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Ich will die Chronistin dieser Zeit werden -  Etty Hillesum

Ich will die Chronistin dieser Zeit werden (eBook)

Sämtliche Tagebücher und Briefe
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
1022 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79732-3 (ISBN)
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Die Tagebücher der jungen Niederländerin Etty Hillesum sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein bewegendes Dokument des Holocaust und viel mehr als das: Sie wurden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gerühmt. Vor allem sind sie aber auch eines: große Literatur. Mit dieser Ausgabe liegen erstmals in deutscher Sprache Etty Hillesums sämtliche Schriften vor. Zehn Monate nach Beginn der deutschen Besatzung der Niederlande begann die siebenundzwanzigjährige Etty Hillesum (1914 - 1943) unter dem Eindruck einer Psychotherapie, ein Tagebuch zu schreiben. Sie wollte Ordnung in ihr Leben bringen, den Dingen auf den Grund gehen, Gott finden, aber auch Zeugin des Schicksals ihres Volkes werden. Inmitten des Schreckens berichtet sie von der Suche nach Einfachheit und Achtsamkeit und schließlich nach Licht in der «Hölle auf Erden». Die erlebte sie seit dem Sommer 1942 im Durchgangslager Westerbork, wo sie für den Amsterdamer «Judenrat» in der «Sozialen Versorgung derDurchreisenden» arbeitete. Ihre Briefe aus dieser Zeit beschreiben den täglichen Horror. Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum selbst nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ist dort umgekommen. - Nach der Publikation von Auszügen aus den Tagebüchern 1981 war eine zuverlässige Neuübersetzung des Gesamtwerks überfällig. Die Ausgabe lässt uns eine Schriftstellerin und Denkerin neu entdecken, die zu Recht mit Anne Frank, Simone Weil und Edith Stein verglichen wird.

Etty Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg geboren. Sie studierte Jura und begann ein Slawistik-Studium, das sie während der deutschen Besatzung abbrechen musste. Ab Juli 1942 arbeitete sie für den "Judenrat" im Durchgangslager Westerbork, um das Leiden der von dort aus Deportierten zu lindern, und weigerte sich unterzutauchen. Am 7. September 1943 musste sie mit ihren Eltern und einem ihrer Brüder den Zug nach Auschwitz-Birkenau besteigen. Das Rote Kreuz verzeichnete den 30. November 1943 als ihr Todesdatum. <br> <br>Klaas A. D. Smelik, Professor em. für alttestamentliche Wissenschaft und Judaistik, ist Gründungsdirektor des Etty-Hillesum-Forschungszentrums zuerst in Gent, dann in Middelburg. <br> <br>Pierre Bühler, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Zürich, befasst sich seit Längerem mit Etty Hillesums Leben und Werk.

EINLEITUNG


 Von Klaas A. D. Smelik

Esther (Etty) Hillesum wurde am 15. Januar 1914 im Haus ihrer Eltern, am Molenwater 77 in Middelburg, geboren. Ihr Vater Levie (Louis) Hillesum war dort seit 1911 als Lehrer für klassische Sprachen tätig. Am 7. Dezember 1912 hatte er in Amsterdam ihre Mutter Riva (Rebecca) Bernstein geheiratet, die sich daraufhin auch in Middelburg niederließ. Etty Hillesums Vater wurde am 25. Mai 1880 in Amsterdam geboren. Er war das jüngste der vier Kinder des Kaufmanns Jacob Samuel Hillesum und seiner Ehefrau Esther Hillesum-Loeza. Etty Hillesum ist also nach ihrer Großmutter väterlicherseits benannt.[1] Die Familie wohnte damals in der Sint Antoniesbreestraat[2] 31.

Louis Hillesum studierte nach dem Gymnasialabschluss alte Sprachen an der Universität von Amsterdam. 1902 legte er seine Zwischenprüfung und 1905 sein Examen ab (beide cum laude).[3] Am 10. Juli 1908 wurde er mit der Doktorarbeit De imperfecti et aoristi usu Thucydideo promoviert (ebenfalls cum laude). «Middelburg» war seine erste Anstellung als Lehrer. Im Jahr 1914 wurde er Lehrer für klassische Sprachen am Hilversumer Gymnasium, aber durch Gehörlosigkeit auf einem Ohr und aufgrund mangelhaften Sehvermögens bekam er Disziplinschwierigkeiten mit den großen Klassen dort. Darum wechselte er 1916 an das kleinere Gymnasium in Tiel. 1918 wurde er Lehrer für klassische Sprachen und stellvertretender Direktor in Winschoten. Im Jahr 1924 wurde er in denselben Funktionen am Gymnasium in Deventer angestellt, an dem er am 1. Februar 1928 Rektor wurde. Diese Position hatte er inne, bis er am 29. November 1940 auf Geheiß der Besatzungsbehörde dieses Amtes enthoben wurde.

