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Islamische Theologie neu denken (eBook)

Gespräche mit ʿAbd al-Ǧabbār ar-Rifāʿī, Mohsen Kadivar, Hassan Yussefi Eshkevari und Arash Naraghi

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
172 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-108028-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Islamische Theologie neu denken - Abbas Poya
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Die vorliegende Studie behandelt zwei wichtige Reformdiskurse in der islamischen Gegenwart: neue Theologie und i?tih?d in der Theologie. Dabei geht es im Kern um die Schaffung einer theoretischen Grundlage, um über die theologischen und normativen Lehrmeinungen im Islam zu reflektieren und sie gegebenenfalls neu zu formulieren. Es geht aber auch um ein Plädoyer für eine pluralistische und am Menschen orientierte Auffassung des Islams.



Prof. Dr. Abbas Poya, Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland.

Teil IIIǧtihād in der Theologie


Menschliche Erkenntnis und religiöse Wahrheit


1 Einleitung


Eine ‚neue Theologie‘ zu wollen bzw. zu konzipieren kann logischerweise nur dann funktionieren, wenn freie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den theologischen Inhalten für zulässig erachtet wird. Daher sprechen die Vertreter:innen der ‚neuen Theologie‘ auch fast im selben Atemzug vom ‚theologischen iǧtihād‘ (al-iǧtihād al-kalāmī) oder dem ‚iǧtihād in den Grundlagen‘ (iǧtihād dar uṣūl). Sie plädieren also dafür, dass die Gelehrten – wie im fiqh (d.i. die Jurisprudenz) – auch in den theologischen Fragen bzw. Annahmen eigenständig denken und sich eigene Meinungen bilden sollen.1

Dabei ist der Ausdruck ‚iǧtihād in den Grundlagen‘ umfassender als ‚iǧtihād in der Theologie‘. Mit dem Ersteren ist die Praxis des iǧtihād in allen als definitiv angesehenen Vorstellungen, also in den theologischen Annahmen sowie in den normativen Bestimmungen wie etwa dem Gebot des Hidschabs und dem Verbot der Homosexualität gemeint. Der Letztere fokussiert speziell auf die theologischen Themen. Dennoch zielen die Gelehrten mit beiden Konzepten auf das Gleiche: die Praxis des iǧtihād auf definitive Fragen zu erweitern.

Im Großen und Ganzen fordern die Befürworter:innen von al-iǧtihād al-kalāmī dazu auf, a) theologische Lehrmeinungen zum Gegenstand freier wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu erklären, b) in diesen Fragen genauso iǧtihād anwenden zu können wie in den schariarechtlichen Feldern, c) auf diese Weise die Meinungsverschiedenheit in allen religiösen Fragen zu begründen und d) die islamischen Lehren im Einklang mit den heutigen wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen und Wertvorstellungen zu interpretieren.2

Es geht also bei diesem Diskurs um die Aufnahme einer bewährten Praxis im islamischen Recht, die die Dynamik und Vielfalt der Scharia in den nichtdefinitiven praktischen Fragen über Jahrhunderte garantierte bzw. begründete, in den Bereich der definitiven religiösen bzw. theologischen Annahmen, damit auch hier die Möglichkeit eines Umdenkens gewährleistet ist.

Bemerkenswert ist dabei, dass auch unter den traditionellen Gelehrten Konsens darüber besteht, dass die Glaubensannahmen nicht durch Nachahmung (taqlīd), sondern kraft eigener rationaler Überlegung begründet werden müssen. Gleichzeitig darf aber die eigene rationale Überlegung zu keinen anderen Ergebnissen führen als zu den bereits islamisch oder konfessionell formulierten Annahmen. Andernfalls wäre man ein murtadd (‚Abtrünniger‘) bzw. ein mubtadiʿ (ein die Grenzen des Islams überschreitender ‚Erneuerer‘). Aus diesem Grund lehnen die traditionellen Gelehrten den iǧtihād in diesem Sinne in der Theologie auch weiterhin ab, während die Reformist:innen ihn zu ihrem intellektuellen Projekt erklären.

In diesem Teil werde ich das komplexe und nicht einmal unter seinen Vorkämpfer:innen einheitlich behandelte Thema ‚Praxis des iǧtihād in der Theologie‘ bzw. ‚in den Grundlagen‘ im Gespräch mit drei Reformdenkern – Mohsen Kadivar, Hassan Yussefi Eshkevari und Arash Naraghi – diskutieren. Diese Gespräche werden einerseits die Reformmöglichkeiten aufzeigen, welche die Anerkennung der iǧtihād-Praxis über die Grenzen der Jurisprudenz im Islam hinaus eröffnen kann. Andererseits werden sie offenlegen, dass die Vorstellungen zu dieser Frage durchaus unterschiedlich und in manchen Punkten noch nicht kohärent sind.

Bevor wir uns aber mit den drei Protagonisten und ihren Ansichten zum Thema iǧtihād befassen, möchte ich im vorliegenden Kapitel einige grundliegende Überlegungen zu diesem Thema aus meiner Sicht besprechen. Dieses Kapitel führt gewissermaßen in die Themen, Begrifflichkeiten und Zusammenhänge ein, die in den Gesprächen mit den drei Reformdenkern vorkommen. Gleichzeitig soll es meine Kritikpunkte an den von ihnen angesprochenen Ansätzen im Vorfeld erläutern.

