Nurinst. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte / nurinst 2022
ANTOGO (Verlag)
978-3-938286-58-6 (ISBN)
Auch unter dem Nationalsozialismus hielten die Juden an ihrer vertrauten Kultur, an Theater, Literatur und Kunst fest und versuchten, damit ihre zivilisierte Existenz beizubehalten – ein schier aussichtsloser Kampf gegen die NS-Barbarei. Dieser spirituelle Widerstand begann schon kurz nach der »Machtübernahme« der Nationalsozialisten in Deutschland. Nachdem die jüdische Minderheit zunehmend aus dem Kulturleben verdrängt wurde, Musiker, Journalisten und Schauspieler ihre Beschäftigungen verloren, Schriftsteller nicht publizieren konnten und ihre Bücher verbrannt wurden, formierte sich schon bald ein eigener jüdischer Kulturbereich. Im Juli 1933 gründet sich der Jüdische Kulturbund in Berlin, der bald Dependancen im gesamten Reichsgebiet unterhielt – bis zu seinem Verbot im September 1941. Doch auch in den Ghettos und sogar in den Konzentrationslagern wurde gezeichnet und gedichtet und es existierten Schauspiel, Orchester und Literaturzirkel. Die Ghettobibliothek in Wilna etwa umfasste rund 45.000 Bücher und verfügte über einen Lesesaal, in den Lagern Theresienstadt oder Dachau fanden Theateraufführungen und musikalische Revuen statt. Obwohl dieses Kulturleben teilweise von der SS geduldet wurde, schützte es nicht vor Gewalt, Folter und Tod, doch es diente den Todgeweihten als temporäre Überlebenshilfe und der Bewahrung ihrer Menschlichkeit. Nach der Shoa entwickelte die Scheerit Haplejta, der Rest der Geretteten, ebenfalls eine erstaunliche Energie beim Aufbau eines autonomen kulturellen Lebens in den Displaced Persons Camps. Nicht nur in den großen Assembly Centers wie Föhrenwald, Bergen-Belsen oder Feldafing entstanden Lagerbühnen und wurden Bücher und Zeitungen verlegt. Theatergruppen brachten schon wenige Monate nach der Befreiung jiddische Klassiker von Scholem Alejechem oder Abraham Goldfaden auf die Bühnen, inszenierten die Schrecken der Lager sowie das zukünftige freie Leben ohne Verfolgung im noch zu gründenden jüdischen Staat, in Erez Israel. In unserem 11. Jahrbuch beleuchten Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Österreich und Israel die jüdischen kulturellen Aktivitäten in der Zeit der Verfolgung und danach – aber auch den Versuch der Nationalsozialisten, auf den alljährlichen Kulturtagungen bei den Nürnberger Reichsparteitagen eine neue deutsche Kultur unter Ausschluss des »jüdischen Geistes« zu installieren. In seinem Beitrag »Neugeburt der deutschen Kultur« schildert Alexander Schmidt, wie die Nationalsozialisten ihre antisemitischen und rassistischen Vorstellungen auf allen Gebieten der Kunst und Kultur durchsetzten – mit weitreichenden Folgen für Nürnberg. Das Stadtimage als »deutscheste der deutschen Städte« führte u. a. zu einer »Entschandelung« der Altstadt und zu weitreichenden städtebaulichen Planungen vom Reichsparteitagsgelände bis ins Stadtzentrum. Letzteres blieb Nürnberg aber durch den Kriegsbeginn erspart. Schon kurz nach der »Machtübernahme« der Nationalsozialisten begann die Ausgrenzung jüdischer Intellektueller, Schriftsteller, Schauspieler und Maler. Die vom Berufsverbot betroffenen Künstler schlossen sich im »Kulturbund Deutscher Juden« zusammen – um auch weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen zu können, jedoch nur noch vor jüdischem Publikum. Im Frühjahr 1935 waren 36 regionale und lokale Verbände mit rund 70.000 Mitgliedern reichsweit tätig – ab 1934 auch in Nürnberg. In seinem Beitrag »Es ist im Kulturleben unseres Volkes kein Jude mehr tätig!