Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen (Leben Lernen, Bd. 283) (eBook)
210 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12149-0 (ISBN)
Ursula Gast, PD Dr. med., ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Psychoanalytikerin; von 2004 bis 2009 Chefärztin der Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin in Bielefeld, jetzt niedergelassen in Mittelangeln bei Flensburg. Ihre Homepage finden Sie unter: www.ursula-gast.de Gustav Wirtz, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Traumatherapeut; er ist Leitender Arzt der SRH RPK Karlsbad Langensteinbach und Leiter der Sektion Psychotraumatologie des SRH Klinikums Karlsbad-Langensteinbach.
Ursula Gast, PD Dr. med., ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Psychoanalytikerin; von 2004 bis 2009 Chefärztin der Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin in Bielefeld, jetzt niedergelassen in Mittelangeln bei Flensburg. Ihre Homepage finden Sie unter: www.ursula-gast.de Gustav Wirtz, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Traumatherapeut; er ist Leitender Arzt der SRH RPK Karlsbad Langensteinbach und Leiter der Sektion Psychotraumatologie des SRH Klinikums Karlsbad-Langensteinbach.
Kapitel 2
Expertenempfehlung für die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bei Erwachsenen
Behandlungsziele und -ergebnisse
Integriertes Funktionieren als Behandlungsziel
Obwohl DIS-Patient(inn)en verschiedene Persönlichkeitsanteile in sich selbst erleben, ist es für Therapeut(inn)en wichtig, sich bewusst zu machen, dass es sich bei dem Patienten bzw. der Patientin nicht um mehrere Personen im gleichen Körper handelt. Die Patient(inn)en sollten als vollständige, erwachsene Menschen betrachtet werden, deren Persönlichkeitsanteile die Verantwortung für ihr tägliches Leben teilen. Therapeut(inn)en, die mit DIS-Patient(inn)en arbeiten, müssen im Allgemeinen die ganze Person (d. h. das System der Persönlichkeitsanteile) für das Verhalten eines oder aller beitragenden Persönlichkeitsanteile verantwortlich machen, selbst wenn eine Amnesie oder ein Gefühl mangelnder Kontrolle oder Selbstwirksamkeit über das Verhalten vorliegt (vgl. Radden, 1996).
Die Behandlung sollte den Patienten so weit wie möglich zu einem besseren integrierten Funktionieren führen. Um dies zu erreichen, kann es bisweilen erforderlich sein, dass der Therapeut anerkennt, dass der Patient seine Persönlichkeitsanteile so erlebt, als seien sie getrennt. Es bleibt jedoch grundlegendes Prinzip der Therapie bei DIS-Patient(inn)en, eine bessere Kommunikation und Koordination zwischen den Persönlichkeitsanteilen zu erzielen.
Bei den meisten DIS-Patient(inn)en scheint jeder Persönlichkeitsanteil sowohl eine eigene Perspektive der »ersten Person« als auch ein Gefühl des »eigenen Ich« (engl. »own self«) zu haben, während gegenüber anderen Anteilen in gleichem Maße das Gefühl des »Nicht-Ich« oder »nicht zu mir gehörig« besteht. Der Persönlichkeitsanteil, der gerade die Kontrolle ausübt, spricht gewöhnlich in der ersten Person und kann andere Anteile ablehnen oder sich dieser völlig unbewusst sein. Wechsel zwischen den Anteilen finden als Reaktion auf veränderte emotionale Zustände oder Anforderungen der Außenwelt statt, woraufhin ein anderer Anteil die Kontrolle übernimmt. Weil verschiedene Persönlichkeitsanteile unterschiedliche Rollen, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen und Glaubensgrundsätze haben, ist der Therapeut ständig mit den sich widersprechenden Meinungen und Blickwinkeln beschäftigt.