Louis Hillesum wird als kleiner, stiller und zurückgezogener Mann beschrieben, ein stoischer Stubengelehrter voller Humor und Gelehrsamkeit. In niedrigeren Klassen hatte er aufgrund seiner körperlichen Gebrechen anfänglich Disziplinschwierigkeiten gehabt. Als Reaktion darauf eignete er sich als Lehrer ein sehr strenges Auftreten an. In den höheren Klassen konnte er seine Talente als Lehrer besser entfalten. Obwohl er in seiner Studienzeit den Grad eines Maggid (jüdischer Religionslehrer) erhalten hatte, war Louis Hillesum stark an die Mehrheitsgesellschaft assimiliert: Er arbeitete beispielsweise samstags. In Deventer gehörte er zu den Honoratioren der Stadt, und im Durchgangslager Westerbork erhielt er seine Kontakte und sein kulturelles Interesse aufrecht.

Louis Hillesums Frau Riva wurde am 23. Juni 1881 in Potschep (Russland) als Tochter von Michael Bernstein und Hinde Lipowsky geboren. Nach einem Pogrom kam sie als Erste ihrer Familie am 18. Februar 1907 aus Surasch (Gouvernement Tschernigow) nach Amsterdam. Sie zog bei Familie Montagnu in der Tweede Jan Steenstraat 21 ein. Als Beruf gab sie an: Russischlehrerin. Am 29. Mai 1907 folgte ihr jüngerer Bruder Jacob, der Diamantschleifer war und ebenfalls bei Familie Montagnu einzog. Am 10. Juni kamen schließlich ihre Eltern aus Surasch in Amsterdam an. Sie ließen sich im zweiten Stock des Gebäudes an der Tweede Jan Steenstraat nieder. Jacob heiratete am 9. Januar 1913 Marie Mirkin, die am 5. Mai 1913 aus Warschau nach Amsterdam kam. Ihre Tochter Rahel Sarra wurde am 19. Oktober dieses Jahres geboren. Kurz danach emigrierte die ganze Familie heimlich in die Vereinigten Staaten; nur Riva blieb bei ihrem Mann Louis Hillesum in den Niederlanden.

Riva Hillesum-Bernstein wird als lebhaft, chaotisch, extrovertiert und dominant charakterisiert. Etty Hillesum hatte anfänglich ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, aber im Durchgangslager Westerbork scheint sich ihre Beziehung verbessert zu haben. Neben der 1914 geborenen Etty bekam Riva Hillesum noch zwei weitere Kinder: Jacob (Jaap), geboren in Hilversum am 27. Januar 1916 und benannt nach Louis’ Vater, und Michael (Mischa), geboren in Winschoten am 22. September 1920 und benannt nach Rivas Vater.

Jaap Hillesum schloss das Gymnasium 1933 ab. Er studierte Medizin, zunächst an der Universität von Amsterdam und danach in Leiden. Er war intelligent, schrieb Gedichte und war für Frauen attraktiv. Psychisch war er labil; er wurde mehrfach in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Während des Kriegs arbeitete er als medizinischer Praktikant im Niederländisch-Israelitischen Krankenhaus in Amsterdam.

Mischa Hillesum wurde am 22. September 1920 in Winschoten geboren. Schon als Kind legte er eine besondere musikalische Begabung an den Tag. 1931 zog er nach Amsterdam um, wo er drei Klassen am Vossius-Gymnasium absolvierte und sich ansonsten dem Klavierstudium widmete. Sein Dozent war George van Renesse. Etwa 1939 wurde er in die jüdische psychiatrische Einrichtung Het Apeldoornsche Bosch aufgenommen und wegen Schizophrenie behandelt. Auch nach seiner Entlassung aus dieser Einrichtung blieb er psychisch sehr labil.

Ihre Jugendjahre verbrachte Etty Hillesum in Middelburg, Hilversum (1914–1916), Tiel (1916–1918), Winschoten (1918–1924) und ab Juli 1924 in Deventer, wo sie in die fünfte Klasse der Graaf van Burenschool kam. Die Familie wohnte damals in der A. J. Duymaer van Twiststraat 51 (heute Nr. 2). Später (1933) zog die Familie in die Geert Grootestraat 9, aber da wohnte Etty Hillesum schon nicht mehr bei ihren Eltern.