Das Kapitel stellt zum Teil eine überarbeitete, aktualisierte und gekürzte Version des letzten Teils meiner im Jahre 2003 veröffentlichten Dissertation dar.3 Da das Buch inzwischen vergriffen und die dort durchgeführte Analyse der Begriffe taḫṭiʾa und taṣwīb für das hier zu besprechende Thema grundlegend ist, habe ich die dortige Diskussion hier in einer angepassten Form übernommen.

2 Exklusivismus vs. Pluralismus/Inklusivismus


Generell gehen die Gelehrten davon aus, dass es feste Glaubenswahrheiten bzw. normative Wahrheiten gibt, die vom Propheten verkündet wurden und die die Menschen zu glauben bzw. zu praktizieren haben. Sofern die Menschen keinen direkten Zugang mehr zum Propheten (und in der Schia auch zu den Imamen) und damit zu diesen Wahrheiten haben – das betrifft alle Generationen nach dem Tode Muhammads im Jahre 632 sowie in der Schia nach der ‚kleinen Verborgenheit‘ des letzten Imams im Jahre 939 –, müssen sie sich auf bestmögliche Weise bemühen, diese Wahrheiten zu finden. Diese Aktivität wird im Islam als iǧtihād bezeichnet.4

Wenn man jedoch iǧtihād anerkennt und praktiziert, öffnet man konsequenterweise der Meinungsverschiedenheit Tür und Tor. Davon legt die islamische Rechts- und Theologiegeschichte Zeugnis ab, insbesondere weil im Islam jede/r nach religiösen Wahrheiten suchen kann und für diese Aufgabe keine Institution existiert wie etwa im Christentum die Kirche, der eine Person wie der Papst vorsteht. Daher werden die Gelehrten seit jeher von der Frage umgetrieben, wie das iǧtihād-Ergebnis, das eine menschliche Erkenntnis darstellt und naturgemäß unterschiedlich oder gar widersprüchlich ausfallen kann, zu bewerten ist. Wie sind die durch iǧtihād erzielten diversen Lehrmeinungen mit der Idee der einen angenommenen Wahrheit zu vereinbaren? Diese Frage wird in der uṣūl-wissenschaftlichen Literatur unter dem Titel taḫṭiʾa/​taṣwīb ausführlich diskutiert. Während die einen davon ausgehen, dass nur eine Meinung zutreffend sein bzw. der Wahrheit entsprechen kann und alle anderen falsch liegen (d. h. muḫṭiʾ sind), halten die anderen alle iǧtihād-Ergebnisse für zutreffend (muṣīb). Die Vertreter:innen der ersten Position werden als muḫaṭṭiʾa und die des zweiten Standpunktes als muṣawwiba bezeichnet. Entsprechend heißen die jeweiligen Standpunkte taḫṭiʾa und taṣwīb.5

Aus meiner Sicht geht es bei dieser Debatte, wenn wir sie in den heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch übersetzen, im Grunde um die wahrheitstheoretische bzw. religionstheologische Frage, ob die eigene religiöse Meinung die einzig richtige ist (‚Exklusivismus‘) oder auch die anderen Menschen mit ihren Vorstellungen (vollkommen oder partiell) im Recht liegen (‚Pluralismus‘/​‚Inklusivismus‘). Diese These möchte ich im Folgenden kurz begründen, indem ich zunächst eine alternative Synonymisierung der Begriffe taḫṭiʾa und taṣwīb kritisch bespreche.

3Taḫṭiʾa und taṣwīb in islamwissenschaftlichen Untersuchungen


Einige islamwissenschaftliche Arbeiten behandeln die Frage taḫṭiʾa oder taṣwīb deskriptiv, indem sie das wiedergeben, was in den uṣūl-wissenschaftlichen Werken zu diesem Thema steht. Zu diesen Arbeiten zählt das Buch von Birgit Krawietz Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam. Manche andere beleuchten darüber hinaus die rechtshistorischen bzw. theologischen Zusammenhänge der Frage. Zu dieser Gruppe gehören die Arbeit von Aron Zysow zur uṣūl-Wissenschaft6 und die Ausführungen von Josef van Ess in seinem großen Werk Theologie und Gesellschaft 2. und 3. Jahrhundert Hidschra.7 Manch andere diskutieren das Thema mit Blick auf seine Relevanz für die heutigen Fragen der Meinungsfreiheit und Toleranz. Van Ess konkretisierte seine diesbezüglichen Gedanken in einer auf Arabisch gehaltenen und später gedruckten Rede, in der er unter Bezugnahme auf das Thema für einen ‚pluralistischen Islam‘ plädiert.8 In diesem Bereich ist auch meine Dissertation Anerkennung des Iǧtihād – Legitimation der Toleranz: Möglichkeiten innerer und äußerer Toleranz im Islam am Beispiel der iǧtihād-Diskussion zu verorten.

4 Das Problem der Synonymisierung der Begriffe taḫṭiʾa und taṣwīb


Aron Zysow setzt in seiner Arbeit die taṣwīb-Sicht (‚jeder muǧtahid liegt richtig‘) mit ‚Infallibilismus‘ und die taḫṭiʾa-Auffassung (‚nur ein muǧtahid liegt richtig‘) mit ‚Fallibilismus‘ gleich.9 Mir scheint, dass der Grund für diesen Schritt die folgende...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2023
Zusatzinfo 3 b/w graphics
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Islam
Schlagworte Irak • Iran • Iraq • Reform • Religionstheologie • Theology of religion
ISBN-10 3-11-108028-5 / 3111080285
ISBN-13 978-3-11-108028-4 / 9783111080284
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