Rhetorik und Metarhetorik in Aufklärung und Romantik (eBook)
438 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-104019-6 (ISBN)
Rhetorik ist seit ihren Anfängen dem Vorwurf der Manipulation ausgesetzt, gegen den schon in der Antike eine 'Rhetorik im Dienst der Vernunft' aufgeboten worden ist. Die Untersuchung ist der Transformation dieses Konzepts in Aufklärung und Romantik gewidmet. Am Beispiel von Johann Christoph Gottscheds Lehrbuch der Rhetorik wird ein Versuch der Frühaufklärung analysiert und am Beispiel seiner 'Festreden' die Praxis einer 'Rhetorik der Vernunft' untersucht. Die Auseinandersetzung mit diesem Konzept im Rahmen der 'selbstreflexiven Aufklärung' wird am Beispiel der Darstellung von dessen Scheitern in Christoph Martin Wielands 'Geschichte des Agathon' analysiert. Bei der Transformation von Theorie und Praxis der 'Beredsamkeit' in Texten der Romantik stehen neue Herausforderungen - Ideal der Kunstautonomie und Neubegründung des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit - im Mittelpunkt. Am Beispiel von A. W. Schlegels 'Berliner Vorlesungen' wird abschließend der Typus der 'Öffentlichen Vorlesung' als mediengeschichtlich innovative Antwort auf Probleme der Rhetorik um 1800 einer eingehenden Analyse unterzogen.
Ludwig Stockinger, Universität Leipzig.
Vorbemerkungen zur Entstehung und zur Fragestellung dieser Arbeit
Der erste Anlass zu den Überlegungen, die ich hier zur Diskussion stellen möchte, liegt schon einige Zeit zurück. Am 12. Dezember 2016 veranstalteten zum 250. Todestag von Johann Christoph Gottsched das Institut für Germanistik der Universität Leipzig, die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und die Bibliotheca Albertina der Universität Leipzig gemeinsam eine Festveranstaltung mit dem Titel „Der Aufklärer in Leipzig“. Von den Veranstaltern bin ich damals gefragt worden, ob ich dazu einen ‚Festvortrag‘ halten könne. Für dieses Redegenre bietet sich üblicherweise eine Gesamtwürdigung von Person und Werk an; da ich diesen Weg einige Jahre vorher bei einem Vortrag aus Anlass von Gottscheds 300. Geburtstag schon einmal gewählt1 und das Gefühl hatte, in dieser Hinsicht nichts wirklich Neues zu diesem Autor sagen zu können, kam mir die Idee, diesmal einen speziellen Aspekt von Gottscheds Werk in den Mittelpunkt zu stellen: seine eigenen Reden, insbesondere diejenigen, die er selber als ‚Festreden‘ konzipiert und gehalten hat. Die Wahl dieses Aspekts erschien mir zudem durch den Umstand gerechtfertigt, dass „Gottscheds rednerische Praxis […] ein weithin unerforschtes, zugleich zentrales Kapitel der rhetorischen Kultur des 18. Jahrhunderts darstellt“.2
Wenn es in der Literatur das Phänomen der ‚Metafiktion‘ gibt, die Reflexion der Fiktionalität im Modus der fiktionalen Erzählrede selbst, warum, so meine Überlegung, sollte man sich dann nicht an einer ‚metarhetorischen‘ Rede versuchen, einer ‚Festrede‘ über einen ‚Festredner‘. Für dieses Verfahren der Reflexion von Rhetorik im Modus der Rede gibt es ja auch prominente Beispiele, angefangen mit der Apologie des Sokrates, in der der Redner seine Vorstellung einer Rhetorik im Dienst der Wahrheit von der seiner Ankläger abgrenzt. Gottsched selbst hat mit seinem erfolgreichen Lehrbuch, der Ausführlichen Redekunst von 1736, nicht nur Regeln und Ratschläge für die Praxis des Redners vorgelegt, sondern sein Konzept auch theoretisch begründet und das Problem der Unterscheidung von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Redekunst, eine zentrale Frage der Legitimation von Rhetorik, in der Form einer Rede mit dem Titel „Daß der Redner ein ehrlicher Mann seyn muß“ (GAW IX/2. S. 509 – 518) erörtert. Adam Müllers Zwölf Reden über die Beredsamkeit, die er im Jahr 1812 in Wien vor einem illustren Publikum gehalten hat, sind ein prominentes Beispiel dieser Art von ‚Metarhetorik‘ innerhalb der Romantik.
