The Hidden Spring (eBook)
368 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12182-7 (ISBN)
Mark Solms, Dr. med., gilt als Begründer der Neuropsychoanalyse. Er ist Direktor für Neuropsychologie am Neuroscience Institute der University of Cape Town, Ehrendozent für Neurochirurgie an der Royal London Hospital School of Medicine, Ehrenmitglied des American College of Psychiatrists, Facharzt für Neurophysiologie am Anna Freud Centre sowie Dozent am University College London und der IPU Berlin. 2001 war er »Psychiatrist of the Year« (APA). Solms betreut als Herausgeber die englische Neuübersetzung der Gesammelten Werke Freuds.
Mark Solms, Dr. med., gilt als Begründer der Neuropsychoanalyse. Er ist Direktor für Neuropsychologie am Neuroscience Institute der University of Cape Town, Ehrendozent für Neurochirurgie an der Royal London Hospital School of Medicine, Ehrenmitglied des American College of Psychiatrists, Facharzt für Neurophysiologie am Anna Freud Centre sowie Dozent am University College London und der IPU Berlin. 2001 war er »Psychiatrist of the Year« (APA). Solms betreut als Herausgeber die englische Neuübersetzung der Gesammelten Werke Freuds.
Kapitel 1
Der Stoff, aus dem Träume sind
Ich wurde an der Skeleton Coast Namibias, einer ehemaligen deutschen Kolonie, geboren. Mein Vater leitete dort die Consolidated Diamond Mines, ein kleines Unternehmen in südafrikanischem Besitz. De Beers, die Dachgesellschaft, hatte ein virtuelles Land im Land aufgebaut, das als Sperrgebiet bezeichnet wurde. Die ausgedehnten Schwemmlandminen erstreckten sich von den Sanddünen der Wüste Namib bis hinunter zum Grund des Atlantiks, mehrere Kilometer ins Meer hinein.
Dies war die ganz besondere Landschaft, die meine Phantasie prägte. Mein um zwei Jahre älterer Bruder Lee und ich spielten als Kinder mit unseren Schaufelbaggern und Kipplastern »Diamantmine«. Im Garten bauten wir die Meisterwerke der Ingenieurskunst nach, die wir an der Seite unseres Vaters bestaunten, wenn er uns mit hinaus zu den Tagebaubetrieben nahm. (Wir waren natürlich zu klein, um über die weniger bewundernswerten Aspekte seiner Branche Bescheid zu wissen.)
Eines Tages im Jahr 1965, ich war vier Jahre alt, fuhren meine Eltern wie so oft mit uns in den Cormorant Yachting Club. Sie gingen segeln, während ich mit Lee im Clubhaus spielte. Als sich der frühmorgendliche Dunst mit steigender Hitze lichtete, verließ ich das kühle Innere des dreistöckigen Clubhauses und lief hinunter zum Ufer, watete durch das flache Wasser und beobachtete die winzigen, silbrig-glänzenden Fischlein, die vor meinen Füßen davonstoben. Derweil kletterte mein Bruder mit einigen Freunden von der Rückseite des Gebäudes aus aufs Dach.
Was dann folgte, habe ich in Form dreier Schnappschüsse in Erinnerung. Zuerst ein Geräusch wie beim Zerbersten einer Wassermelone. Danach das Bild meines Bruders Lee, der auf dem Boden liegend über sein schmerzendes Bein jammert. Und schließlich meine Tante und mein Onkel, die mir erklären, dass sie sich um meine Schwester und mich kümmern würden, weil meine Eltern Lee ins Krankenhaus bringen müssten. Das Fragment mit dem schmerzenden Bein ist zweifellos konfabuliert: Aus der Krankenakte geht hervor, dass mein Bruder das Bewusstsein verlor, als er auf dem Betonboden aufschlug.
