Praxisbuch Entwicklungstrauma heilen (eBook)
Dieses Praxisbuch zeigt, wie das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM? therapeutisch angewandt werden kann, um komplexe posttraumatische Belastungsstörungen zu lösen, die Folgen belastender Kindheitserfahrungen zu behandeln und posttraumatisches Wachstum zu ermöglichen. Die Autoren erklären kurz und zugänglich die grundlegenden Prinzipien von NARM? sowie die therapeutischen Prozesse für die Auflösung von Entwicklungstraumen. Anhand von Fallbeispielen vertiefen sie, wie Therapeut*innen ihre Klient*innen gut einschätzen und begleiten können. Dieses Handbuch bietet damit allen therapeutisch Tätigen für ihre Arbeit einen wissenschaftlich basierten, gut anwendbaren, leicht verständlichen und äußerst praxisnahen Zugang.
»Dieses von zwei praxiserfahrenen und einfühlsamen Experten verfasste Buch bietet klare Einblicke in ein profundes Therapiemodell, das weit über die Symptome hinaus zu den grundlegenden Ursachen von menschlichem Leiden vorstößt.« - Gabor Maté, international renommierter Arzt und Experte
Laurence Heller, PhD in Psychologie, ist körper- und tiefenpsychologisch orientiert arbeitender Therapeut und Ausbilder mit über 40 Jahren Praxiserfahrung. Er ist Mitbegründer des NARM Training Institute sowie von NARM International. Als Begründer des Neuro Affective Relational Model? (NARM?) hat er Tausende Fachkräfte ausgebildet und wird als Experte weltweit konsultiert. Seit mehr als 20 Jahren lehr er u.a. in Deutschland am renommierten ZIST-Institut, in Österreich und der Schweiz seine eigene Methode und Somatic Experiencing®. Sein in 15 Sprachen übersetztes Buch »Entwicklungstrauma heilen« gilt als Standardwerk.
1. Die traumainformierte Bewegung
»Solange das Trauma nicht behoben ist … das Loch in der Seele … wo die Wunden begannen, arbeitet man sich am Falschen ab … Ich denke, das könnte alles verändern.«3
Oprah Winfrey
Das Gebiet »Trauma« wandelt sich. Und es wandelt sich schnell. Dank bahnbrechender Untersuchungen wie der Adverse Childhood Experiences, der (ACE)-Studie, dank erzielter Fortschritte in der Neurowissenschaft, dank einiger Pioniere auf dem Gebiet der Traumen wie Dr. Judith Herman, Dr. Bessel van der Kolk, Dr. Allan Schore, Dr. Daniel Siegel, Dr. Bruce Perry, Dr. Rachel Yehuda und anderen und auch dank eines vermehrten Erkennens und einer größeren Akzeptanz der Existenz von Traumen in unserer Gesellschaft vollzieht sich derzeit ein großes Umdenken. Gerade das neu aufgekommene Verständnis einer neuen Traumakategorie, der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, birgt das Potenzial, die psychologische Theorie und Behandlung zu revolutionieren und dabei gleichzeitig große Auswirkungen auf andere Bereiche unserer Gesellschaft zu haben.
Seit 1980, als die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)«, in Englisch Post Traumatic Stress Disorder (PTSD), erstmals in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III) der American Psychiatric Association aufgenommen wurde, ruht der Fokus in Sachen Trauma auf PTBS – dem, was wir hier Schocktrauma nennen werden. Die Diagnose PTBS beschreibt ein Individuum, das ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis durchlebte oder einem solchen ausgesetzt war, das zu drei Kategorien von Symptomen führte: 1) ein erneutes Durchleben, unter anderem in Form von Flashbacks und Albträumen; 2) Vermeidungsverhalten, darunter ein Sich-Absondern von anderen und Selbstmedikamentierung; und 3) Übererregungszustände, unter anderem mit Hypervigilanz, Panik und heftiger Wut. In der neuesten Fassung der DSM-Kriterien wurde diese Diagnose dahingehend aktualisiert, eine zusätzliche Kategorie mit aufzunehmen: 4) negative kognitive und Stimmungsveränderungen, darunter übersteigert negative Glaubenssätze bezogen auf sich selbst und andere sowie Schwierigkeiten, positive Emotionen zu erleben.4
So revolutionär dieses Verständnis von PTBS innerhalb der Psychologie gewesen ist und so sehr es die Anerkennung von Traumen in der Mainstream-Kultur eingebracht hat – nun taucht rasant eine neue Auffassung von Traumen auf.
