Bewusstseinskultur (eBook)
208 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8064-6 (ISBN)
Thomas Metzinger, geboren 1958 in Frankfurt am Main, lehrte Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er gehört zu den meistzitierten deutschen Gegenwartsphilosophen und gilt weltweit als einer der profiliertesten Philosophen des Geistes und der Kognitionswissenschaft. Metzinger war Präsident der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft und der Association for the Scientific Study of Consciousness. 2018 wurde er in die Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz der Europäischen Kommission berufen. 2021 erhielt er die Pufendorf-Medaille, 2022 wurde er in die Nationale Akademie der Wissenschaften gewählt. Sein Bestseller Der Ego-Tunnel wurde in elf Sprachen übersetzt. 2023 veröffentlichte er das viel beachtete Buch Bewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise.
Thomas Metzinger, geboren 1958, lehrte Philosophie an der Universität Mainz. Er gilt weltweit als einer der profiliertesten Philosophen des Geistes und der Kognitionswissenschaft. 2018 wurde er in die Hochrangige Expertengruppe für Künstliche Intelligenz der Europäischen Kommission nominiert. Sein Bestseller »Der Ego-Tunnel« (Berlin Verlag 2009/Piper 2014) wurde in neun Sprachen übersetzt.
2 Bewusstseinskultur
Was ist Bewusstseinskultur?
Vor einem Vierteljahrhundert habe ich zum ersten Mal den Begriff einer »Bewusstseinskultur« in die Diskussion eingeführt.[32] Seit einiger Zeit gibt es ein stärkeres Interesse an dieser Idee. In einer allerersten Annäherung, im Sinne einer reinen Arbeitsdefinition, besteht der Begriff einer Bewusstseinskultur aus drei Bedeutungselementen:
- dem Einnehmen einer ethischen Haltung gegenüber den eigenen mentalen Zuständen;
- der systematischen Kultivierung von als wertvoll eingestuften Zuständen;
- einem kontinuierlichen Prozess der rationalen, evidenzbasierten Enkulturation, also einer aktiven Einbettung solcher Bewusstseinszustände in Kultur und Gesellschaft.
Bevor ich einen ersten Blick auf jeden der drei Punkte werfe, sollte ich klarstellen, dass Teile und Varianten dieser Idee schon seit vielen Jahrhunderten existieren. Philosophen haben schon immer lange Debatten darüber geführt, was der Begriff »Philosophie« selbst eigentlich genau bedeutet; was es wirklich bedeutet, die Weisheit zu lieben, denn darauf bezog sich philosophia (griechisch φιλοσοφία) ja ursprünglich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Weisheit wirklich zu lieben, das sagt Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) im zweiten Buch seiner Gespräche in Tusculum, bedeute, sich um seine Seele zu kümmern und sie zu pflegen: »Pflege der Seele aber ist die Philosophie« (Cultura autem animi philosophia est […]).[33]
Dieses alte philosophische Motiv aus der römischen Antike ist eine schöne und hochaktuelle Variante des Grundgedankens, um den es hier gehen soll. Leider verweist sie aber auch auf eine der größten Schwächen der professionellen und oft wirklich exzellenten akademischen Philosophie, wie wir sie heute kennen:[34] Diese Art der Philosophie ist nicht gerade förderlich für die geistige Gesundheit derer, die sie betreiben, geschweige denn für das Projekt, neue und interessantere Bewusstseinszustände mit einem eigenen Erkenntnispotenzial zu kultivieren, einem Projekt mithin, das über bloß theoretisches Wissen hinausgeht.
Angesichts neuer empirischer Erkenntnisse über die evolutionären Wurzeln des menschlichen Geistes; angesichts der Leistungsfähigkeit unserer kognitiven Neurowissenschaft sowie angesichts aufregender Fortschritte in der mathematischen Modellierung des Bewusstseins selbst bietet Ciceros Idee aber auch ein gutes Beispiel für das, was wir vielleicht gewinnen können, wenn wir einige unserer kulturellen Zielvorstellungen radikal neu interpretieren.
Bei der Bewusstseinskultur handelt es sich um eine spezifische Form von kultureller Erneuerung. Wir müssen eine neue philosophische Perspektive entwickeln, die nicht nur all die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und Erkenntnisse in sich aufnimmt, sondern uns auch hilft, mit den daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten auf eine ethisch sensible Weise umzugehen.
Die Entwicklung einer Bewusstseinskultur kann daher als eine neue Form der angewandten Ethik betrachtet werden. Es geht um praktische Philosophie. Eine Fülle von technologischen Möglichkeiten zur Manipulation und Veränderung des menschlichen Geistes ist entstanden. Selbst künstliches Bewusstsein wird inzwischen als ein plausibler Teil unserer mittelfristigen Zukunft diskutiert.[35] Wir laufen deshalb Gefahr, von den psychologischen und soziokulturellen Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts und den immer neuen von ihm hervorgebrachten Technologien überrollt zu werden.
Daher brauchen wir diesen ganz neuen Zweig der praktischen Ethik. Man könnte ihn »Bewusstseinsethik« nennen, weil er sich auf alle Fragen spezialisiert, die direkt mit dem bewussten Erleben selbst und dem menschlichen Geist zusammenhängen. Das zentrale Ziel der Bewusstseinsethik als Teil einer neuen Bewusstseinskultur bestünde dann darin, uns bei dem zu helfen, was Cicero vor mehr als zwei Jahrtausenden die »Pflege der Seele« genannt hat.