Nach der Grundschule ging Etty Hillesum 1926 auf das Gymnasium in Deventer, wo ihr Vater damals stellvertretender Direktor war. Ihre Schulleistungen waren nicht herausragend, im Gegensatz zu denjenigen ihres jüngeren Bruders Jaap, der ein sehr guter Schüler war. In der Schule belegte sie auch Hebräisch und besuchte eine Zeit lang Treffen einer zionistischen Jugendgruppe in Deventer.

Nach ihrer Abschlussprüfung am Gymnasium mit Sprachenschwerpunkt ging sie 1932 nach Amsterdam, um Jura zu studieren. Sie wohnte in einem Zimmer bei der Familie Horowitz in der Ruysdaelstraat 32, wo ihr Bruder Mischa bereits im Juli 1931 eingezogen war. Nach einem halben Jahr zog sie in die Apollolaan 29, wohin auch ihr Bruder Jaap im September 1933 ziehen sollte, als er anfing, Medizin zu studieren. Im November zog Jaap in eine Parterrewohnung in der Jan Willem Brouwersstraat 22; sie folgte ihm einen Monat später. Ab September 1934 war Etty Hillesum wieder in Deventer gemeldet. Am 6. Juni 1935 legte sie an der Universität von Amsterdam ihre Zwischenprüfung in Rechtswissenschaften ab. Sie wohnte damals mit ihrem Bruder Jaap zusammen in der Keizersgracht 612c.

Im März 1937 zog Etty Hillesum bei dem Wirtschaftsprüfer Hendrik (Han) J. Wegerif ein, der in der Gabriël Metsustraat 6 wohnte, eine Adresse, an der ihr Bruder Jaap von Oktober 1936 bis September 1937 ebenfalls gemeldet war. Der Witwer Wegerif stellte Etty Hillesum ein, um den Haushalt für ihn zu führen. Er unterhielt jedoch auch eine Beziehung zu ihr, was dazu führte, dass das Verhältnis zu seinem zu Hause wohnenden Sohn Hans angespannt wurde. In diesem ihr so lieb gewordenen Haus mit seinen so verschiedenen Bewohnern wohnte Etty Hillesum bis zu ihrem definitiven Aufbruch ins Durchgangslager Westerbork im Juni 1943.

In ihrer Studienzeit verkehrte Etty Hillesum in einem linken, antifaschistischen Studentenmilieu und war politisch und gesellschaftlich interessiert, ohne Mitglied einer politischen Partei zu sein. Ihre Bekannten aus dieser Zeit wunderten sich über ihre spirituelle Entwicklung in den Kriegsjahren, durch die sie deutlich andere Interessen ausbildete und einen anderen Freundeskreis bekam, auch wenn sie einige ihrer Kontakte aus der Vorkriegszeit aufrechterhielt. Am 23. Juni und 4. Juli 1939 legte sie das Abschlussexamen in niederländischem Recht (Fachrichtung öffentliches Recht) mit durchschnittlichem Ergebnis ab.

Daneben studierte Etty Hillesum auch slawische Sprachen in Amsterdam und Leiden. Zwar konnte sie das Studium kriegsbedingt nicht mit einer Prüfung abschließen, hat aber weiterhin die russische Sprache und Literatur studiert und auch unterrichtet. Sie gab an der Amsterdamer Volkshochschule einen Russischkurs, und später erteilte sie bis zu ihrem endgültigen Aufbruch ins Durchgangslager Westerbork Privatunterricht. Als sie nach Auschwitz deportiert wurde, lagen in ihrem Rucksack eine Bibel und eine russische Grammatik.

Die Tagebücher, durch die Etty Hillesum weltberühmt geworden ist, wurden größtenteils in ihrem Zimmer an der Gabriël Metsustraat geschrieben; an dieser Adresse wohnten nicht nur sie und Han Wegerif, sondern auch dessen Sohn Hans, die Haushälterin Käthe Fransen und ein Chemiestudent namens Bernard Meylink. Auf Empfehlung von Bernard hin ging sie am Montag, dem 3. Februar 1941, als «Forschungsobjekt» zum...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2023
Übersetzer Christina Siever, Simone Schroth
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Reisen Reiseführer Europa
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
ISBN-10 3-406-79732-6 / 3406797326
ISBN-13 978-3-406-79732-3 / 9783406797323
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