Lessings exoterische Verteidigung der Orthodoxie (eBook)
351 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-079313-0 (ISBN)
In his early years in Wolfenbüttel, Lessing published a series of writings about philosophy and religion directed against Enlightenment theology. The Enlightenment thinker took the side of dogmatic theology to attack Socinians, Neologists, and Deists. Lessing's position in these texts remains one of the most controversial issues in Lessing research to this day: why was the well-known freethinker a bitter enemy of rational Christianity?
Lessing's opinion pieces written in favour of orthodoxy have been viewed as indecisive, tactical, and hypocritical. By reconstructing the Aristotelian tradition of the twofold philosophical manner of teaching, this study shows that Lessing, even in his theological writings, made use of both an exoteric and an esoteric art of writing, with the result that the key to understanding Lessing's orthodoxy can be found in his vindications of Leibniz.
Lessing's defence of orthodoxy thus proves to be merely exoteric. The Enlightenment thinker defended dogmatic Lutheranism because the rationalization of Christianity compromised philosophy's autonomy from theology. Only a strict separation between faith and reason, he believed, would guarantee the libertatem philosophandi.
Eleonora Travanti, Philipps-Universität Marburg.
1 Einleitung
Beruhige dich im Grabe, alter Moses; dein Lessing war zwar auf dem Wege zu diesem entsetzlichen Irthum, zu diesem jammervollen Unglück, nämlich zum Spinozismus — aber der Allerhöchste, der Vater im Himmel, hat ihn noch zur rechten Zeit durch den Tod gerettet. Beruhige dich, dein Lessing war kein Spinozist, wie die Verleumdung behauptete; er starb als guter Deist, wie du und Nicolai und Teller und die allgemeine deutsche Bibliothek!1
Heinrich Heine
1.1 Lessing, ein außergewöhnlicher Philosoph der deutschen Aufklärung
Gotthold Ephraim Lessing gehört bis heute zu den einflussreichsten Denkern der deutschen Aufklärung. Im neunzehnten Jahrhundert wurde er von einigen Forschenden gar als „der bedeutendste Philosoph Deutschlands“ oder „der einzig schöpferische Kopf in der deutschen Philosophie“ zwischen Leibniz und Kant bezeichnet.2 Das Zeitalter der deutschen Aufklärung erstreckt sich von 1687 bis 1790 und kann in eine Früh- und eine Spätphase unterteilt werden: 1687 ist das Jahr, in dem Christian Thomasius (1655–1728) eine Vorlesung in deutscher Sprache über Balthasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugheit an der Universität Leipzig ankündigte und damit die Frühphase der Aufklärung in Deutschland einläutete;3 1790, rund 100 Jahre später, veröffentlichte Immanuel Kant (1724—1804) sein drittes Hauptwerk, die Kritik der Urteilskraft.4 Diesen und weiteren epochemachenden Denkern der Aufklärungsperiode wie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716), Christian Wolff (1679—1754), Hermann Samuel Reimarus (1694—1768) oder Moses Mendelssohn (1729—1786) kann auch der 1729 geborene Gotthold Ephraim Lessing berechtigterweise zugeordnet werden.5
Der breit aufgestellte und vielseitig interessierte Schriftsteller Lessing hat zahlreiche bedeutsame Aufklärungsdebatten maßgeblich mitgestaltet: Nicht nur in den literarischen, ästhetischen und kritischen Teilgebieten stammen einige bahnbrechende Beiträge aus seiner Feder, auch an den wichtigsten philosophischen, theologischen und politischen Kontroversen der Aufklärungszeit war Lessing entscheidend beteiligt. Zur Entwicklung der philosophischen Disziplin der Ästhetik trug Lessing 1766 mit seinem Meisterwerk Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie wesentlich bei; auch das deutschsprachige bürgerliche Trauerspiel konnte er durch die Dramen Miss Sara Sampson und Emilia Galotti substanziell bereichern. An den literarisch-kritischen Polemiken seiner Zeit nahm der noch junge Lessing mit seinen scharfsinnigen Briefen, die neueste Literatur betreffend teil, ebenso an der geistesgeschichtlichen Querelle des Anciens et des Modernes mit seinen Briefen, antiquarischen Inhalts. Die bedeutendste und heftigste theologische Kontroverse der Epoche der Aufklärung entfachte Lessing mit der Herausgabe der Fragmente eines Ungenannten in den Jahren 1774 bis 1778, seine religionsphilosophische Spätschrift Erziehung des Menschengeschlechts gilt wiederum als Paradebeispiel für den Humanismus Lessings.
