Illusion, Desillusionierung und Ironie in der Psychoanalyse (eBook)
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12148-3 (ISBN)
John Steiner ist Lehranalytiker der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und nach langjähriger Tätigkeit als Consultant Psychotherapist an der Tavistock Clinic in London heute in freier Praxis tätig. Er gilt als einer der interessantesten Theoretiker für das Verständnis pathologischer Persönlichkeitsstrukturen.
John Steiner ist Lehranalytiker der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und nach langjähriger Tätigkeit als Consultant Psychotherapist an der Tavistock Clinic in London heute in freier Praxis tätig. Er gilt als einer der interessantesten Theoretiker für das Verständnis pathologischer Persönlichkeitsstrukturen.
Geleitwort von Jay Greenberg
In diesem Band entwickelt John Steiner die bahnbrechenden Ideen weiter, die er in seinem mittlerweile klassischen Buch Psychic Retreats vorgestellt hat. Er beschäftigte sich in diesem Buch mit einer bestimmten Gruppe von Patienten, die im Allgemeinen als schwer behandelbar gelten. Diese schwer gestörten Patienten sind nicht in der Lage, den Schmerz eines auch nur minimalen Kontakts mit der Realität zu ertragen, auch nicht in der Begegnung mit dem Therapeuten, an den sie sich in der Hoffnung auf Linderung ihres Leidens gewandt haben. Daher haben sie sich in die Sicherheit aufwendig konstruierter seelischer Zufluchtsorte zurückgezogen, die ihnen eine illusorische Befriedigung bieten.
Steiners vorsichtig erkundende, mitfühlende und immer sehr differenzierte Vorschläge für den Umgang mit diesen Patienten haben eine ganze Generation von Analytikern durch einige der schwierigsten Momente ihrer Arbeit begleitet. Und nun hat der Autor, überraschend und hilfreich für uns alle, dargelegt, dass seine Ausführungen nicht nur auf seine Patienten, sondern in einem weiteren Sinn auf uns alle zutreffen. Über das Bedürfnis, sich in eine Welt der Illusionen zurückzuziehen und ein persönliches Paradies zu schaffen, schreibt er: »Dasselbe gilt für uns, denn auch wir sind Patienten und haben ernsthafte Probleme mit der Realität« (S. 196, Don Quijote).
Manche dieser schwerwiegenden Probleme sind, wie Steiner uns zeigt, individuell sehr spezifisch und beruhen auf leidvollen Erfahrungen mit Grausamkeit oder Vernachlässigung. In den Gründungsmythen der westlichen und anderer Kulturen kommen sie und auch die emotional komplexen Folgen einer brutalen Behandlung beredt zum Ausdruck. Ödipus war, wie Steiner schreibt, ein traumatisiertes Kind. Was ihm zugefügt wurde, erwies sich als noch gravierender, als die Menschen, die ihm am nächsten standen, stillschweigend übereinkamen, die ihm zugefügten Traumata zu verleugnen.
Andere schwerwiegende Probleme sind inhärente und unvermeidliche Aspekte des Menschseins. Die Tatsachen des Lebens, die wir ignorieren, wenn wir uns in Illusionen vom Paradies zurückziehen, »beinhalten auch die Erkenntnis, dass Zeit nie stillsteht. Der Schock der Desillusionierung kann traumatisch sein, weil uns das Vergehen der Zeit nicht nur zu erkennen zwingt, dass alle guten Dinge irgendwann vorbei sind, sondern dass dies auch für das Leben selbst gilt« (S. 126).
Weil wir nicht nur in eine unaufhaltsam voranschreitende Zeit eingebettet sind, sondern auch in die unausweichliche Vergänglichkeit all dessen, was wir lieben, und unserer eigenen Sterblichkeit ausgesetzt sind, stehen wir ständig vor der Aufgabe, mit den uns gesetzten Grenzen zurechtzukommen, Grenzen, die uns in Verbindung mit unseren Möglichkeiten ausmachen. Man könnte auch sagen, dass wir immer (wenn auch selten bewusst) mit einem Trauerprozess beschäftigt sind. Die Herausforderung besteht darin, diese Trauer zuzulassen und unsere Verluste auf eine Weise durchzuarbeiten, die uns ein kreatives Leben ermöglicht.
In einem Bild, auf das Steiner in seinem Buch mehrfach zurückkommt, beschreibt er die beiden Vertreibungen, die das Thema von Miltons Paradise Lost sind. Adam und Eva betrauern den Verlust des Paradieses und akzeptieren ihre Erniedrigung und ihre Schuldgefühle, was ihnen letztendlich ermöglicht, sich auf die Realität einzustellen, in der sie sich wiederfinden, und ihre Möglichkeiten zu nutzen. Die Befriedigung durch Arbeit, die Freuden der Sexualität und auch die schönen Aspekte des Lebens in einer sich ständig verändernden Welt können erfüllender sein als das Leben ohne jede Anstrengung in einem statischen Paradies, wie sie es hinter sich gelassen haben. Luzifer dagegen ist nicht in der Lage, mit irgendeinem der Gefühle zurechtzukommen, die der Verlust seiner idealisierten Beziehung zu Gott oder die Verbannung aus dem Himmel in ihm ausgelöst haben. Die Folge ist, dass das Licht erlischt – buchstäblich in seinem Namen, da er von nun an Satan genannt wird, und in der Welt der Dunkelheit, in der er zwar herrscht, aber auf ewig eingeschlossen ist.
