Ankommen (eBook)
256 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-30205-4 (ISBN)
Ängste, unerfüllte Bedürfnisse oder die Unsicherheit darüber, wer wir eigentlich sind oder sein wollen, begleiten unser Leben. Gerade in Krisenzeiten quälen uns diese Lebensfragen. Wir fühlen uns verloren und heimatlos.
Wie wir innerlich Heimat finden - davon erzählt Siegfried Eckert. Er zeigt, dass das Leben ein Wachstumsprozess ist, den wir gestalten und in dem wir ein gesundes Selbst-, Welt- und Gott-Vertrauen erleben können. Feinfühlig verbindet er seine langjährige Seelsorgeerfahrung mit neuen psychotherapeutischen Ansätzen und erschließt die therapeutische Kraft biblischer Texte. Der Autor ermutigt zu einem vertrauensvollen Leben, allen Widrigkeiten unserer Zeit zum Trotz. So erschließt er religiöse Wege zu mehr innerer Ruhe, aus der die Kraft für notwendige Veränderungen und Perspektivwechsel wächst.
Siegfried Eckert, geboren 1963, studierte in Neuendettelsau, Bonn und Tübingen evangelische Theologie und war anschließend Pfarrer in Essen. Er war lange Zeit Synodalbeauftragter für den Kirchentag, Landessynodaler der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Bonn. Er ist Autor verschiedener Predigtstudien, Aufsätze und Bücher, leitete Pastoralkollegs und engagiert sich bundesweit im Bereich Kirche und Kultur. Nach dem Reformationsjubiläum gründete er das Forum Reformation. Er arbeitet gegenwärtig als Gemeindepfarrer in Leverkusen, ist verheiratet und hat drei Kinder.
»Papier zum Einwickeln von Räucherwerk duftet nach Räucherwerk, und eine Schnur zum Einwickeln von Fisch riecht nach Fisch. Ob es uns gefällt oder nicht, wir werden ganz natürlich von unserer Umgebung beeinflusst.« (Sunim, 126) Unsere Umgebung, unser familiäres Umfeld färben auf uns ab. Jeden Tag füllt sich ein weiteres weißes Papier unseres Tagebuches und auch unsere Seele wird beschrieben, ob wir es fühlen wollen oder nicht. Was mich geprägt hat, lässt sich nicht löschen, kennt keinen Reset-Knopf. Ich kann Gewicht abnehmen, Sport treiben, an meiner Fitness arbeiten, aber die Ansammlung alter Ängste, die reißenden Ströme aus Sorgen und Schrecken lassen sich nicht ungeschehen machen. Was war, muss abfließen dürfen. Meine Tränen, meine Enttäuschungen, meine Prägungen sind Teil meiner Geschichte. Im besten Falle lässt sich Vergangenes relativieren oder neu einordnen, solange mein Fluss des Lebens weiterfließt.
Heilsame Seelsorge stellt sich dem wechselhaften Verlauf unseres Lebens in drei Dimensionen: der Erinnerung, dem Moment und der Hoffnung auf bessere Zeiten. Der schwedische Literaturnobelpreisträger Tomas Tanströmer dichtet: »In meinem Schatten werde ich getragen wie eine Geige in ihrem schwarzen Kasten. Das einzige, was ich sagen will, glänzt außer Reichweite wie das Silber beim Pfandleiher.« (zit. nach: Seidel, 104) In scheuer, mystisch-lyrischer Weise umschreibt Tanströmer, was nach Gottvertrauen riecht und nach Geborgenheit für mein Schattenkind klingt: »In meinem Schatten werde ich getragen.« Ich werde getragen und aufgefangen von einem unsichtbaren Fänger; bin ein Trapezkünstler, der springt und nicht ins Nichts fällt. Wer oder was der »schwarze Kasten« ist, in dem ich »wie eine Geige getragen werde«, mag unterschiedlich sein. Am Ende ist es der Sarg, in dem ich ans andere Ufer getragen werde. Und das, was »außer Reichweite glänzt wie das Silber beim Pfandleiher«, tönt von Ferne wie ein altes Versprechen: Heimat, Ankommen, zu Hause sein. Mit den Schatten meiner Vergangenheit werde ich in eine neue Zeit getragen. In der Gegenwart Gottes darf ich erfahren, dass alles, was war, ist und sein wird, von Gott umfangen ist. Solch eine Haltung, solch ein Gehaltenwerden, erlaubt es mir, mit meinen Prägungen einen entspannteren Umgang zu finden.