Es ist eine sich unentwegt fortsetzende Anomalie, dass sich die aktuellen Leitlinien für die Behandlung von Traumen auf die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) beziehen und unzureichend sind, um den vielen Dimensionen komplexer Traumen gerecht zu werden. Die Unterschiede zwischen komplexem (kumulativem, interpersonell generiertem) Trauma und einem »einmaligen, auf einen Einzelvorfall zurückgehenden« Trauma (PTBS) sind gravierend. Untersuchungen haben zudem nicht nur gezeigt, dass »die Mehrheit derer, die sich wegen traumabezogener Probleme in Behandlung begeben, in ihrer Vorgeschichte mehrfache Traumen aufweisen«, sondern dass diejenigen, die eine komplexe Traumatisierung erfahren haben, »negativ auf derzeitige standardmäßige PTBS-Behandlungen reagieren können«. Insofern besteht eindeutig ein dringender Bedarf an klinischen Leitlinien, die auf die Behandlung des vielschichtigen Syndroms abzielen, mit dem wir es bei einem komplexen Trauma zu tun haben.5
Das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NARM) ist eines der ersten Therapiemodelle, das ein eigens auf die Behandlung komplexer Traumen – oder, wie sie jetzt offiziell genannt werden, die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (K-PTBS) – abgestimmtes Grundgerüst und entsprechende klinische Orientierungspunkte bietet.6 Während andere Therapiemodelle dabei sind, ihre Behandlungsprotokolle so anzupassen, dass sie geeignet sind, um belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) und komplexe Traumen anzugehen, wurde NARM von vornherein dafür konzipiert, den langfristigen Auswirkungen von ACEs und K-PTBS zu begegnen.
Um herauszustellen, wie nützlich NARM bei Ihrer Arbeit an komplexen Traumen sein könnte, präsentiert dieses Kapitel einen Überblick über die aktuelle Landschaft der Traumatherapie, einige der wichtigen Unterschiede zwischen PTBS und K-PTBS und den Bedarf an neuen Therapiemodellen, die speziell darauf angelegt sind, die Komplexitäten einer K-PTBS anzugehen, darunter Bindungs-, Beziehungs-, Entwicklungs-, kulturelle und intergenerationale Traumen sowie posttraumatisches Wachstum.
Was macht die traumainformierte Bewegung aus?
Die von uns angesprochene Revolution innerhalb der Psychologie läuft oft unter dem Namen »traumainformierte Pflege, Begleitung und Therapie«. Manche gebrauchen lieber den Begriff »traumasensibel« oder »traumasensitiv«. Im Laufe der letzten gut vierzig Jahre hat die wachsende Anerkennung von Traumen unser Verständnis von psychischer Gesundheit sowie unsere Behandlungsansätze signifikant verändert. Zudem wird mittlerweile auch jenseits der Psychologie ein traumainformierter Ansatz verfolgt: im Gesundheits- und Sozialwesen, in der Pflegeunterbringung, im Bildungswesen, bezogen auf Organe der öffentlichen Ordnung, in der Suchttherapie, in der Strafjustiz, im Strafvollzug, in der Versorgung von Veteranen und Angehörigen der Streitkräfte, bei den Rettungsdiensten, bei humanitären Hilfseinsätzen, in Verbindung mit Coaching, Fitness, Yoga, Meditation sowie in religiösen und spirituellen Zentren. Traumainformierte Programme lassen sich aufgrund des hier praktizierten ganzheitlichen Herangehens an Gesundheit und Wohlbefinden, das die mentale, emotionale, physische, beziehungsmäßige, soziale und sogar spirituelle Ebene des menschlichen Daseins umfasst, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen einsetzen.