Weil Lee im örtlichen Krankenhaus nicht angemessen behandelt werden konnte, wurde er per Hubschrauber nach Kapstadt ins 800 Kilometer entfernte Groote Schuur Hospital gebracht. Die neurochirurgische Abteilung befand sich damals in einem imposanten, im kapholländischen Stil errichteten Gebäude – demselben, in dem ich heute als Neuropsychologe arbeite. Lee hatte einen Schädelbruch und eine intrakraniale Blutung erlitten. Wenn solche Hämatome sich vergrößern, werden sie lebensbedrohlich und erfordern sofortige chirurgische Maßnahmen. Mein Bruder hatte Glück: Sein Hämatom löste sich im Laufe der nächsten Tage auf, und schließlich wurde er aus der Klinik entlassen.
Abgesehen davon, dass er nach dem Unfall einen Helm tragen musste, um seinen frakturierten Schädel zu schützen, sah Lee nicht anders aus als vorher. Als Mensch aber war er völlig verändert. Ich fand es geradezu unheimlich, ihn so zu erleben.
Die auffälligste Veränderung bestand zweifellos darin, dass seine Entwicklung rückläufig war. Er hatte, wenn auch nur vorübergehend, die Kontrolle über den Stuhlgang verloren. Noch verstörender aber war für mich, dass er anders zu denken schien als vor dem Unfall. Es fühlte sich an, als sei Lee gleichzeitig da und nicht da. An viele unserer gemeinsamen Spiele schien er keine Erinnerung mehr zu haben. Unser Diamantminenspiel beschränkte sich nun aufs Graben von Löchern. All die phantasievollen und symbolischen Elemente sagten ihm nichts mehr. Er war nicht mehr Lee.
Lee, gerade erst eingeschult, wurde nicht in die zweite Klasse versetzt. Meine intensivsten Erinnerungen an jene frühe Zeit nach dem Unfall betreffen meinen inneren Kampf, mit dem Widerspruch fertigzuwerden, dass mein Bruder genauso aussah wie vorher, aber nicht mehr er selbst war. Ich verstand nicht, wohin der Lee von einst entschwunden war.
Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte ich eine Depression. Ich weiß noch, dass ich drei Jahre nach dem Unfall nicht mehr die Kraft fand, mir morgens die Schuhe anzuziehen und zur Schule zu gehen. Ich sah keinen Sinn mehr darin. Wenn unser ganzes Wesen, unser eigentliches Sein, vom Funktionieren unseres Gehirns abhängt, was sollte dann aus mir werden, wenn mit dem Rest meines Körpers auch mein Gehirn stürbe? Wenn Lees ganzes Wesen auf ein körperliches Organ reduzierbar war, dann musste es sich mit meinem Wesen genauso verhalten. Das bedeutete, dass ich – mein fühlendes, empfindendes Wesen – nur für eine relativ kurze Zeitdauer existieren würde. Danach würde ich verschwinden.
Dieses Problem hat mich während meiner gesamten wissenschaftlichen Karriere beschäftigt. Ich wollte begreifen, was mit meinem Bruder geschehen war und was irgendwann mit uns allen geschieht. Ich musste verstehen, auf was unsere Existenz als erlebende, wahrnehmende Subjekte, biologisch betrachtet, hinausläuft. Kurzum: Ich musste verstehen, was Bewusstsein ist. So wurde ich Neurowissenschaftler.
Auch rückblickend bin ich überzeugt, dass ich keinen direkteren Weg zu den Antworten, die ich suchte, hätte einschlagen können.
Die Frage, was das Bewusstsein ist, ist vermutlich eines der schwierigsten Probleme der Wissenschaft. Sie ist von Belang, weil wir unser Bewusstsein sind, aber sie ist umstritten, weil zwei Rätsel seit Jahrhunderten einer Lösung harren. Das erste betrifft die Frage, wie sich Geist oder Psyche und Körper zueinander verhalten – oder, für die materialistisch Gesinnten (also für fast alle Neurowissenschaftler) formuliert: wie das Gehirn Geist erzeugt. Dies ist das sogenannte »Geist-Körper-« oder auch »Leib-Seele-Problem«. Wie bringt Ihr physisches Gehirn Ihr phänomenales Erleben hervor? Gleichermaßen verwirrend ist die Frage, wie das nicht-physische Bewusstsein den physischen Körper zu kontrollieren vermag.