Bei der Planung des nun vorliegenden Buches hatte ich die Absicht, diese ‚Festrede‘ zu Ehren und zum Gedächtnis Gottscheds in ihrer den spezifischen Anforderungen des mündlichen Vortrags angepassten Gestalt zu einem umfangreicheren schriftlichen Text auszuarbeiten, in den ich ohne Rücksicht auf diese Bedingungen alles einfügen konnte, was sich bei den vorbereitenden Recherchen angesammelt hatte, im mündlichen Vortrag aber nicht hat unterbringen lassen. Die ursprüngliche Absicht sollte aber spürbar erhalten bleiben: Die Würdigung einer Leistung, die es wert ist, im ‚kulturellen Gedächtnis‘3 bewahrt zu werden, so wie dies Gottsched selbst in seinen ‚Festreden‘ beabsichtigt hat. Der Anspruch, die Leistung dieses Autors der deutschen Frühaufklärung angemessen zu würdigen, hat allerdings zu einer Ausweitung des Umfangs geführt, die zu Beginn der Arbeit noch nicht absehbar war.
Wollte ich eine Rede zum 250. Todestag Gottscheds halten, so musste ich, wenn ich der Tradition der Panegyrik folgte, gemäß den Regeln des genus demonstrativum4 bzw. der ‚epideiktischen Rede‘ die Aufmerksamkeit auf eine Leistung richten, deren Bedeutung es als plausibel erscheinen lässt, dass man sich auch in der Gegenwart daran erinnern soll und darf. Das schließt nicht aus, auch auf deren Grenzen hinzuweisen, denn in diesem Genus „kann die Person/der Gegenstand auf ein allgemein anerkanntes Ordnungsmodell oder Verhaltensideal verpflichtet werden, so daß sich Panegyrik und Kritik im Einzelfall durchaus vertragen“.5 Dieses Verhältnis von Panegyrik und Kritik, von laus und vituperatio,6 im Rahmen eines „Ordnungsmodells“ gilt es auch bei der Deutung von Gottscheds eigenen Reden im Auge zu behalten, und dabei bietet es sich an, sein Konzept von Redekunst mit alternativen Konzepten zu konfrontieren, die im 18. und im frühen 19. Jahrhundert formuliert worden sind: mit der – impliziten – Kritik an Gottscheds frühaufklärerischen Vorstellungen von der Wirkung der Rhetorik aus der Warte einer ‚selbstreflexiven Aufklärung‘,7 vorgeführt am Beispiel der in Christoph Martin Wielands Roman Geschichte des Agathon erzählten Versuche einer Redner-Figur, die trotz hoher moralischer Absichten und trotz exzellenter Redekunst ihre Ziele verfehlt (Kapitel II), und mit den Experimenten der Romantiker, mit denen sie angesichts des poetologischen Diskussionstandes um 1800 und der veränderten politischen Lage in der Zeit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege versucht haben, der Rhetorik einen neuen Platz im System der modernen bzw. ‚romantischen‘ Literatur zu erobern (Kapitel III und IV).
