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Magie und Liminalität (eBook)

›seiðr‹ in der altnordischen Überlieferung
eBook Download: EPUB
2020
381 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-067882-6 (ISBN)
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I Einführung


1 Vorbemerkungen


Zu Beginn der Ynglinga saga, welche den Auftakt seiner um das Jahr 1230 verfassten Heimskringla bildet, vermittelt Snorri Sturlusons Beschreibung des seiðr einen Eindruck davon, wie man sich die Charakteristika dieser Magieform im Island des 13. Jahrhunderts vorstellte:1

Óðinn kunni þá íþrótt, svá at mestr máttr fylgði, ok framði sjálfr, er seiðr heitir, en af því mátti hann vita ørlǫg manna ok óorðna hluti, svá ok at gera mǫnnum bana eða óhamingju eða vanheilendi, svá ok at taka frá mǫnnum vit eða afl ok gefa ǫðrum. En þessi fjǫlkynngi, er framið er, fylgir svá mikil ergi, at eigi þótti karlmǫnnum skammlaust við at fara, ok var gyðjunum kennd sú íþrótt.2

Óðinn beherrschte die Kunst, welcher die meiste Macht folgte, und übte sie selbst aus, die seiðr heißt, und durch sie konnte er das Schicksal der Menschen und ungeschehene Dinge in Erfahrung bringen, ebenso den Menschen Tod oder Unglück oder Krankheit zuteilwerden lassen, und den Menschen Verstand oder Körperkraft nehmen und sie anderen geben. Aber dieser Zauberkunst folgt, wenn sie ausgeübt wird, so viel ergi, dass es den Männern nicht schien, dass sie sie ohne Schande über sich zu bringen betreiben konnten, und so wurden die Priesterinnen3 in dieser Kunst unterwiesen.4

Demzufolge kann seiðr also sowohl zur Divination als auch als Schadenszauber eingesetzt werden und wer sich seiner bedient, dem verhilft er zu enormem Machtzuwachs. Doch alles hat seinen Preis: Laut Snorri ist die Ausübung des seiðr mit so viel ergi verbunden, dass es als unpassend und sogar schändlich erachtet wird, wenn Männer sich dieser Magieform widmen – eine Stigmatisierung, vor der offenbar nicht einmal der Götterfürst Óðinn gefeit ist. Dabei hat der Begriff ergi, welcher hier so eng mit der Praxis des seiðr assoziiert wird, es wahrlich in sich: Im Altnordischen gibt es kaum einen anderen Vorwurf, der ähnlich dazu geeignet wäre, die Ehre eines Mannes anzugreifen und seine Männlichkeit in Frage zu stellen.5 Vorläufig kann ergi als ‚Unmännlichkeit‘ definiert werden, wenngleich der Bedeutungsgehalt dieses komplexen Phänomens noch weiter greift und zu einem späteren Zeitpunkt der vorliegenden Untersuchung detailliert betrachtet werden soll.6 Anhand von Snorris berühmter Beschreibung des seiðr wird in jedem Fall deutlich, dass die Ausübung dieser Magieform mit einem eklatanten Verstoß gegen die in der altnordischen Gesellschaft7 vorherrschenden Geschlechternormen konnotiert wurde. Der seiðr beinhaltet also ein Element der Grenzüberschreitung, welches wiederum charakteristisch für diese Zauberkunst gewesen sein muss, da dies für keine andere der zahlreichen magischen Praktiken, welche in der altnordischen Überlieferung erwähnt werden, zu verzeichnen ist. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sich das Transgressionspotential des seiðr nicht nur auf geschlechtliche Konventionen erstreckt, sondern vielmehr als integraler Bestandteil auch anhand anderer Aspekte dieser Magieform sichtbar werden und sich zudem innerhalb der Darstellung seiðr-Praktizierender in den altnordischen Quellen manifestieren dürfte. Diesen Thesen nachzugehen und dadurch neue Perspektiven auf den seiðr und nicht zuletzt seine Konnotation mit ergi eröffnen zu können, ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung.

2 Methode und Aufbau der Arbeit


Um den grenzüberschreitenden Charakter des seiðr näher zu ergründen, soll das durch die Ritualtheorien Arnold van Genneps und Victor Turners begründete Konzept der Liminalität (von lat. limen ‚Schwelle‘, ‚Türschwelle‘)8 für die altnordischen Belege zu seiðr und seinen Praktizierenden fruchtbar gemacht werden. Dabei wird nach einem einführenden Überblick über das Wirkungsspektrum des seiðr sowie die wichtigsten Merkmale seiner menschlichen und göttlichen Praktizierenden zunächst untersucht, welches Weltbild der Überlieferung des mittelalterlichen Islands zugrundeliegt. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Konzeption von (mythischen) Räumen und ihrer Abgrenzung voneinander, um bereits an dieser Stelle Hinweisen darauf nachzugehen, inwiefern die Ausübung des seiðr mit der Überschreitung eines limen assoziiert wurde. Danach soll die Analyse liminaler Charakteristika innerhalb der Darstellung menschlicher seiðr-Praktizierender Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit diese Figuren in der altnordischen Literatur als Grenzgänger und Schwellenwesen präsentiert werden. Der nächste Abschnitt widmet sich der gedanklichen Verknüpfung des seiðr mit den biographischen Schwellenerfahrungen Geburt, Adoleszenz und Tod, wobei nicht nur entsprechende Episoden der altnordischen Literatur, sondern auch Berührungspunkte der göttlichen seiðr-Meister Óðinn und Freyja mit den jeweiligen Themengebieten eingehend besprochen werden. Im Anschluss werden die überaus bedeutsamen Verbindungslinien zwischen seiðr sowie seinen Praktizierenden und dem zur liminalen Phase gehörigen Phänomen der Ortsunfestigkeit erörtert, ehe die Arbeit mit einer detaillierten Analyse der Konnotation von seiðr mit ergi schließt. Die Betrachtung von ergi als Erscheinungsform geschlechtlicher Liminalität soll zudem der Beschäftigung mit diesem Themenkomplex neue Impulse geben.

