Animalische und narzisstische Liebe (Leben Lernen, Bd. 338) (eBook)
168 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12163-6 (ISBN)
Wolfgang Schmidbauer, Dr. phil., Psychoanalytiker, Psychotherapeut für Einzel- und Paartherapie, lebt in München und Dießen am Ammersee und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Fach- und Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, ist er auch Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Er ist Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.
Wolfgang Schmidbauer, Dr. phil., Psychoanalytiker, Psychotherapeut für Einzel- und Paartherapie, lebt in München und Dießen am Ammersee und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Fach- und Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, ist er auch Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Er ist Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.
Einleitung
Die Analysandin, eine 50-jährige Akademikerin, hat mit einem langjährigen Freund einen schönen Abend entworfen: gemeinsam kochen, bei Kerzenlicht essen, Gespräche, je nach Stimmung auch Sex. Es ist seine Küche, er ist stolz auf seine Geräte und faucht sie an, als sie mit dem Messer ein Stück Gemüse in der Pfanne zerkleinert, pass doch auf, die Beschichtung geht kaputt. »Er hat mich so aggressiv angeschaut, hat richtig gefunkelt, ich hab ihm doch nichts getan, die Stimmung war verdorben, ich hatte wenig Appetit, hab mich so durch den Abend geschleppt, er war dann wieder ganz lieb, ich wollte aber nicht bleiben, er hat mir noch angeboten, mir die Reste des Auflaufs einzupacken. Aber ich glaube, es wird nichts mit uns, er ist einfach nicht der Richtige.«
»In solchen Konflikten«, sage ich hinter der Couch, »gibt es eine animalische und eine romantische oder narzisstische Lösung.«
»Und die wären?«
»Animalisch ist es, sich anzuknurren und sich dann wieder zu vertragen, als ob nichts gewesen wäre. Narzisstisch ist es, den Konflikt festzuhalten und nach einer Möglichkeit zu suchen, dass er sich niemals wiederholt. Das wäre dann das romantische Ideal.«
»Dann suche ich doch eher nach der narzisstischen Lösung.«
Diese ängstlich getönte Suche der Analysandin lässt sich mit ihrer frühen Erfahrung einer nicht belastbaren Mutter verbinden: Die Tochter fühlte sich nicht in ihren Emotionen beschützt. Sie war zu selten sicher, ob sie auch nach Äußerungen von Ärger und Distanzbedürfnis die wohlwollende Mutter wiederfinden würde. So verbinden sich frühe Erfahrung und romantische Sehnsucht: Das romantische Ideal lässt sich nur dadurch stabilisieren, dass es verloren und wiedergefunden werden darf.
Rein psychologisch, ohne Wissen um Geschichte und Soziologie, lässt sich das romantische Ideal nicht verstehen. Es besteht aus Zitaten, aus Erwartungen, welche frühere Gesellschaften aus mündlichen, später schriftlichen Traditionen schöpften, während heute die optischen Medien, Film und Video dominieren. Die erotische Bindung beruht auf einer Idealisierung, die sich aus dem aufbaut, was das Ich über die Liebe weiß. Diese Idealisierung wurde in traditionellen Kulturen durch starke Normen für Männer und Frauen stabilisiert; es gab in diesen Normen keine Homoerotik, keine Bisexualität.
Der Schritt zur romantischen Bindung ist auch einer aus diesen Normen heraus, in eine Vielfalt hinein, die zu dem neuen Modus der individualisierten Gesellschaft gehört: Es geht jetzt um Entwicklung, um Vielfalt, um Selbstverwirklichung. Die idealisierte Bindung wird weniger durch Normen, mehr und mehr durch Empathie aufrechterhalten. Das bedeutet mehr Freiheit und mehr offenkundiges Scheitern: Ehen sind jetzt »zerrüttet«, wenn Partner miteinander unzufrieden sind; die Suche nach einem Schuldigen tritt zurück.
Die Komponenten der Liebe
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Das Animalische verbindet den Menschen mit den Säugetieren und äußert sich unter anderem in der Nähe und Aufmerksamkeit, mit der wir Tiere beobachten, sie in unseren Haushalt aufnehmen, uns mit ihnen identifizieren und ihnen nahe fühlen. Es ist geprägt vom Erleben der aus dem Körperinneren stammenden Erfahrungen von Lust und Unlust, die Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Schutz vor Kälte und Hitze steuern. Es schafft unkomplizierte, leicht nachvollziehbare Verbindungen zwischen Innen- und Außenwelt.
Das Animalische macht »gleich« – alle Menschen kennen Hunger und Durst, jeder »muss mal«. Die Beobachtung von Tieren ist ein Lehrmeister der von der Lebensphilosophie gepriesenen Fähigkeit des carpe diem1, sich ganz dem Augenblick hinzugeben. Tiere untereinander behandeln verlässlich Kinder wie Kinder und Erwachsene wie Erwachsene. Symbiotische Zuwendung endet klar. Die Nähe-Distanz-Regulierung zwischen Erwachsenen hat eine impulsive Grundlage. Sobald das Tierkind selbst für sich sorgen kann, reagiert die Mutter eindeutig abweisend, wenn es Nähe sucht und Milch haben möchte. Die romantische Auffassung der Liebe imaginiert hingegen einen Dauerzustand wechselseitiger Empathie und bietet dadurch Ansatzpunkte für Fixierungen und Ansprüche, die dem animalischen Modell fremd sind.