Zu einem Hauptwerk der Aufklärung ist Lessings letztes philosophisches Drama Nathan der Weise geworden: mit seiner Ringparabel, der humanen Frömmigkeit und einer interreligiösen Toleranzidee. Mit den Zeitfragen zu den im Zuge der im achtzehnten Jahrhundert aufblühenden interkonfessionellen Bruderschaften und Geheimgesellschaften beschäftigte sich der Schriftsteller in seinem zunächst anonym publizierten Werk Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer, das sich mit Wesen und Idee der Freimaurerei auseinandersetzt; gegen die Verfolgung moderner Freidenker und Ketzer verfasste der deutsche Aufklärer im Laufe seines Lebens wiederum mehrere Rettungen: vom jungen Lessing stammen die Rettung des Hieronymus Cardanus, die Rettung des Cochläus, aber nur in einer Kleinigkeit und die Rettung des Lemnius in acht Briefen. In der sogenannten Wolfenbütteler Zeit publizierte Lessing noch einige späte Verteidigungen einzelner Protagonisten der deutschen Frühaufklärung, genauer die zwei Beiträge zur Erläuterung und Rechtfertigung theologischer Stellungnahmen von Leibniz (Leibniz von den ewigen Strafen und Des Andreas Wissowatius Einwürfe gegen die Dreieinigkeit), die unerwartete Verteidigung des Antitrinitariers Adam Neuser Von Adam Neusern, einige authentische Nachrichten und das apologetische Fragment Von Duldung der Deisten. Die von Jacobi posthum publizierten Gespräche Lessings über die Lehre Spinozas könnten sogar als die erste implizite Apologie Spinozas und dessen richtungsweisender Gedanken betrachtet werden.
Bereits dieser kurze Überblick über das literarische und philosophische Schaffen Lessings macht deutlich, dass der Dichter einer der wichtigsten Vertreter der Aufklärung in Deutschland war: In die programmatischsten öffentlichen Debatten seiner Zeit war Lessing maßgeblich involviert und hinterließ der Nachwelt einige der wichtigsten und originellsten Werke der deutschen Aufklärung. Und dennoch: Der Aufklärer hat in den ersten Jahren als Bibliothekar in Wolfenbüttel eine Reihe von theologischen Schriften publiziert, die sich gegen die Aufklärungstheologie richten. In fünf zwischen 1770 und 1774 veröffentlichten theologischen Beiträgen verteidigt Lessing die orthodoxe lutherische Religion gegen die vielfältigen häretischen Strömungen des neuzeitlichen Antitrinitarismus. Die Frage nach Lessings Verhältnis zu den bedeutendsten Aufklärungstheologen seiner Epoche, von den Neologen bis zu den Deisten, ist bis heute eine der umstrittensten der Lessing-Forschung.