3 Quellen


Da die altnordischen Quellen leider so gut wie keine Beschreibungen der mit seiðr verbundenen rituellen Praktiken enthalten, welche Auskunft bezüglich eventuell darin vorkommender Normverstöße geben könnten, ist eine nähere Untersuchung der grenzüberschreitenden Charakteristika dieser Magieform nur mit Hilfe eines breiten Quellenkorpus möglich. Dabei gilt es, die in der altnordischen Literatur weit verstreuten Belege zu seiðr mit Material aus der gemeingermanischen Überlieferung in Bezug zu setzen.

Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Primärliteratur umfasst in erster Linie die eddische Dichtung sowie Isländer- und Königssagas, da diese Zeugnisse die meisten Nennungen des seiðr und seiner Praktizierenden beinhalten. Es werden jedoch auch skaldische Verse, Meldungen der Snorra Edda sowie Belegstellen aus Vorzeitsagas berücksichtigt. Die Grundlage für die getroffene Textauswahl bildet die von Dag Strömbäck im Rahmen seiner Dissertation Sejd. Textstudier i nordisk religionshistoria9 (1935) vorgelegte Materialsammlung. Um das Phänomen seiðr in einem größeren Gesamtkontext betrachten zu können, stellen zudem die um das Jahr 1200 in lateinischer Sprache verfassten Gesta Danorum des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus eine wertvolle Quelle dar, welche aus einer christlichen Perspektive Mythen als Vorgeschichte präsentieren und so eine Vielzahl altnordischer Sagen bewahren, von denen wir ansonsten keine Kenntnis hätten. Auch ausländische Werke, wie insbesondere die um das Jahr 98 nach Christus verfasste Germania des römischen Historikers Tacitus oder die Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum des um 1080 verstorbenen deutschen Kirchenhistorikers Adam von Bremen, beinhalten durch ihre Schilderung vorchristlicher Gebräuche interessante Aspekte in Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit, weswegen einige ihrer Mitteilungen für die Analyse mit herangezogen werden.

Anhand von Quellen, welche in mittelalterlichen Handschriften – Generationen nach der Christianisierung – schriftlich fixiert wurden, Aussagen über eine so spezifische Erscheinungsform der altnordischen Magie wie den seiðr, die untrennbar mit paganen Traditionen verbunden ist, treffen zu wollen, wird immer ein schwieriges, jedoch nicht hoffnungsloses Unterfangen bleiben. Denn die Tatsache, dass ein Text aus christlicher Zeit stammt, muss nicht gleichzeitig bedeuten, dass er kein heidnisches Material behandeln kann. Obgleich sicherlich ein christlicher Standpunkt die Niederschrift der entsprechenden Zeugnisse beeinflusste, waren insbesondere auf Island, wo die altnordische Überlieferung fast ausschließlich aufgezeichnet wurde, die Bedingungen für eine Bewahrung paganer Traditionen günstig, denn die relativ späte und weitgehend friedliche Annahme des Christentums per Beschluss auf dem Althing wurde nicht von größeren Veränderungen im sozialen Gefüge begleitet.10 Die gesellschaftliche Elite Islands, welche schon in der heidnischen Ära über die politische und ökonomische Macht verfügte und auch den Kulten vorstand, blieb vielmehr auch nach dem Religionswechel tonangebend: Angehörige der mächtigsten Familien besetzten die zentralen Positionen der Kirche und hatten die Bistümer im südlichen Skálholt (seit 1056) und in Hólar im Norden (seit 1106) inne, wobei die Bischöfe auf dem Althing gewählt und erst anschließend geweiht wurden.11 Auch die Prioren in Islands frühesten Klöstern rekrutierten sich aus den mächtigsten Geschlechtern. Dieser Personenkreis besaß ein...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Reihe/Serie Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
ISSN
ISSN
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Grenzüberschreitung • middle age • Mittelalter • Scandinavia • Skandinavien • Textual tradition • Textüberlieferung • the crossing of thresholds
ISBN-10 3-11-067882-9 / 3110678829
ISBN-13 978-3-11-067882-6 / 9783110678826
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