabelwesen verharmlosen oder belächeln. Er ist eine mythologische Machtfigur. Die Rede von ihm erschreckt zu Recht. Denn sie holt etwas Bedrohliches an die Oberfläche, macht auf eine Machtansammlung aufmerksam, die verborgen bleiben möchte. In der Erstausgabe dieses Buches kam der Drache nicht vor. Diese Figur interessierte mich extra nicht. Ich schaute eher trotzig von ihr weg, hatte sie doch die Aufmerksamkeit vieler Interpreten auf sicher. Diesen Trotz habe ich mittlerweile abgelegt. Ich glaube, es war damals richtig, die Opfer des Drachen und nicht den Drachen selbst in den Blick zu holen. Aber der Drache ist eine zentrale Machtfigur, weshalb er genau in der numerischen Mitte der Johannesoffenbarung wütet. Mit Ignorieren kommt man dieser Figur nicht bei. Drachen lassen sich nicht wegblinzeln, aber auch nicht »überwinden«. Das ist der Fehler von Erzengel Michael und Ritter Georg, die meinen, den Drachen mit einem Schwertstreich besiegen zu können.5 Doch Drachen lassen sich weder vertreiben (Offb 12,9) noch wegsperren (Offb 20,3). In diesem Sinne müssen wir den Kampf mit dem gierigen Zerstörungsdrachen aufnehmen und den Opfern beistehen. Wir müssen uns verbünden, um gegen ihn eine Chance zu haben.

Darum findet sich nun auf dem Umschlag der Neuausgabe ein – zugegebenermaßen kleiner – Drache. Er stammt von der Künstlerin Niki de Saint Phalle. Wenn der Drache das Abgelegte einer Kultur bedeutet, das Überwundene, dann hat sie den Finger auf die Wunde gelegt.6 Niki de Saint Phalle (1930-2002) gelang es, ihre inneren Monster und Drachen zu veräußerlichen, sie zu gestalten und manchmal auch zu zähmen. Im belgischen Knokke und in Jerusalem hat sie einen bunten Drachen für einen Spielplatz geschaffen, der von Kindern bestiegen, beklettert und berutscht werden kann. Bis sie diese Gestaltungsfreiheit erlangte, musste sie viele Transformationen durchleben – von der Tochter einer katholischen, französischen, adligen Familie bis zur US-amerikanischen, feministischen Künstlerin. Sie musste sich aus dem traumatischen Schatten ihrer Familie herausschälen. Bekannt wurde sie mit ihren »Schießbildern«. Mit einer Flinte schoss sie auf mit Gips gestaltete Reliefs, hinter denen sie Farbbeutel angebracht hatte. Diese ergossen sich dann über das Bild in Rinnsalen oder Spritzexplosionen. Die Bilder sollten bluten, weinen, fließen. Die Spuren der Verletzung sollten sichtbar werden. Ihre später entstandenen, farbenfrohen Nanas repräsentieren aus der Form geratene Frauen, die ausgelassen, übermütig, großzügig und frei erscheinen und wie ihre riesigen Figuren im Tarot-Garten bei Capalbio in der Süd-Toskana nicht so harmlos sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Sie können auch monströs sein, übergriffig, »gefährlich harmlos«. Ihre Figuren laden zur Auseinandersetzung ein. Wer sich auf sie einlässt, ins Innere dieser Figuren geht, beginnt neu zu sehen und sich zu bewegen.

Besonders gefällt mir, wie die Künstlerin aus Scherben eine neue Welt zusammensetzte. Dafür benutzte sie die Handwerkskunst namens Trencadís7 (katalanisch für »das Zerbrechen«). Diese Technik arbeitet mit zerbrochenem Glas, Marmor oder Keramik. Trencadís versucht nicht, die Scherben zusammenzuflicken. Vielmehr werden sie so zusammengefügt, wie sie noch nie waren. Das Zerbrochene wird Grundlage für etwas Neues, nicht wieder für das, was es war, wenn es nicht in Stücke gefallen wäre. Ihre Arbeit mit zerbrochenem Material sehe ich im Kontext ihrer Biografie und ihrer feministischen Gesellschaftskritik. Sie musste sich von Vorbildern und belastenden Erinnerungen verabschieden. Sie lernte, mit Scherben zu leben. Es gelang ihr, ihre persönlichen Traumata mit genderspezifischer Unterdrückung und Gewalt in Familie und Gesellschaft zu verbinden. Auf ihre Weise sagte sie der patriarchalen »Welt« das Ende an und ließ Figuren auferstehen, die bewohnbar sind, Geheimnisse haben, vor Schönheit strahlen, die schräg und nie unversehrt sind, aber kraftvoll Wind und Wetter trotzen oder mit der Natur zu verschmelzen scheinen.

Der grüne, quietschvergnügte Drache von Niki de Saint Phalle tanzt durch eine zerbrochene und neu zusammengefügte Welt. Die Künstlerin hat ihn aus seinen Schlupflöchern gezerrt und während der Bearbeitung befreit. Sie ist überzeugt, dass Drachen und Monster unsere Sprache und Seelenwelt bereichern, dass sie Figuren sind, die uns helfen, mit unseren Ängsten umzugehen. Denn nichts ist gefährlicher als die Halbschattenwelt, das Darknet, die Wölfe im Schafspelz, die besorgte BürgerInnen und volksnahe PolitikerInnen mimen, aber nur darauf warten,...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte 2023 • Angst überwinden • Apokalypse • Befreiungstheologie • Bibel • Bibel in gerechter Sprache • Bibel und Alltag • bibel und die kleinen leute • Das Buch Daniel • Die Bibel • eBooks • Hoffnung finden • Judentum • Neuerscheinung • Neues Zeitalter • Offenbarung des Johannes • Predigthilfen • Theologie der Hoffnung
ISBN-10 3-641-30765-1 / 3641307651
ISBN-13 978-3-641-30765-3 / 9783641307653
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