Dimensionen psychotherapeutischen Handelns (eBook)
160 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-11996-1 (ISBN)
Gerd Rudolf, Prof. Dr. med. em., Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bis 2004 Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Mitbegründer der OPD und Sprecher der OPD-Achse »Struktur«. Hauptarbeitsgebiete: Konzeptbildung, empirische Therapieforschung (psychoanalytische Langzeittherapie) und Qualitätssicherung im Bereich der psychodynamischen Psychotherapien. 2004 Auszeichnung mit dem Heigl-Preis für seine Verdienste um die Psychotherapie und Psychosomatik in Deutschland. Bis dato supervisorisch tätig für psychodynamische Psychotherapien.
Gerd Rudolf, Prof. Dr. med. em., Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bis 2004 Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Mitbegründer der OPD und Sprecher der OPD-Achse »Struktur«. Hauptarbeitsgebiete: Konzeptbildung, empirische Therapieforschung (psychoanalytische Langzeittherapie) und Qualitätssicherung im Bereich der psychodynamischen Psychotherapien. 2004 Auszeichnung mit dem Heigl-Preis für seine Verdienste um die Psychotherapie und Psychosomatik in Deutschland. Bis dato supervisorisch tätig für psychodynamische Psychotherapien.
2 Das diagnostische System OPD und seine therapeutischen Konsequenzen
2.1 OPD: die Konfliktdynamik
Im Jahr 1992, zehn Jahre nach der im vorigen Kapitel erwähnten Untersuchung, initiierte eine Gruppe von Hochschullehrern der Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin zusammen mit ihren Mitarbeitern (ca. 40 Personen) ein Projekt, das zum Ziel hatte, ein Dokumentationssystem zu entwerfen, das geeignet ist, die Unschärfe psychotherapeutischer Beschreibungen dadurch zu überwinden, dass die wichtigsten Konzepte operational definiert und wissenschaftlich untersucht werden können. Bezogen auf beobachtungsnahe psychodynamische Konstrukte wurden fünf diagnostische »Achsen« definiert: Krankheitserleben; Beziehung; Konflikt; Struktur und Diagnose. Zu diesen Themen wurden Arbeitsgruppen gebildet, deren Ziel es war, beobachtbare und überprüfbare Beschreibungen psychodynamischer Vorgänge auf den fünf genannten Achsen herauszuarbeiten und dazu Manuale zu entwerfen. Das erste erschien 1996 und hieß »Operationalisierte psychodynamische Diagnostik. Grundlagen und Manual« (AG OPD).
Eine wichtige Arbeitsgrundlage bildeten anfangs Videoaufzeichnungen von Patienten-Interviews. Anhand solcher Videos wurden in den einzelnen selbstständig arbeitenden Achsen-Gruppen Listen von beobachtungsnahen psychodynamischen Konzepten und ihren Definitionen entwickelt.
Das klingt sehr nüchtern und trocken, hatte aber auch etwas Spielerisches und damit eine geradezu begeisternde Wirkung auf die Beteiligten. Im Unterschied zu manchen Projekten, an denen das Interesse bald auch wieder erlischt, hat sich die Arbeitsgruppe OPD über nunmehr 30 Jahre sehr lebendig weiterentwickelt. Es entstanden zahlreiche Publikationen, anfangs Erfahrungsberichte, später umfassende Darstellungen, die den Charakter von Handbüchern haben und angesichts eines sehr breiten Interesses in viele, auch für uns sehr ferne Sprachen übersetzt wurden, z. B. asiatische und osteuropäische.
In dem psychodynamischen Krankheitsverständnis stand bekanntlich lange Zeit das Thema der unbewussten konflikthaften Vorgänge im Vordergrund. Gemeint sind einander widerstrebende Bedürfnisregungen, die Menschen aus ihrem bewussten Erleben ausblenden: »Ich möchte in einer sicheren Bindung leben und möchte frei und unabhängig leben.« Das klingt fast harmlos, aber innere Konflikte, die inhaltlich nicht deutlich wahrgenommen, sondern als diffuse Spannungszustände erlebt werden, sind quälend für das subjektive Erleben der Patienten und beeinträchtigend für ihr Lebensgefühl und speziell für ihre Beziehungsgestaltung.
EIN KONFLIKT-BEISPIEL
Eine in einer schwierigen Beziehung zu ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsene Patientin bindet sich an einen bedürftigen Mann, der in einer partiell überwundenen Drogenproblematik immer wieder rückfällig zu werden droht. Das Paar schwankt ständig zwischen den Optionen, endlich zu heiraten oder sich endgültig zu trennen und einen anspruchsvollen Berufsweg einzuschlagen (die Frau) bzw. sich endgültig der Drogenabhängigkeit zu überlassen oder für alle Zeiten abstinent zu werden (der Mann). Das Destruktive eines solchen unbewussten Konflikts liegt darin, dass es den Betroffenen nicht möglich ist, ihr Problem bewusst ins Auge zu fassen und eine Entscheidung herbeizuführen. Die erwähnte Patientin möchte gern frei, selbstständig und erfolgreich leben (was sie aber aus inneren Gründen nicht darf), und sie möchte endlich bei einem verlässlichen Partner Geborgenheit finden (was es nach ihrer Lebenserfahrung aber nicht geben kann).