Der Kern des therapeutischen Prozesses ist es, den Persönlichkeitsanteilen zu helfen, sich gegenseitig als berechtigte Teile des Selbst wahrzunehmen und ihre Konflikte zu diskutieren und zu lösen. Einzelne Persönlichkeitsanteile als »realer« oder wichtiger anzusehen als andere, wäre für den Prozess der Therapie kontraproduktiv. Der Therapeut sollte auch nicht einen Anteil gegenüber anderen favorisieren oder weniger »liebenswürdige« oder störende Anteile von der Therapie ausschließen. (Solche Schritte können allerdings in manchen Behandlungsphasen vorübergehend notwendig sein, um die Sicherheit und Stabilität des Patienten für sich oder andere zu gewährleisten.)
Der Therapeut sollte die Idee fördern, dass alle Persönlichkeitsanteile für Versuche stehen, mit früheren Problemen umzugehen und diese zu lösen. Deshalb ist es auch kontraproduktiv, dem Patienten zu raten, Persönlichkeitsanteile zu ignorieren oder »loszuwerden«. (Dennoch ist es angemessen, dem Patienten Strategien an die Hand zu geben, um dem Einfluss zerstörerischer Anteile zu widerstehen, oder ihm zu helfen, dem Auftreten solcher Anteile in unangebrachten Situationen entgegenzuwirken.)
Es ist kontraproduktiv für die Therapie, dem Patienten vorzuschlagen, zusätzliche Persönlichkeitsanteile herauszubilden, bisher namenlose Anteile mit einem Namen zu versehen (allerdings kann der Patient einen Namen wählen, wenn er will) oder so zu tun, als wären Persönlichkeitsanteile ausgeformter (engl. elaborated) oder würden autonomer funktionieren, als sie es tatsächlich sind oder tun. Ein wünschenswertes Ergebnis einer Therapie ist es, eine arbeitsfähige Integration oder Zusammenarbeit der Persönlichkeitsanteile zu erwirken. Die Verwendung von Begriffen wie »Integration« und »Fusion« ist bisweilen unklar und irritierend. Integration ist ein weitgreifender, dauerhafter Prozess, der sich auf die gesamte Arbeit mit dissoziierten mentalen Funktionen bezieht. R. P. Kluft (1993a, S. 109) definiert Integration als »[einen] langwierigen Prozess, in dessen Verlauf alle Aspekte der dissoziativen Gespaltenheit rückgängig gemacht werden, der schon lange, bevor eine Reduktion der Anzahl oder Eigenständigkeit der Persönlichkeitsanteile erkannt werden kann, beginnt. Der Prozess läuft weiter, während die Anteile anfangen zu fusionieren, und er läuft auf einer tieferen Ebene sogar dann noch weiter, wenn die Persönlichkeitsanteile zu einer Person geworden sind. Sie [die Integration] beschreibt einen laufenden Prozess, der in der Tradition der psychoanalytischen Sichtweise für eine strukturelle Veränderung steht.« Fusion dagegen bezieht sich auf einen Zeitpunkt, zu dem sich zwei oder mehr Persönlichkeitsanteile als zusammengehörig fühlen und ihre Eigenständigkeit völlig ablegen. Abschließende Fusion (engl. final fusion) steht für den Zeitpunkt, an dem sich die Selbstwahrnehmung des Patienten verändert – vom Gefühl vieler Persönlichkeitsanteile zu einem einheitlichen Selbst. Manche Mitglieder der Task-Force haben sich für den Gebrauch des Begriffs »Vereinigung« ausgesprochen, um die verwirrenden Begriffe »frühe Fusion« und »abschließende Fusion« zu vermeiden.
Der Therapeut sollte die Idee fördern, dass alle Persönlichkeitsanteile für Versuche stehen, mit früheren Problemen umzugehen und diese zu lösen. Deshalb ist es auch kontraproduktiv, dem Patienten zu raten, Persönlichkeitsanteile zu ignorieren oder »loszuwerden«.
