Nicht ohne meine Eltern (eBook)
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60323-2 (ISBN)
Dr. Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit über 20 Jahren als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. In ihrer wissenschaftlichen und therapeutischen Arbeit untersucht sie transgenerationale Übertragungen - also den starken Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart. Im Piper Verlag erschienen von ihr »Das bleibt in der Familie«, »Das beherrschte Geschlecht«, »Liebe machen« und zuletzt »Nicht ohne meine Eltern«.
Dr. Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit über 20 Jahren als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. In ihrer wissenschaftlichen und therapeutischen Arbeit untersucht sie transgenerationale Übertragungen – also den starken Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart. Im Piper Verlag erschienen von ihr »Das bleibt in der Familie«, »Das beherrschte Geschlecht« und »Liebe machen«.
Was ist gesunde Ablösung, und wie geht das?
»Ich möchte gern völlig abgelöst sein. Mich nicht mehr über meine Mutter ärgern, egal, wie sehr sie mich demütigt oder kränkt«, sagt die 32-jährige Noemi auf meine Frage, was ihr Ziel in der Therapie sei.
Völlig abgelöst zu sein – wünscht sich das nicht jede:r? Aber das, was Noemi und viele andere damit verbinden, nämlich immun zu sein gegen jede Art von Angriff, bis hin zu Entwürdigung, das hieße, gefühllos und verpanzert zu werden. Es hieße, alles über sich ergehen zu lassen, sich nicht zur Wehr zu setzen, Verletzungen stoisch auszuhalten.
Gesunde Ablösung bedeutet das Gegenteil, nämlich im Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu sein und so weit im Kontakt mit anderen bleiben zu können, dass Kommunikation, aber auch Grenzsetzung möglich ist. Psycholog:innen bezeichnen diese Fähigkeit auch als »Selbst-Differenzierung«.[3]
Gesunde Ablösung bedeutet, weder in Hass noch in starrer oder gar selbstverleugnender Loyalität mit den Eltern verbunden zu sein, sondern sich so weit befreit zu haben, dass wir wählen können, was wir verzeihen, was wir ablehnen und was wir loslassen möchten.
Ablösung ist kein einzelner Schritt, keine einmalige Entscheidung, es ist ein langer, oftmals ein lebenslanger Weg. Manche Streckenabschnitte sind einfach zu bewältigen, andere sind steiniger, einige scheinen sogar unüberwindbar, aber ich verspreche Ihnen, dass Sie auf Ihrem persönlichen Weg der Ablösung immer wieder an Ausblicke gelangen werden, die Sie bereichern, die Ihnen Luft zum Atmen geben und von denen aus Sie vieles mit mehr Abstand und deshalb klarer betrachten können.
Die natürlichste Sache der Welt – erwachsen zu werden – ist alles andere als einfach, Wachstumsschmerzen gehören auf dem Weg zu psychischer Reife dazu.
»Wer bin ich? Will ich das Richtige? Mache ich das Richtige? Werde ich geliebt, wenn ich meinen eigenen Weg gehe?« sind einige der existenziellen Fragen, die sich uns allen stellen. Erst wenn wir verstehen, dass nur wir selbst uns die Antworten auf diese Fragen geben können, sind wir frei. Denn Freiheit heißt, Verantwortung zu übernehmen. Für die eigenen Gefühle. Für die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume. Für das eigene Leben.
Phasen der Ablösung
Erwachsen werden hört sich so einfach an, fast scheint es vorgegebenen Schritten zu folgen: Wir werden volljährig, wir machen den Führerschein, wir ziehen aus, wir machen eine Ausbildung oder studieren, dann übernehmen wir einen mehr oder weniger verantwortungsvollen Job, wir finden eine:n nette:n Partner:in und bekommen vielleicht eigene Kinder. Wir sind erwachsen.
Aber was heißt erwachsen? Bedeutet es das Gleiche, wie abgelöst zu sein?
Ein Nachmittagsbesuch bei den Eltern reicht, und plötzlich sind wir wieder fünf, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Der Vater schweigt, obwohl man eigentlich seinen Trost bräuchte, weil es im Job gerade nicht so rundläuft, und wir längst erwachsenen Kinder schwanken zwischen Wut und Weinen. Die Mutter macht sich Sorgen um unsere Zukunft, und anstatt zuzuhören, kritisiert sie uns und wirft uns vor, dass wir schon wieder alles falsch machen, zu zögerlich oder zu forsch waren, und wir längst erwachsenen Kinder schmollen und nehmen uns vor, ihr nie wieder etwas über unser Privatleben zu erzählen. Und wenn die Eltern dann noch die große Schwester loben, die nicht nur glücklich verheiratet ist und zwei wohlgeratene Kinder hat, sondern auch noch gerade ihren Traumjob ergattert hat, dann sehen wir rot, während uralte Ungerechtigkeits-, Wut- und Minderwertigkeitsgefühle wie eine Welle über uns zusammenbrechen.
Unser Alter hat nur wenig mit dem Grad der Ablösung zu tun. Selbstverständlich werden die meisten mit fortschreitendem Alter autonomer. Wir weihen unsere Eltern nicht mehr in jede unserer Entscheidungen ein, wir fragen nicht mehr um Erlaubnis, wir werden finanziell unabhängig. Aber emotional können wir noch an einer unsichtbaren Nabelschnur hängen, die uns schlimmstenfalls an eigenständigen Bewegungen hindert.