Bewusste Konflikte sind im menschlichen Leben ubiquitär und unvermeidlich, Menschen leiden darunter, aber sie können auch Lösungen finden und Entscheidungen treffen. Krank machend sind die nicht bewussten, innerlich lange Zeit mitgetragenen Konfliktthemen, für die es keine Lösungen geben kann, solange sie unbewusst bleiben. Psychodynamische Psychotherapie verfolgt das Ziel, solche unbewussten Konflikte dem bewussten Erleben zugänglich zu machen und für sie bewusst verantwortete Entscheidungen zu finden.
Die OPD-Achse Konflikt befasste sich mit Themen wie: Welche Konflikte gibt es, wie verlässlich kann man sie diagnostizieren, auf welche Weise werden sie aus dem bewussten Erleben abgewehrt? Welche Rolle spielen dabei Aspekte des Charakters, der Persönlichkeitsstruktur, speziell der Abwehr, und wie können diese diagnostisch erfasst werden? Als die wichtigsten psychodynamischen, klinisch bedeutsamen Konfliktthemen beschreibt die OPD folgende Konstellationen:
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Der Individuations-Abhängigkeitskonflikt (K1) ist auf der Symptomebene gekennzeichnet durch existenzielle Angst. Seine Konfliktspannung besteht zwischen dem Bedürfnis nach großer Nähe einerseits und emotionaler Unabhängigkeit andererseits.
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Der Unterwerfungs-Unabhängigkeitskonflikt (K2) ist von Ärger- und Schamaffekten geprägt. Die einander konflikthaft gegenüberstehenden Bedürfnisse sind die nach gehorsamer Unterordnung versus ärgerlicher Auflehnung.
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In dem Versorgungs-Autarkiekonflikt (K3) kollidieren Geborgenheitswünsche mit dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung, begleitet von Affekten von Trauer und Enttäuschung.
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Der Selbstwertkonflikt (K4) resultiert aus dem Nebeneinander von idealisierenden und entwertenden Selbstzuschreibungen, begleitet von Affekten der Scham und der narzisstischen Wut.
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Der Schuldkonflikt (K5) entspringt aus der Bereitschaft, Verantwortung und Schuld zu übernehmen bzw. diese zugleich entschieden und vorwurfsvoll zurückzuweisen.
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Der ödipale Konflikt (K6) gründet in der Zwiespältigkeit gegenüber der eigenen psychosexuellen Identität, die forciert herausgehoben bzw. abgewehrt und verschleiert wird.
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Der Identitätskonflikt (K7) zeigt als Ausdruck widersprüchlicher innerer Bewertung Aspekte der Überbetonung der eigenen Identität einerseits und andererseits des weitgehenden Verzichts darauf.
Allen Konfliktthemen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie für Außenstehende deutlich erlebbar sind und Beziehungen konflikthaft gestalten, während die Betroffenen selbst keinen bewussten Zugang zu dieser ihrer inneren Widersprüchlichkeit haben und sich selbst eher als Opfer einer verständnislosen Welt sehen.
2.2 Die Diagnostik der Beziehungsdynamik nach OPD
Ein weiterer diagnostischer Zugang zu der Psychodynamik der Patienten fokussiert auf ihr Beziehungserleben. Hier unterscheidet die OPD zwei klinisch bedeutsame polare Muster. Sie sind vergleichsweise leicht zu erfassen und zugleich von großer Bedeutung für das therapeutische Verständnis der Patienten und ihrem Selbstverständnis.
Patient erlebt sich vs. Patient erlebt andere
Dieses Gegensatzpaar beschreibt das bewusste Erleben des Patienten, so z. B. das eigene wohlwollende Bemühen, während er sich seiner eigenen, z. B. kritisch distanzierenden, aggressiv fordernden Haltung nicht bewusst ist. Auf der Gegenseite des genannten Beispiels stünden die von ihm erlebte lieblose Kritik und das Desinteresse der anderen, wohingegen ihm deren wohlwollendes Engagement nicht zugänglich ist, sodass er letztlich in einer neurotischen Opferposition verharrt.
Ein zweites Beziehungsmuster betrifft die Patient-Therapeut-Beziehung und ermöglicht damit zugleich einen Blick auf die Gegenübertragung der Therapeutin: Sie erlebt den Patienten in seinem stereotypen Verhalten; sie macht sich bewusst, wie sie selbst emotional darauf reagiert. Dadurch kann sie sich bewusst machen, was das unbewusste Verhalten des Patienten in ihr (und vermutlich auch in anderen Menschen) typischerweise an Gegenübertragungsgefühlen und -impulsen auslöst.
Während Menschen in Alltagskontakten meist bemüht sind, diese Empfindungen, vor allem wenn sie negativ getönt sind, unter Kontrolle zu halten und nicht allzu empfindlich zu reagieren, ist es für TherapeutInnen wichtig, gerade diese unterschwelligen Beziehungssignale wahrzunehmen, zu reflektieren, ihre Entstehungsgeschichte zu verstehen...
Erscheint lt. Verlag | 14.1.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Anthropolgie • Diagnostik Psychodynamik • Gerd Rudolf • Gerd Rudolf Lebenswerk • Karl Jaspers • Philosophie und Psychoanalyse • Philosophie und Psychologie • Psychodynamik • Psychotherapeutisches Denken • psychotherapeutisches Handeln • strukturbezogene Psychotherapie • Supervision |
ISBN-10 | 3-608-11996-5 / 3608119965 |
ISBN-13 | 978-3-608-11996-1 / 9783608119961 |
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