In der Ankündigung seiner in der Wolfenbütteler Bibliothek gemachten Entdeckung eines verlorenen Fragments des Berengar von Tours über das Sakrament des Abendmahls rechtfertigt der kurz zuvor in Amt gesetzte Bibliothekar Lessing die eucharistische Lehre Berengars, die der Eucharistie nur eine symbolisch-spiritualistische Bedeutung zuschreibt, gegen die überlieferte Lehre der römisch-katholischen Kirche. In seinem Beitrag Leibniz von den ewigen Strafen nimmt Lessing für Leibniz gegen die Lehre von der Endlichkeit der Höllenstrafen Stellung. Die briefliche Auseinandersetzung zwischen dem polnischen Sozinianer und Leibniz publiziert er wiederum als Herausgeber des Beitrags Des Andreas Wissowatius Einwürfe gegen die Dreieinigkeit, um die von dem deutschen Philosophen verteidigte Trinitätslehre zu rechtfertigen. In der späten Verteidigung des abtrünnigen Unitariers Adam Neuser wirft Lessing der ersten Generation von Antitrinitariern Intoleranz gegenüber den anderen häretischen Bewegungen vor. In dem ersten von ihm herausgegebenen Fragment eines Ungenannten, das der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes des Hermann Samuel Reimarus entnommen wurde, distanziert sich Lessing von der natürlichen Religion des deutschen Deisten und wendet sich gleichzeitig gegen das angeblich vernünftige Christentum, für das die aufgeklärten Theologen seiner Zeit plädieren.
In den erwähnten fünf theologischen Beiträgen richtet Lessing seine Angriffe gegen alle religiösen Strömungen der deutschen Aufklärungstheologie, zudem attackiert er mit dem von ihm ausgelösten Fragmentenstreit auch die orthodoxe lutherische Theologie seiner Epoche. Die in den ersten Wolfenbütteler Jahren Lessings erschienenen Stellungnahmen zur fortschrittlichen, aufgeklärten und vernünftigen Religion der Sozinianer, Deisten und Neologen waren für seine Zeitgenossen nicht nur unerwartet, sondern auch völlig unverständlich; es hieß, Lessing habe die orthodoxe Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen und der Trinität verteidigt, einen ketzerischen Landesverräter von seinen Anklagen freigesprochen und einige christenfeindliche Fragmente veröffentlichen lassen.
Die von 1770 bis 1774 publizierten theologischen Schriften Lessings könnten als späte religiöse Rettungen von heterodoxen Freigeistern im Namen der Gedankenfreiheit begriffen werden, eine solche Interpretation würde aber weder die Verteidigung des orthodoxen Luthertums noch den explizit scharfen Angriff gegen die vernünftige und die natürliche Religion erklären. Lessings widersprüchliches Verhältnis zu den zeitgenössischen Aufklärungstheologen bleibt ein Rätsel, er ist der einzige Aufklärer, der sich der Orthodoxie gegen die Aufklärungstheologie bedient. Und so stellt sich die Frage, welche Auffassung von Aufklärung Lessing im Bereich der Religion hatte. Dass er ein außergewöhnlicher Philosoph war, steht außer Frage, doch war er ein Vertreter der „Radikalaufklärung“ oder ein Verfechter einer „religiösen Aufklärung“?6 Oder war er vielmehr ein Aufklärer sui generis, der die Orthodoxie verteidigte, um die Autonomie der Philosophie vor der Theologie zu schützen?
1.2 Lessings theologische Schriften in den ersten Wolfenbütteler Jahren
In seiner Wolfenbütteler Zeit veröffentlichte Lessing diverse religionsphilosophische Werke, die unmittelbar ein positives Echo erfuhren und in kürzester Zeit sehr bekannt wurden. Sein Drama Nathan der Weise, die Erziehung des Menschengeschlechts und die Schriften des Fragmentenstreits wurden schon damals zu Recht in die Geschichte der deutschen Philosophie...
Erscheint lt. Verlag | 3.4.2023 |
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Reihe/Serie | Frühe Neuzeit |
Frühe Neuzeit | |
ISSN | ISSN |
Zusatzinfo | 29 col. ill., 7 b/w tbl. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik | |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | art of writing • Leibniz reception • Leibniz-Rezeption • schreibart • Socinianism • Sozianismus • Spinozism • Spinozismus |
ISBN-10 | 3-11-079313-X / 311079313X |
ISBN-13 | 978-3-11-079313-0 / 9783110793130 |
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