Philosophen haben dieses Problem an die von ihnen so genannte »Metaphysik« delegiert und damit nichts anderes gesagt, als dass sie der Meinung sind, es handele sich um ein wissenschaftlich nicht zu lösendes Rätsel. Aber warum? Weil Wissenschaft auf empirischen Methoden beruht, und »empirisch« bedeutet: »aus sensorischer Wahrnehmung gewonnen«. Unser Geist oder unsere Psyche sind der sensorischen Beobachtung nicht zugänglich. Wir können sie weder sehen noch anfassen; sie sind unsichtbar und nicht greifbar, Subjekt, nicht Objekt.
Die Frage, was wir von außen über unseren Geist erfahren können – und sei es lediglich, um zu entscheiden, ob es einen Geist oder eine Psyche überhaupt gibt –, ist das zweite Rätsel. Es wird als »das Problem anderer Psychen« bezeichnet. Einfach formuliert: Wenn Psychen subjektiv sind, dann können Sie nur Ihre eigene Psyche beobachten. Doch wie lässt sich dann entscheiden, ob andere Menschen (oder andere Lebewesen oder Maschinen) ebenfalls eine Psyche besitzen? Ganz zu schweigen von der Frage, ob es womöglich objektive Gesetze gibt, denen unsere Geistestätigkeit oder unser psychisches Funktionieren gehorcht.
Das vergangene Jahrhundert hat im Wesentlichen drei wissenschaftliche Antworten auf diese Fragen hervorgebracht. Naturwissenschaft beruht auf Experimenten. Dabei kommt uns zugute, dass die experimentelle Methode nicht nach einer »letzten Antwort« strebt, sondern nach der Vermutung mit dem höchsten Wahrscheinlichkeitswert. Ausgehend von unseren Beobachtungen versuchen wir, plausible Erklärungen für die beobachteten Phänomene zu finden. Mit anderen Worten: Wir formulieren Hypothesen, auf deren Basis wir dann Vorhersagen in folgender Form treffen: »Wenn Hypothese X korrekt ist, dann sollte Y passieren, wenn ich Z tue« (wobei eine begründete Aussicht besteht, dass Y unter einer anderen Hypothese nicht geschehen wird). So sieht das Experiment aus. Sollte Y nicht eintreten, zieht man den Schluss, dass X falsch ist, und revidiert die Hypothese im Einklang mit den neuen Beobachtungen. Daraufhin beginnt der experimentelle Prozess aufs Neue, bis er falsifizierbare Vorhersagen generiert, die sich bestätigen lassen. An diesem Punkt gilt die Hypothese vorläufig als korrekt, nämlich so lange, bis weitere Beobachtungen ihr widersprechen. Das heißt, dass wir in den Naturwissenschaften keine Gewissheiten erwarten, sondern uns lediglich weniger Ungewissheit erhoffen.[1]
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann die als »Behaviorismus« bezeichnete...
Erscheint lt. Verlag | 20.5.2023 |
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Übersetzer | Elisabeth Vorspohl |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Bewusstsein • Bewusstsein Körper • Bewusstseinsentwicklung • Biologie des Gehirns • Emotionen • Entwicklungsneurobiologie • Gehirnforschung • Hirnstamm • Künstliche Intelligenz • Neurobiologie • Neurophysiologie • Neuropsychoanalyse • Psychoanalyse • Psychologie • Selbstbewusstein • Sigmund Freud |
ISBN-10 | 3-608-12182-X / 360812182X |
ISBN-13 | 978-3-608-12182-7 / 9783608121827 |
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