Praktische Philosophie des Geistes
Bei der Bewusstseinskultur geht es also um Ethik und um Werte. Aber gleichzeitig auch um mehr als um Ethik, denn wir brauchen zudem auch viele der neuen Erkenntnisse aus der modernen Philosophie des Geistes und aus der Kognitionswissenschaft. Wir werden neue begriffliche Werkzeuge schaffen müssen. Ich denke da zum Beispiel an das phänomenale Erleben als solches, aber auch an neue Formen des Wissens, insbesondere jene der nicht-begrifflichen Selbsterkenntnis, womit Möglichkeiten gemeint sind, auf wissende Weise, aber ohne Worte oder gar Gedanken mit sich selbst in Kontakt zu sein.
Vielleicht basiert die uns jetzt so dringend fehlende Form von Weisheit, die man in der westlichen Kultur und Philosophie nicht wirklich geliebt und eher stiefmütterlich behandelt hat, ja auf einer nicht-begrifflichen Form von Einsicht. Vielleicht gibt es eine nicht-begriffliche Weisheit. Inhalt einer Bewusstseinskultur sind die Entdeckung und Kultivierung neuer und interessanterer Bewusstseinszustände. Bewusstseinskultur bewertet und vergleicht aber nicht einfach nur die verschiedenen Arten und Qualitäten bewussten Erlebens, sondern auch die verschiedenen Arten von Einsicht und Erkenntnis, die mit ihnen einhergehen können. Eine solche Bewusstseinskultur, die sowohl im Erkennen als auch in der bewussten Erfahrung verankert ist, bringt Wissenschaft und Philosophie auf eine neue Weise zusammen.
In Anlehnung an Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Naturphilosophie (die auf die richtige Art von Theorie abzielt) und Moralphilosophie (die auf die richtige Art von Praxis abzielt) wird heute in der akademischen Lehre häufig zwischen theoretischer und praktischer Philosophie unterschieden. Die theoretische Philosophie besteht dabei aus Unterdisziplinen wie Logik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und der Philosophie des Geistes. Die praktische Philosophie umfasst hingegen Bereiche wie Ethik, Entscheidungstheorie und die politische Philosophie.
Die Bewusstseinskultur stellt sich nun die Aufgabe, zwei Teile dieser beiden großen Forschungsbereiche auf neue Weise miteinander zu verbinden. Sie kann als die gesellschaftliche und politische Umsetzung von Erkenntnissen aus einem Projekt verstanden werden, das ich »praktische Philosophie des Geistes« nennen möchte. Praktische Philosophie des Geistes beginnt mit einer ethischen Einstellung gegenüber dem eigenen bewussten Geist, hat dann aber auch das richtige Verhältnis zum Geist der anderen im Blick.
Eine ethische Haltung gegenüber den eigenen mentalen Zuständen einzunehmen führt zunächst zu der Frage, was einen geistigen Zustand zu einem guten Zustand macht. Besitzen bestimmte Bewusstseinszustände einen echten Eigenwert? Können sie in sich selbst wertvoll sein? Gibt es eine rationale, klar definierte Möglichkeit zu sagen, dass bestimmte Zustände und Arten des bewussten Erlebens – wie Philosophen sagen würden – »intrinsisch wertvolle« Zustände sind, dass sie also unabhängig vom jeweiligen Zusammenhang besser sind als andere Zustände und Arten bewussten Erlebens? Existieren objektive Kriterien, die wir anwenden könnten?
All das ähnelt den Fragen, wie sie die klassische Ethik stellt: Was genau macht eine Handlung zu einer guten Handlung? Gibt es bestimmte Handlungsfolgen oder -ziele, gibt es Lebensformen, moralische Einstellungen oder Tugenden, die in sich selbst wertvoll sind? Es gilt, dieselbe Strategie auf unser eigenes Bewusstsein auszuweiten, indem wir fragen: Was macht eigentlich einen Zustand des Bewusstseins zu einem guten Zustand? Lässt sich von so etwas wie »phänomenologischen Tugenden« sprechen, gibt es also in sich selbst wertvolle innere Haltungen, Lebensweisen oder Zielzustände des Bewusstseins? Was sind förderliche und heilsame Formen, mit dem eigenen Geist umzugehen?
Diese Betonung der ethischen Frage nach dem Erleben selbst ist der Hauptgrund, warum das erste Element unserer Arbeitsdefinition auch als Projekt der Entwicklung einer »Bewusstseinsethik« bezeichnet werden...
Erscheint lt. Verlag | 6.1.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Angst • Bewusstsein • Bewusstseinskultur • Buddhismus • Debattenbuch • Fridays For Future • intellektuelle Redlickeit • KI • Klimakrise • Kognitionswissenschaft • Krise • Künstliche Intelligenz • LSD • Meditation • Meditationsgruppe • Mind Foundation • Mitgefühl • Panikpunkt • Philosophie • Philosophie des Geistes • Psychodelika • Resilienz • Selbstachtung • Spiritualität |
ISBN-10 | 3-8270-8064-9 / 3827080649 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8064-6 / 9783827080646 |
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Größe: 5,4 MB
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