Dabei gilt die körperliche Abnabelung von der Mutter als erster natürlicher Schritt in die Selbstständigkeit. In unserer Kultur ist es oft der Vater, der nach der Geburt die Nabelschnur durchtrennt. Es ist mehr als nur ein symbolischer Akt – denn der Vater (bzw. die zweite Bindungsperson) ist fortan der bedeutsame Dritte, der dem Kind und der Mutter hilft, ihre Symbiose aufzugeben. Eine Triade, eine Dreierbeziehung entwickelt sich, indem das Kind zu beiden Elternteilen existenzielle Bindungen aufbaut. Im Idealfall gibt es weitere verlässliche Bindungspersonen, die dem Kind Sicherheit und Liebe geben und seinen Bindungsradius erweitern. Je sicherer ein Kind sich bei seinen Eltern fühlt, desto leichter fällt es ihm, seine Umwelt zu erkunden, also autonomer zu werden.
Mit dem Besuch einer Kindertagesstätte und später der Schule findet eine weitere wichtige Phase der Ablösung statt. Das Kind verbringt die Vormittage getrennt von den Eltern und erfährt mit anderen Bezugspersonen und Gleichaltrigen einen Zusammenhalt und Sinn, der über die Beziehung zu den Eltern hinausgeht.
Mit jedem fortschreitenden Jahr steigt die Selbstständigkeit: Das erste Mal bei Freunden übernachten, die erste Klassenfahrt, die ersten Geheimnisse, die erste Verliebtheit, der erste Kuss, der erste Sex, der erste Urlaub ohne die Eltern, die erste Beziehung, die erste eigene Wohnung, der erste eigene Job, das erste eigene Gehalt – all das sind weitere Meilensteine auf dem Weg der Ablösung.
Idealerweise unterstützen die Eltern das Kind auf seinem Weg, denn eine gesunde Bindung beruht sowohl auf dem verlässlichen Dasein der Eltern als auch auf deren altersgemäßem Loslassen, oder wie es etwas poetischer ausgedrückt in einem Sprichwort heißt: »Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.«
»Psychosoziales Moratorium« nannte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson[3] die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenen-Identität, in der Kinder sich Schritt für Schritt von den Eltern und von ihrem Kindheits-Ich ablösen. Unsere Eltern stehen uns zwar noch zur Seite, sie beraten oder kontrollieren uns in unseren Entscheidungen, aber nicht sie, sondern wir müssen mit unseren Entscheidungen letztlich leben: Welchen Beruf wir ergreifen, welche Partner:innen wir wählen, welches Leben wir führen. In dieser Zeit der Selbstfindung können Orientierungsprobleme auftreten, zumal gerade in liberalen Demokratien viel Raum zum Experimentieren mit der eigenen Rolle gegeben wird, im Gegensatz zu traditionellen oder diktatorischen Gesellschaften, die eher festgelegte Rollen anbieten.
Laut Eriksons Stufenmodell müssen in jeder Lebensphase bestimmte Entwicklungsaufgaben bewältigt werden, die für unsere gesunde Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich sind. Schauen wir uns die einzelnen Stufen genauer an:
Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)
Im ersten Lebensjahr ist das Kind völlig abhängig von seinen Bezugspersonen, hier entscheidet sich, ob es ein gesundes Urvertrauen entwickelt oder aufgrund zu vieler Enttäuschungen eher misstrauisch durch die Welt gehen wird. Idealerweise wird das Kind ausreichend gut versorgt und macht die Erfahrung, dass zwischen der Welt und seinen persönlichen Bedürfnissen Übereinstimmung herrscht.
Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. und 3. Lebensjahr)
Im zweiten und dritten Lebensjahr geht es um die Entwicklung von Autonomie; das Kind erlebt die ersten Emanzipationsschritte von der Mutter, es lernt, zu gehen, zu sprechen und seinen Stuhl zu kontrollieren. Was Freud als »anale Phase« bezeichnete, ist die Zeit, in der das Kind lernt, Dinge festzuhalten oder loszulassen, und in der es erstmals auch mit Scham und Zweifeln konfrontiert wird. In diesem Lebensalter entwickelt das Kind auch Vorstellungen über das »Ich« und »Du«, es stellt fest, dass es ein Individuum ist, getrennt von der Mutter und ihrer Brust. Idealerweise bewältigt das Kind diese ...
Erscheint lt. Verlag | 30.3.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Ablösung • Abnabelung • Abschied von Eltern • Beziehungen und Bindungen • Beziehungen verbessern • Das bleibt in der Familie • Das Nest verlassen • Eigenverantwortung übernehmen • Eltern Bindung • Eltern-Kind-Beziehung • Erwachsene Kinder • Erwachsen werden • Generationenbeziehungen • glückliche beziehung • glückliche Familie • kinder loslassen • Lebenslanger Prozess • Losgelöst von den Eltern • Selbstbestimmt Leben • unbewusste Bindungen • von den Eltern lösen • von den Eltern trennen • Von Erwartungen lösen • Was schulde ich meinen Eltern • Was sind meine Eltern mir schuldig? |
ISBN-10 | 3-492-60323-8 / 3492603238 |
ISBN-13 | 978-3-492-60323-2 / 9783492603232 |
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