Erwiesenermaßen sind es die ersten sechs Lebensjahre, die sich in unser Gehirn besonders tief eingraben. In dieser Zeit ist es am formbarsten, bilden sich Nervenbahnen neu; Weichen werden gestellt, auf denen die Züge unseres Lebens fahren. Was in dieser Zeit geschieht, hat prägende Kraft für die weitere Entwicklung eines ganzen Lebens. Man denke nur an Kinder, die durch die Corona-Zeit schmerzlich geprägt wurden. Werden in der Eröffnungsphase eines Menschenlebens die Grundbedürfnisse nicht genügend gestillt, wird es schwerer, gesund erwachsen zu werden. Dann nistet sich ein latenter Hunger des Zukurzgekommenseins ein, der nach Kompensation verlangt.
Von Klein auf entwickeln wir Strategien, unsere Bedürfnisse zu stillen. Wir tun nahezu alles, was den engsten Bezugspersonen gefällt. Nicht wie es uns, sondern wie es ihnen gefällt, heißt das Überlebensmotto der frühen Jahre. Der Anpassungsdruck kann so weit gehen, dass wir meinen, unsere Eltern bis an die Grenze der Selbstverleugnung zufriedenstellen zu müssen – ein gefährlicher ›Mussismus‹. Dabei unterdrücken wir unsere elementarsten Gefühle, packen wir unsere Enttäuschungen und Wutausbrüche, ohne sie gefühlt zu haben, in unseren emotionalen Rucksack. »Wut hat den lebensgeschichtlichen Sinn, dass wir uns selbst behaupten und unsere Grenzen verteidigen können.« (Stahl, 44) Kinder, die an der Übermacht ihrer Eltern leiden, wenn sie um ihre Aufmerksamkeit buhlen, internalisieren deren innere Glaubenssätze. Sie können lauten: »Ich darf mich nicht wehren!«, »Ich darf nicht wütend sein!«, »Ich muss mich anpassen«, »Ich darf keinen eigenen Willen haben« oder »Ich genüge nicht.«
Es ist nie zu spät, sich in der Pubertät oder im Erwachsenenalter gegen solchen Anpassungsdruck aufzulehnen. Leider haben es viele Menschen in ihrem Leben nie gelernt, erfolgreiche Gegenstrategien zu entwickeln, was sie dann zu lebenslänglichen Gefangenen ihrer kindlichen Programmierungen macht. Solche Glaubenssätze haben das Potenzial, mich jederzeit zum Getriebenen zu machen. Nie kann ich mir sicher sein, was mich triggert und unverhältnismäßig reagieren lässt. Das ist ein fragiler Zustand. Die Vulkane der Vergangenheit können jederzeit und ohne Vorankündigung ausbrechen. Ich kenne das gut, wenn meine Wut hochkocht und alles in mir mich aushebelt, wenn ich unsinnige Schlachten schlage, mir etwas falsch oder ungerecht erscheint. Blicke ich auf mein Schattenkind, steht dann der kleine Sigi vor mir, der seit Kindheitstagen den Aufstand probte, besonders gegen die als unfair empfundenen Maßnahmen der Eltern. Wut ist eine hilfreiche Kraft. Nur hilft sie nicht weiter, wenn sie Ausdruck innerer Fremdbestimmung und nicht innerer Freiheit ist. »Wut ist eine Kraft, die Großes schaffen und ebenso Großes zerstören kann. Wut ist Handlungskraft Nummer eins … Unmögliches wird möglich gemacht oder Unliebsames aus dem Weg geräumt.« (Dittmar, Gefühle, 32)
Die Propheten vermochten, mit Wut und Sprachgewalt Unglaubliches anzusagen, Unliebsames zu benennen, in Gottes Namen gegen den Strom zu schwimmen. Aber nicht immer ist es der Prophet in mir oder der Luther, der in Worms stand und sagte: »Ich stehe hier und kann nicht anders.« Viel zu oft sind es nicht verheilte Wunden aus der Kindheit, die mich wie ein HB-Männchen hochgehen lässt. »Wut entsteht als die Reaktion auf die Interpretation ›Das ist falsch‹. Ich kann die Interpretation ›Das ist falsch‹ nur dann treffen, wenn ich eine klare Position habe, da es im absoluten Sinn kein Richtig oder Falsch gibt.« (ebd.) Die Lebensphase der Pubertät, die Ablösung von elterlichen Prägungen und Einflüssen, trägt explosives Potenzial in sich. Jugendliche gehen absichtsvoll auf Distanz zu ihren Eltern, testen aus, wie es sich anfühlt, auf eigenen Füßen zu stehen. »Wut ist dann die Kraft, die es mir ermöglicht, für diese bezogene Position einzustehen und sie bei Bedarf auch zu verteidigen. Wut ist damit die Kraft der Klarheit. Ihr Feuer befähigt mich zu handeln. Durch sie gebiete ich jenen Einhalt, die meine Grenzen überschreiten, und durch sie stehe ich für meine Bedürfnisse ein.« (ebd., 34) Je erwachsener wir werden, umso mehr gehört es dazu, selbst Verantwortung für die Befriedung meiner Bedürfnisse zu übernehmen. Dazu braucht es Wut und Mut. Heilsame Seelsorge schätzt die Wutkraft. Sie freut sich an Menschen, in denen ein leidenschaftliches Herz brennt, das auch die Zwangsjacke der Konvention zu sprengen weiß. Sie ermutigt dazu, dem nachzufolgen, der nicht nur gekommen ist, Friede, Freude und Harmoniesucht zu verbreiten. »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« (Mt 10,34). In der Menschheitsgeschichte waren es die Mutigen und Unangepassten, die Veränderungen anstießen, den wahren Unterschied machten, auch durch ihren heiligen Zorn, die Wut über Unrecht und Lüge. Jesu klare Botschaft trennte die Spreu vom Weizen. »Salz der Erde«, sagte er, sollen wir in den Wunden der Welt sein. Das kann brennen und weh tun. Was geschmack-, wirkungs- und bedeutungslos ist, wird von den Leuten eh aussortiert. Heilsame Seelsorge will geschmackvoll und kraftvoll sein. Das kann schmerzhaft sein, wenn der Finger in offene Wunden gelegt wird, gerade wenn Prägungen der Kindheit berührt werden. Aber es führt zu Freiheit und Selbstbestimmung, gibt Hoffnung und Mut für die Zukunft.