Mein Zugang zu einer Darstellung des Wandels der Redekunst im 18. und im frühen 19. Jahrhundert ist ‚problemgeschichtlich‘,8 d. h. ich deute schon Gottscheds Theorie und Praxis der ‚Beredsamkeit‘ als Versuch einer Antwort auf längerfristige, im Grunde seit der Entstehung der Rhetorik im antiken Griechenland virulente Legitimationsprobleme unter den spezifischen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Neuzeit, und dies innerhalb der Voraussetzungen, unter denen Diskurse der Aufklärung sich in Deutschland im 18. Jahrhundert verbreiten und durchsetzen konnten. Im Kontext des Wandels dieser Bedingungen – sowohl der Entwicklung der Diskurse von Aufklärung und Romantik selbst, als auch der geschichtlichen Ereignisse – lassen sich die verschiedenen Konzepte von Rhetorik als unterschiedliche „Antworttypen auf Langzeitprobleme“,9 deuten, und da die Arbeit in einer breitangelegten Analyse der Antworten von Autoren der Romantik bzw. aus dem Umfeld der Romantik münden wird, kann sie auch gelesen und verstanden werden als Teilbeitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Aufklärung und Romantik.10
Schon die Tatsache, dass in den einschlägigen Texten immer wieder implizit und explizit auf die Rhetorik der Antike verwiesen wird, nicht nur im Hinblick auf die dort thesaurierten Regelwerke, sondern auch auf die schon in den antiken Texten formulierten Diskussionen über die damit verbundenen Probleme, zeigt deutlich genug, dass die Autoren des 18. Jahrhunderts ihre Bemühungen als Arbeit an langfristigen Problemen aufgefasst haben, die sozusagen seit der ‚Erfindung‘ der Rhetorik im Raum standen. Das zentrale Problem, das schon in Platons Kritik an der sophistischen Rhetorik im Dialog Gorgias diskutiert wird und das bis heute aktuell geblieben ist, ist die Rechtfertigung einer sprachlichen Technik, die im Verdacht steht, die Adressaten zur Annahme auch von unwahren, unvernünftigen und moralisch fragwürdigen Meinungen überreden zu können. Die Frage ist: Kann es eine Rhetorik im Dienst von Vernunft, Wahrheit und Moral geben? Und: Wie lässt sich eine solche Kunst der ‚vernünftigen‘ Überredung von verantwortungsloser Manipulation unterscheiden? Als Antwort auf die beunruhigende Erkenntnis, dass es sich um eine wertfreie sprachliche Technik handelt, wurde schon in der Antike die Vorstellung eines moralisch integren Redners (vir bonus) entwickelt, der den richtigen Gebrauch dieses nicht ungefährlichen Mittels und damit die Legitimität der Rhetorik garantieren sollte, und diese Vorstellung wird auch in den Texten des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten wieder aufgegriffen. Da in diesen Rechtfertigungsversuchen aber in der Regel nicht unterschieden wird, ob der vir bonus eine Tatsache oder eine ideale Norm ist, erweisen sie sich als wenig überzeugend. In Wielands Rhetorik-Kritik wird deren Scheitern denn auch offen zur Sprache gebracht.
Da der ‚vernünftige‘ Redner, einmal abgesehen von der sehr unterschiedlich beantworteten Frage, was denn als ‚vernünftig‘ zu bezeichnen sei, aufgrund der prinzipiellen Ausrichtung von Rhetorik auf die von Gefühle wirken soll, ergibt sich als Folgeproblem der Bedarf nach einer Klärung des Verhältnisses von sinnlicher Erfahrung und vernünftiger Erkenntnis, von Begierden und vernünftigem Willen, was nach der Darstellung von Panajotis Kondylis das Hauptproblem der ganzen Aufklärungsbewegung gewesen ist.11 An Gottscheds elaboriertem Versuch, im Rahmen seines anthropologischen Modells, das sich an jener Version von deutscher Aufklärung orientiert hat, die man gewöhnlich als ‚Leibniz-Wolffsche Schule‘ bezeichnet, der Rhetorik einen sinnvollen Platz zwischen der Wirkung auf die Sinnlichkeit und der Beeinflussung des vernünftigen Willens zuzuweisen, werden sich exemplarisch die Grenzen und Möglichkeiten eines Konzepts von Rhetorik innerhalb einer sozusagen ‚dogmatischen‘ bzw. ‚vorreflexiven‘ Aufklärung aufzeigen lassen, das schon innerhalb der Aufklärung bei Wieland der Kritik verfällt.
Ein weiteres ‚Langzeitproblem‘ betrifft Fragen der Medialität. Die Rhetorik ist im Kontext ihrer Entstehung konzipiert als...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte | Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft |
Schlagworte | Aufklärung • Christoph Martin Wieland • Enlightenment • Geschichte der Rhetorik • History of Rhetoric • Romanticism • Romantik |
ISBN-10 | 3-11-104019-4 / 3111040194 |
ISBN-13 | 978-3-11-104019-6 / 9783111040196 |
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