Aber Steiner ist ein viel zu scharfsinniger und ruheloser Denker, um sich mit dieser Darstellung oder überhaupt mit einer einzelnen Geschichte zufriedenzugeben. Er ist in den Jahren, seit er Psychic Retreats geschrieben hat, immer mehr zu der Auffassung gelangt, dass Illusionen eine wichtige Rolle in unser aller Leben spielen. Denn Illusionen sind, auch wenn sie pathologisch sein können und zu Abwehrzwecken eingesetzt werden, unentbehrlich. Auch wenn sie uns davon abhalten, die Schönheiten der Realität samt ihrer Vergänglichkeit in vollem Umfang zu genießen, gewähren sie uns doch den Trost und die Befriedigung, die wir zeitweise brauchen. Steiner zeigt uns, »dass wir hin und wieder nicht umhinkommen, der Wahrheit auszuweichen und eine Illusion zu akzeptieren, dass wir uns aber der Wahrheit über uns selbst und unsere Welt stellen müssen, wenn wir uns weiterentwickeln wollen« (S. 21, Einleitung).
Es wäre ein Fehler, diesen Prozess trotz seiner Auswirkungen auf die Entwicklung für einen Vorgang zu halten, der auch nur annähernd linear verläuft. In Steiners Vision ist nichts einfach linear; alles ist sowohl das eine als auch das andere, was diejenigen unter uns, die zu einer ironischen Sichtweise in der Lage sind, am meisten zu schätzen wissen. Dies gilt sowohl für unsere klinische Arbeit als auch für unser Leben außerhalb unserer Praxisräume. Steiner ist ein Meister darin, uns vor Augen zu führen, dass der analytische Prozess, trotz all seiner technischen Aspekte, vor allem eine Begegnung zwischen zwei Menschen ist, die beide ihre Hoffnungen, Kämpfe und Verletzlichkeit mitbringen.
Infolgedessen betrachtet Steiner die psychoanalytische Situation mit einer Tiefe und Nuanciertheit, die im psychoanalytischen Diskurs immer selten anzutreffen war. Nicht nur die Patienten brauchen und erleben Illusionen, schreibt er, sondern auch die Analytiker. Und die Illusionen des Analytikers entspringen nicht einfach seiner Gegenübertragung, wie sie konventionell verstanden wird. Wir sollten bedenken: Jedes Mal, wenn wir durch einen Akt der mitfühlenden Vorstellungskraft Zugang zum inneren Erleben eines Patienten haben, freuen wir uns über eine Illusion der Nähe, die auf einem Gefühl der Omnipotenz beruht. Und jedes Mal, wenn wir uns daraus wieder lösen und betrachten, was wir gemacht haben, müssen wir uns dem Verlust der Illusion, an der wir uns erfreut haben, stellen und ihn betrauern.
Da der Analytiker aufgrund seines Menschseins Illusionen genauso unterworfen ist wie jeder andere auch, muss er immer darauf achten, auf welche Weise er seine Patienten beeinflusst. Im 3. Kapitel spricht Steiner in einer wundervollen Formulierung über den »Analytiker als Eiferer« (S. 97) und erinnert uns daran, dass unsere Illusionen sich verzerrend auf unsere Wahrnehmung der Komplexität des analytischen Prozesses und der analytischen Veränderungen auswirken können. Mit selten zu erlebender Weisheit und Bescheidenheit erinnert der Autor uns daran, dass es immer schwer zu unterscheiden ist, ob der Patient die Realität akzeptiert oder sich der (analytischen) Autorität unterworfen hat; unsere persönlichen Illusionen können dazu führen, dass wir blind sind für dieses Problem.
Der beste Schutz davor sei, so lehrt Steiner, uns um eine ironische Sichtweise zu bemühen, die es uns ermöglicht, empathisch auf unsere Analysanden einzugehen und sie gleichzeitig aus der Perspektive des Außenstehenden zu beobachten. Eine ähnliche Perspektive sollten wir, so Steiner, auch in Bezug auf unser eigenes Beteiligtsein einnehmen. In einer Passage, die nur von einem Analytiker geschrieben werden konnte, der sich ein Leben lang mit der Macht und den Qualen unserer Methode auseinander gesetzt hat, schreibt er, »dass ein Sinn für Ironie uns in diesen Fällen Schutz bieten kann, weil er uns immer auf etwas Lächerliches und Komisches in unserer eigenen Haltung aufmerksam macht und uns so davor bewahren kann, uns selbst allzu ernst zu nehmen« (S. 98, 3. Kapitel).
Obwohl Steiner bei vielem, was er zu sagen hat, auf Beispiele aus klassischen Werken der Literatur zurückgreift, um seine Auffassung von der Universalität von...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2023 |
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Übersetzer | Antje Vaihinger |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Psychoanalyse / Tiefenpsychologie |
Schlagworte | Affektregulation • Borderline • Neurose • Persönlichkeitsstörungen • Psychoanalyse • Psychodynamik • Psychose • Psychotherapie • Seelischer Rückzugsort • Therapeutische Haltung • Therapeutisches Setting • Tiefenpsychologie • Traumatherapie |
ISBN-10 | 3-608-12148-X / 360812148X |
ISBN-13 | 978-3-608-12148-3 / 9783608121483 |
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