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Die narzisstische Komponente wird vom Erleben eines kulturell vermittelten Selbstbildes getragen, das Scham- und Schuldgefühle bewachen. Während in der psychiatrischen und auch in der testpsychologischen Tradition Narzissmus als Störung angesehen wird, die durch Eitelkeit, Mangel an Empathie und durch exzessives Geltungsbedürfnis charakterisierbar ist, untersucht die Psychoanalyse vor allem die Entwicklung des Selbstgefühls und seine Verbindung zum Erleben von Beziehungen, die es festigen oder gefährden.
Die narzisstische Störung fällt vor allem dann auf, wenn das Selbstgefühl nicht durch Austausch nach dem Motto gelten und gelten lassen gefestigt wird, sondern durch Raubbau: Wie kann ein grandioses Ego möglichst viel Geltung ohne Rücksicht auf andere sammeln? Die animalische Steuerung des Verhaltens mit ihren klaren, impulsiven und hedonistischen Strukturen kann die komplexen narzisstischen Bedürfnisse integrieren, wenn das kleine Kind sich beschützt und in seinen vitalen Äußerungen angemessen gespiegelt erlebte. Wo das nicht der Fall war und die autoerotischen Orientierungen instabil bleiben, droht die Gefahr, dass die lebenserhaltenden animalischen Steuerungen nicht zuverlässig arbeiten. Narzisstische Modelle erleben die animalischen Forderungen als Gefahr. Sie entwerfen ideale Bilder und suchen von außen her Körper und Psyche zu formen, wie im Fall der Essstörungen oder der Geschlechtsdysphorie. Eine narzisstische Orientierung fragt, was richtig ist, was falsch, während eine animalische Lust sucht. Narzisstische Haltungen neigen zur Kompromisslosigkeit, zu Stolz, Vorurteil und Rachsucht. Eine animalisch fundierte Orientierung hingegen sucht nach ökonomischen Lösungen und akzeptiert Kompromisse.
Während in einer voranalytischen Betrachtung des Narzissmus dieser als »schlecht« und sein Fehlen (bzw. seine Verleugnung) als »gut« gelten, ist die dynamische Auffassung von der Einsicht geprägt, dass narzisstische Bedürfnisse zum Menschen gehören. Wesentlich ist, wie sich der Narzissmus entwickelt, ob er auf einer primitiven Stufe bleibt oder reifen kann. Der primitive Narzissmus gehorcht dem fanatischen Alles-oder-nichts-Prinzip. Er spaltet, es gibt nur »ganz gute« oder »ganz schlechte« Objekte. Reifer Narzissmus lässt die guten Aspekte einer geliebten Person weiterhin gelten, wenn sich diese lieblos verhalten hat.
Die klinischen Aspekte des Animalischen und des Narzisstischen lassen sich so zusammenfassen: Wer die impulsive, zyklische Welt des Animalischen kontrolliert, um narzisstische besetzte Ideale zu bewahren, schützt sich vor Ängsten, riskiert aber depressive Zustände. Wer umgekehrt die Ideale preisgibt, weil animalische Impulse locken, ist weniger durch Depressionen gefährdet, aber vermehrt (Verlust-)Ängsten ausgesetzt.
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Die romantische Haltung verbindet die animalischen und narzisstischen Bestandteile der Liebe zu einer idealen Konstruktion. Ihr Kern ist eine wechselseitige Idealisierung: das Gegenüber verkörpert die eigene Sehnsucht nach vollkommener Harmonie der narzisstischen und der animalischen Komponenten. In der Verbindung werden frühere, etwas aus Kindheitstraumen stammende Hemmungen gelöscht und die in das Gegenüber projizierten Stärken werden Teil des eigenen Ich. Zu den (illusionär) überwundenen Schwächen gehört das Gefühl, isoliert zu sein. In Schillers Ode an die Freude ist das so formuliert:
Ja – wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wers nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund!
Die romantische Liebe wird nicht, wie die traditionelle Ehe, durch Gehorsam gefestigt, sondern durch Empathie. Das fordert ständige Abstimmung mit dem Gegenüber und ein intensives Interesse an ihm, um die Entwicklungsmöglichkeiten der Beziehung zu erkennen und zu fördern. Das macht die romantische Liebe so attraktiv, fördert aber auch unrealistische Erwartungen, vor allem weil ähnliche Haltungen auch auf Kinder treffen, die den Liebesbund ...
Erscheint lt. Verlag | 20.5.2023 |
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Reihe/Serie | Leben lernen |
Leben Lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Beziehung • Bindung • Erotik • Gefühle • Kommunikation • Kulturelle Prägung • Kulturgeschichte • Liebe • Liebesbeziehung • Narzissmus • Paaranalyse • Paarberatung • Paarbeziehung • Paartherapie • Partnerschaft • Partnerschaftsprobleme • Partnerwahl • Romantische Liebe • Sexualität |
ISBN-10 | 3-608-12163-3 / 3608121633 |
ISBN-13 | 978-3-608-12163-6 / 9783608121636 |
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