« beleuchtet Jim Tobias die Aktivitäten der Ortsgruppe in der »Stadt der Reichsparteitage« bis zum Novemberpogrom im Jahr 1938. Aus keinem anderen nationalsozialistischen Konzentrationslager sind so viele Häftlingstagebücher überliefert wie aus dem KZ Bergen-Belsen. Sie changieren zwischen literarischer Gattung, historischem Dokument und dem unbedingten Willen, die erlebten Verbrechen zu bezeugen. Der Beitrag von Thomas Rahe, »Ich werde weiterschreiben, um nicht stumpfsinnig zu werden«, skizziert die Entstehungsbedingungen und die Bandbreite dieser Tagebücher sowie ihre Bedeutung als kulturelle Zeugnisse der Shoa. Bereits unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges begannen die Überlebenden der Shoa mit der Dokumentation ihrer Verfolgung. Sie sammelten mündliche und schriftliche Berichte, Fotografien, Briefe, Plakate etc. Ab Juli 1947 zeigte das Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone im DP-Camp Bergen-Belsen eine Ausstellung, die sowohl die Verfolgung als auch den Neubeginn der Scheerit Haplejta in einem fremden Land thematisierte. Katja Seybold zeichnet in ihrem Text »›Unser Weg in die Freiheit‹ – Blick zurück nach vorn« die Entwicklung und die Inhalte der Ausstellung nach, stellt die Kuratoren vor und geht auf die Wirkungsgeschichte ein. Auch in München kam es in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer kulturellen Renaissance. In der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, am Rande des ehemaligen Parteiviertels der NSDAP, organisierten Maler, Bildhauer und Zeichner im Herbst 1948 eine »Ausstellung der jüdischen Künstler«, in der 165 Werke gezeigt wurden. In ihrer Spurensuche »… dass die Ausstellung ein repräsentatives Antlitz tragen soll, nur wertvolle Arbeiten sollen sich qualifizieren« stellt Jutta Fleckenstein erstmals die Künstler und ihre Arbeiten vor und schildert deren Ringen um die Erinnerung an die Katastrophe. Imme Klages thematisiert in ihrem Beitrag »Rückkehr auf Zeit« die kurzfristige Heimkehr von drei emigrierten Kameramännern nach Deutschland. Willy Goldberger hatte nach dem Arbeitsverbot 1933 für jüdische Filmschaffende in Deutschland erst in diversen europäischen Ländern gearbeitet, bis er 1938 aus Wien nach Spanien floh. In den 1950er Jahren dreht er zwei seiner letzten Filme »Hochzeit auf Reisen« und »Ein Haus voll Liebe« wieder in Deutschland. Auch Kurt Courant und Eugen Schüfftan führt es nach Deutschland zurück. Obwohl beide Meister ihres Faches waren, blieb ihnen jedoch der Erfolg versagt. In der galiläischen Stadt Safed, ein traditioneller Ort jüdischer Gelehrsamkeit, versammelten sich nach der Gründung des Staates Israel Künstler aus den zerstörten Diaspora-Gemeinden und gründeten dort eine bedeutende Künstlerkolonie. In der einzigartigen Atmosphäre, die Natur und historisches Erbe vereint, versuchten einige von ihnen, wie etwa Arie Merzer und Alexander Bogan, das persönliche und nationale Trauma auszudrücken, das ihr Leben und ihre Arbeit prägte. In ihrem Beitrag »Ich sah dort das Spiegelbild des jüdischen Schtetls« begeben sich Andrea und Aviv Livnat auf eine Spurensuche. Neben unserem Schwerpunktthema »Kultur in der Zeit der Verfolgung und danach« enthält der Band weitere Beiträge, die sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte und insbesondere der Erinnerungskultur beschäftigen. Alexander Carstiuc erinnert in seinem Text »Als der Holocaust noch keinen Namen hatte« an den Historiker Léon Poliakov (1910–1997), der in der französischen Résistance an der Rettung von Tausenden Juden beteiligt war und nach dem Krieg die erste wissenschaftliche Arbeit über die Shoa vorlegte. Es folgten Dutzende weitere wichtige Schriften zur jüdischen Geschichte und zum Antisemitismus. In dem Beitrag »Juden werden auf jeden Fall exekutiert« beschreibt Rolf Keller den nur wenig bekannten Massenmord