R. P. Kluft (1993a) hat argumentiert, dass die abschließende Fusion (d. h. vollständige Eingliederung, Zusammenschluss und Verlust jeglicher Getrenntheit) aller Persönlichkeitsanteile das stabilste Therapieergebnis darstellt. Allerdings werden viele DIS-Patient(inn)en diese abschließende Fusion selbst nach umfänglicher Behandlung nicht erreichen oder eine abschließende Fusion nicht als wünschenswert betrachten. Es können viele Faktoren dazu beitragen, dass Patient(inn)en nicht in der Lage sind, eine abschließende Fusion zu verwirklichen: chronischer und schwerer situationsbedingter Stress, Vermeidung von ungelösten, sehr schmerzhaften Lebenserfahrungen einschließlich traumatischer Erinnerungen, das Fehlen von finanziellen Mitteln für die Behandlung, komorbide medizinische Probleme, fortgeschrittenes Alter, signifikante und anhaltende DSM-Achse-I- und/oder -Achse-II-Störungen und/oder signifikantes narzisstisches Investieren in die Persönlichkeitsanteile und/oder die DIS selbst u. Ä. Deshalb kann ein realistischeres Langzeitergebnis für manche Patient(inn)en ein kooperatives Arrangement sein, manchmal auch »Übereinkommen« (engl. resolution) genannt. Es beinhaltet ein ausreichend integriertes und aufeinander abgestimmtes Zusammenarbeiten zwischen den Persönlichkeitsanteilen, um optimales Funktionieren zu fördern. Dennoch laufen solche Patient(inn)en, die ein kooperatives Übereinkommen anstatt einer abschließenden Fusion erreichen, eher Gefahr, später zu dekompensieren (in eine volle DIS oder PTBS), wenn sie erheblichem Stress ausgesetzt sind.
Selbst nach abschließender Fusion kann die Arbeit an bleibenden dissoziierten Denkweisen oder dem Erleben weitergehen. Beispielsweise kann es sein, dass Therapeut(in) und Patient(in) daran arbeiten müssen, eine Fähigkeit, die zuvor nur ein Persönlichkeitsanteil besaß, voll zu integrieren, eine neue Schmerzgrenze des Patienten zu ermitteln, alle dissoziierten Altersstufen in ein chronologisches Alter zu integrieren oder ein neues, für das Alter des Patienten angemessenes und gesundes Ausmaß von Betätigung und Belastbarkeit zu finden. Es kann sein, dass traumatisches und belastendes Material auch von dieser neuen Perspektive aus bearbeitet werden muss.
Behandlungsergebnis, Behandlungsverlauf und Kosteneffizienz für DIS
Obwohl manche Studien über DIS über ein Jahrhundert alt sind (Janet, 1919; Prince, 1906), steckt die intensive Erforschung der Behandlung von DIS noch in den Kinderschuhen. Brand, Classen, Zaveri und McNary (2009) stellten fest, dass verschiedene Faktoren die Forschung in diesem Bereich erschweren. Zu diesen zählen u. a. die langwierige Behandlung, die oft nötig ist, und die...
Erscheint lt. Verlag | 21.12.2022 |
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Reihe/Serie | Leben lernen |
Leben Lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | DeGPT • DIS • Dissoziation • Emotionale Gewalt • körperliche Gewalt • Körperpsychotherapie • Multiple Identitätsstörung • Persönlichkeitsspaltung • PITT • Posttraumatische Belastungsstörung • Psychiatrie • Psychoanalyse • Psychodynamische Therapie • Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychosomatik • Psychosomatische Therapie • Psychotraumatologie • PTBS • Sexuelle Gewalt • Sexueller Missbrauch • Tiefenpsychologie • Trauma • Traumafolgestörung • Traumatherapie • Traumatisierung • Trauma und Gewalt |
ISBN-10 | 3-608-12149-8 / 3608121498 |
ISBN-13 | 978-3-608-12149-0 / 9783608121490 |
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