Bei der traumainformierten Begleitung handelt es sich um eine breite Palette von Prinzipien, die darüber entscheiden, wie Hilfsangebote erbracht und Einzelpersonen und bestimmte Gesellschaftskreise unterstützt werden. Hier ein paar Beispiele: Viele Suchthilfezentren haben erkannt, dass die von ihnen angebotene Behandlung nur begrenzt wirksam ist und dass die Rückfallquote hoch bleibt, solange sich Patient*innen nicht mit dem unbewältigten Trauma hinter ihrem Suchtverhalten auseinandersetzen. In den Vereinigten Staaten gibt es ausgeprägte Bemühungen, ein stärker traumainformiertes Verständnis in den Strafvollzug und das Strafrecht einzubringen, wo ein überproportional hoher Anteil von straffällig Gewordenen aus niedrigen Einkommensschichten stammt, einer Minderheit angehört oder beides, oft zudem mit einer umfassenden Vorgeschichte komplexer Traumen. In vielen Arbeitsumfeldern, vor allem solchen, wo sich eine große Population von Angehörigen aus Helferberufen findet – etwa in der Sozialarbeit, dem Bildungswesen, der Pflege und in anderen Bereichen des Gesundheitswesens – haben die Gesundheit und das Wohl der Belegschaft bislang keine sonderliche Priorität. Es besteht in diesen Kreisen ein hohes Risiko für Sekundärtraumatisierungen, Burn-out und Substanzmissbrauch, oft gefolgt von belastenden Rechtsstreitigkeiten um Leistungen, die den Arbeitsausfall auffangen und einer Stigmatisierung und Entfremdung durch Arbeitgeber und Kollegenkreis. Einrichtungen wie ein »Tag der psychischen Gesundheit« und gelegentliche Erinnerungen daran, auch gut für sich selbst zu sorgen, sind zwar immerhin ein Anfang, greifen aber zu kurz, wenn es darum geht, wie Trauma und berufliches Tun zusammenspielen.
Vielleicht eines der bekanntesten Beispiele für traumainformierte Begleitung findet sich in dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Paper Tigers. Jim Sporleder, Direktor der Lincoln Alternative High School in Walla Walla, Washington, wohin man gern die besonderen »Problemkinder« schickte, stand vor einem alarmierenden Ausmaß an Schulschwänzen, Substanzmissbrauch, Teenager-Schwangerschaften, Schlägereien, Gang-Aktivitäten und kriminellem Verhalten. Diese Zustände waren für Sporleder und sein Kollegium erdrückend und sie waren unsicher, welche Verbesserungsmöglichkeiten sie noch ausschöpfen könnten. Eines Tages erfuhr der Direktor von brandneuen Studien zu belastenden Kindheitserfahrungen und komplexen Traumen, was ihn veranlasste, für seine Schule statt der Ergebnisse von Klassenarbeiten etc. einen traumainformierten Ansatz in den Mittelpunkt zu stellen. Als den Lehrkräften bewusst wurde, dass Kinder mit unbewältigten Traumen Konzentrations- und Lernschwierigkeiten haben, und dass dies sowie störende Verhaltensweisen Symptome von Traumatisierung waren, wurde schnell klar, dass sie etwas an ihrem Unterricht und ihren Interaktionen mit ihren Schülern ändern mussten. Statt auf strikte Disziplin und Bestrafung zu setzen, um abweichendes Verhalten in den Griff zu bekommen, wurde den Kindern mit Neugier, Interesse, Mitgefühl und Akzeptanz begegnet. Indem Festnahmen und vorübergehende Schulverweise durch einfühlsames Nachhören und Beratungsgespräche ersetzt wurden, gelang es, die mit der Traumatisierung verbundenen tiefer liegenden Verletzungen hinter den problematischen Verhaltensweisen der...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Übersetzer | Silvia Autenrieth |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Practical Guide for Healing Developmental Trauma |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | 2023 • Achtsamkeit • aline lapierre • Behandlung • Bewältigung • Beziehungstrauma • Bindungsstörung • Dissoziation • eBooks • Embodiment • emotionale Verletzungen heilen • Entfaltung • Entwicklungspsychologie • Entwicklungstraumatisierung • Heilung • Kindheitsverletzungen • Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung • Körpertherapie • Körper Trauma • K-PTBS • Luise Reddemann • Medizin • Neuerscheinung • NeuroAffective Relational Model • NeuroAffektives Relationales Modell • Peter Levine • Posttraumatische Belastungsstörung • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychotherapie • Psychotraumatologie • Selbstregulierung • Somatic Experiencing • Traumafolgestörung • Traumaheilung • Traumatherapie • Traumatisierung • Überlebensstrukturen |
ISBN-10 | 3-641-29876-8 / 3641298768 |
ISBN-13 | 978-3-641-29876-0 / 9783641298760 |
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