1. Elterliche Empathie
»Eltern, die sich schlecht in ihre Kinder einfühlen können, haben einen schlechten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen, denn der Kontakt zu den eigenen Gefühlen ist die Voraussetzung für Mitgefühl.« (Stahl, 45) Meine Generation der geburtenstarken Jahrgänge ist umzingelt von traumatisierten Vätern und Müttern. Die Umstände der Kriegs- und Nachkriegszeit erlaubten es ihnen nicht, Zugänge zu ihren Gefühlen zu finden. Darüber ist viel geschrieben und geforscht worden. Diese Mitgift, für die keiner etwas kann, wirkt bis in die vierte Generation nach. Historisches Hintergrundwissen, das Verwobensein in kulturelle Kontexte, den Einfluss des Weltgeschehens auf unsere Gefühls- und Lebenswelten unterschätzt eine heilsame Seelsorge nicht. Viel Verdrängtes, viele Gefühlsblockaden und emotionale Dramen haben hier ihre Ursachen. Die Kriegsgenerationen zweier Weltkriege mussten hart sein, um zu überleben, den Wiederaufbau zu bewerkstelligen, im Wirtschaftswunder die Grundbedürfnisse der Sippe zu befrieden. Eltern, die andere Schicksalsschläge erfahren haben, blieb ebenfalls oft nichts anderes übrig, als ihre Gefühle zu verkapseln oder zu unterdrücken. Wie viele Beerdigungsgespräche kreisen um diese Themen? Warum waren meine Eltern so, wie sie waren? Als größter Schmerz an den Gräbern der Eltern erweist sich neben der Endgültigkeit des Todes die Erkenntnis, Unausgesprochenes nun nicht mehr für sie hörbar aussprechen oder klären zu können. Elterliches Mitgefühl und Verständnis sind nun endgültig nicht mehr zu erwarten. Mit ihrem Tod ist die Chance zu letzten Klärungen oder zum Dank verstrichen.
In den großen und kleinen Lebensgeschichten gibt es leider viel zu oft solche Momente. »Es gibt diesen Moment, in dem ein Leben kippt. All die Jahrzehnte danach läuft man weiter auf dieser schiefen Ebene, versucht hochzuklettern und rutscht doch wieder ab.« (Illies, 73) Heilsame Seelsorge kann kein Kippen rückgängig machen, die Traurigkeit über...
Erscheint lt. Verlag | 29.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | 2023 • Achtsamkeit • achtsamkeit buch • Ängste überwinden • Ankommen • Anselm Grün • Bindungsangst • eBooks • Erwachsen werden • Frieden finden • Gelassenheit • Glücklich sein • Gott • Heilsame Seelsorge • Innere Bedürfnisse • Innere Heilung • innere Heimat • Inneren Frieden finden • innere Ruhe • Jesus als Seelsorger • Jesus als Therapeut • Krisen • Lebenshilfe • Lebensmut • Motivation • Mutmach-Buch • Neuerscheinung • pater anselm grün • Positives Denken • Religiöse Lebenshilfe • Resilienz • Schutzmechanismen • Seele • Seelsorge • selbstbewusstsein stärken • Selbstfindung • Selbstliebe • Selbstreflexion • Selbstwert • Vertrauen • Was der Seele gut tut • Wenn deine Seele weint |
ISBN-10 | 3-641-30205-6 / 3641302056 |
ISBN-13 | 978-3-641-30205-4 / 9783641302054 |
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