an den jüdisch-sowjetischen Kriegsgefangenen: Ab Juli 1941 fahndeten Einsatzkommandos der Gestapo in den Lagern der Wehrmacht im Deutschen Reich und den annektierten Gebieten nach sogenannten untragbaren Elementen unter den sowjetischen Kriegsgefangenen. Dazu zählten vor allem politische Kommissare und Juden. Die »Ausgesonderten« wurden anschließend in den Konzentrationslagern der SS ermordet. Ein Großteil der mindestens 33.000 Opfer waren jüdische Kriegsgefangene. Nur wenigen gelang es, der Verfolgung zu entgehen. Ein weiteres kaum beleuchtetes Kapitel der Gedenkkultur untersucht Gerhard Jochem in seinem Beitrag »Greatest Generation oder Inglourious Basterds?«. Nach seinen Recherchen kämpften über 200 Zwangsemigranten beiderlei Geschlechts aus dem Großraum Nürnberg als Soldaten oder im Widerstand ihrer neuen Heimatländer gegen den Nationalsozialismus. Bis heute haben Geschichtswissenschaft und Entscheidungsträger über die öffentliche Erinnerungskultur große Schwierigkeiten mit dieser Personengruppe, beklagt er, da sie nicht ins kanonisierte Bild des wehr- und machtlosen Shoa-Opfers passt. Im kollektiven Gedächtnis wurde der deutsch-jüdische G.I. oft nicht zum Befreier, sondern zum rachsüchtigen Eroberer und erfüllte so ein antisemitisches Stereotyp. Schließlich stellen wir, wie immer, abschließend eine wissenschaftliche Institution vor: Das 1988 in St. Pölten gegründete »Institut für jüdische Geschichte Österreichs«. Die langjährige Leiterin Martha Keil skizziert in ihrem Text »Neuer Inhalt für ein verwaistes Haus« das Selbstverständnis und die Konzeption ihrer Einrichtung, die in der ehemaligen Hauptsynagoge der Stadt untergebracht ist. Am authentischen Ort werden Geschichte und Kultur der Juden und Jüdinnen in Österreich erforscht – vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten werden mittels Publikationen, in Vorträgen oder Ausstellungen sowie bei Schulprojekten der Öffentlichkeit präsentiert. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre spannenden und erhellenden Texte, mit denen sowohl Neuland in der historischen Forschung betreten oder vermeintlich Bekanntes neu beleuchtet und kommentiert wird. Dank auch dem Lektor Gilbert Brockmann, der die Texte gewissenhaft gelesen hat und uns vor so manchem peinlichen stilistischen, aber auch orthografischen Fauxpas bewahrt hat. Beim ANTOGO Verlag bedanken wir uns für die gewohnte meisterliche Betreuung in allen Phasen des Herstellungsprozesses. Obwohl wir mit unserem Periodikum nun schon seit 2002 regelmäßig der Öffentlichkeit einen Einblick in unsere wissenschaftliche Institutsarbeit ermöglichen, den Kollegen eine Plattform zur Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse bieten, können wir leider nicht alle Manuskripte annehmen. Da wir unsere Publikation jedoch weiterhin als ein offenes Diskussionsforum verstehen, freuen wir uns über jedes eingesandte Manuskript. Das nächste Jahrbuch soll im Laufe des Jahres 2024 erscheinen.
Erscheinungsdatum | 17.11.2022 |
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Reihe/Serie | Nurinst. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte | 11 |
Verlagsort | Nürnberg |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 220 mm |
Gewicht | 344 g |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
Schlagworte | Bergen-Belsen • Erinnerungskultur • Gedenkkultur • Häftlingstagebücher • Holocaust • jüdische Displaced Persons • jüdische Filmgeschichte • jüdische Kriegsgefangene • jüdischer Kulturbund • Künstlerkolonie Safed • Nationalsozialismus • Reichsstadt der Bewegung |
ISBN-10 | 3-938286-58-X / 393828658X |
ISBN-13 | 978-3-938286-58-6 / 9783938286586 |
Zustand | Neuware |
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