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Unerhörte Frauen (eBook)

Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter | Ein faszinierender Einblick in das Leben im Frauenkloster
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2961-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unerhörte Frauen -  Henrike Lähnemann,  Eva Schlotheuber
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Liebe, Politik und Alltag in mittelalterlichen Frauenklöstern Die Hälfte derer, die im Mittelalter in ein Kloster eintraten, waren Frauen. Was waren ihre Beweggründe? Wie sah ihr Leben in Klausur aus? Wie dachten und wie lebten sie? Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber bieten einen lebendigen Einblick in das weithin unbekannte Leben und Wirken der geistlichen Frauen. Ganze Generationen gebildeter, streitbarer und geschäftstüchtiger Nonnen sind von der Geschichtsschreibung ausgelassen worden. Jetzt zeigt die Darstellung von Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber: Die Nonnen waren ein wichtiger Teil der mittelalterlichen Gesellschaft. Sie nahmen eine Vorbildfunkton ein und standen im regen Austausch mit anderen Klöstern und der Stadt. Selbstbewusst organisierten sie ihren Alltag, wirtschafteten erfolgreich und boten den Klosterschülerinnen ein umfassendes Bildungsprogramm. In Geschichten aus bislang nicht zugänglichen Tagebüchern und Briefen kommen die Frauen zum ersten Mal auch selbst zu Wort.

Henrike Lähnemann erhielt als erste Frau einen Lehrstuhl an der Faculty of Medieval and Modern Languages der University of Oxford, wo sie deutsche Literatur des Mittelalters lehrt und zu Text- und Bildzeugnissen aus den norddeutschen Frauenklöstern arbeitet.

Henrike Lähnemann erhielt als erste Frau einen Lehrstuhl an der Faculty for Medieval and Modern Languages der University of Oxford, wo sie deutsche Literatur des Mittelalters lehrt und zu Text- und Bildzeugnissen aus den norddeutschen Frauenklöstern arbeitet.

Prolog: Die Stimmen der Vergangenheit


Im Mittelalter war die Hälfte derer, die in ein Kloster eintraten, Frauen. Warum hören wir so wenig von ihnen? Nur einige Namen sind bekannt: Hildegard von Bingen sicher. Vielleicht noch Roswitha von Gandersheim und Mechthild von Magdeburg. Ihnen wurden in den letzten Jahren Bücher oder Ausstellungen gewidmet. Aber die große Gruppe gelehrter, streitbarer, gläubiger und geschäftstüchtiger Nonnen aus zahllosen Generationen ist dem Vergessen anheimgefallen. Dabei waren Frauen, die im Mittelalter im Kloster lebten, keineswegs »unerhört« im Sinne von wirkungslos, im Gegenteil. Ihre Gemeinschaften waren oftmals mächtige Institutionen, und sie sahen sich selbst in einer höchst einflussreichen Position, da sie durch ihre Lebensform »Bräute Christi«, also zukünftige Gemahlinnen des »höchsten Königs« waren und damit wie niemand sonst sein Ohr hatten. Dass Gott sie erhörte, war auch die Überzeugung der mittelalterlichen Gesellschaft und verlieh ihnen einen besonderen Status, der sich politisch und wirtschaftlich, auf jeden Fall gesellschaftlich und kulturell manifestierte – und es den Frauen erlaubte, unerhört wirksam zu werden.

Unerhört, ungehört wurden diese Nonnen erst in der Moderne, sodass jede Sichtbarmachung eine kleine Revolution ist. Eva Schlotheuber machte in ihrer Habilitationsschrift eine kleine, aber im täglichen Gebrauch sehr dick angewachsene Pergamenthandschrift, das Konventstagebuch einer Nonne aus dem Heilig-Kreuz-Kloster bei Braunschweig, zugänglich – ein beredtes und bedeutendes Zeugnis, in dem eine Zisterzienserin mehr als zwanzig Jahre lang über ihr Klosterleben vor den Toren der Stadt Braunschweig erzählt. Henrike Lähnemann trug ihrerseits die Andachtsbücher der Zisterzienserinnen aus Kloster Medingen aus Bibliotheken in aller Welt zusammen, um die Bild- und Andachtswelten der Nonnen zu erschließen. Beide nutzten wir als Hintergrundinformation eine einmalige Quelle, die bislang ebenfalls nur im Klosterarchiv Lüne in den mittelalterlichen Handschriften, aber nicht ediert vorlag: die Briefsammlung der Benediktinerinnen aus Kloster Lüne. Diese knapp 1800 Briefe aus der Zeit von 1460 bis 1560 sind bewegende Dokumente des Spätmittelalters und der Reformationszeit, als sich die Nonnen entschieden gegen die Einführung lutherischer Gebräuche im Kloster wehrten. In ihren Briefen verhandeln die Frauen ein weites Spektrum an Themen aus Alltag und Festtag, von Lobbyarbeit über theologische Debatten bis hin zu Trost- und Beratungsschreiben – all das ein hochspannendes Material, um die Geschichte der Nonnen an der Grenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit farbiger und lebendiger werden zu lassen, weil hier die Nonnen selbst das Wort ergreifen.

Das Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz vor den Toren der Stadt Braunschweig wurde im Zuge der Reformation zunächst aufgelöst, aber dann wollte man doch nicht darauf verzichten, und es wurde wenig später als evangelisches Damenstift wiederbegründet. Die Auflösung in der Reformationszeit ist ein Schicksal, das es mit den meisten Frauenklöstern der protestantisch gewordenen Gebiete teilt – nicht jedoch mit dem Kloster Lüne, das bis heute in den alten Gebäuden als evangelische Gemeinschaft weiterbesteht. 2022 feierte das Kloster Lüne 850 Jahre ununterbrochenes Bestehen. Weiterhin lebt eine Gemeinschaft von Frauen unter einer Äbtissin in den Gebäuden, von deren Entstehung in den Briefen berichtet wird und deren Archiv die mittelalterlichen Quellen bis heute aufbewahrt. Die Frauen aus Kloster Lüne sind auch auf unserem Titelbild zu sehen, ein Ausschnitt aus einem Gemälde, das die Vision einer Lüner Konventualin im 16. Jahrhundert festhält. Es hängt weiterhin an seinem alten Platz, im Nonnenchor des Klosters Lüne.

Die Braunschweiger Zisterzienserin erwähnt ihren Namen in ihrem Tagebuch nicht. In ihren kurzweiligen Aufzeichnungen über mehr als zwei Jahrzehnte gibt sie an keiner Stelle einen Hinweis auf ihre Identität. Sie lebte gegen Ende des 15. Jahrhunderts als Nonne im Zisterzienserinnenkloster Heilig Kreuz und starb vermutlich 1507 ebenso wie zwei Drittel der Gemeinschaft an der Pest. Mit der Schilderung, wie die zunächst in der Stadt ausbrechende Pest langsam auf den Konvent übergriff und dort erste Todesopfer forderte, brechen ihre Aufzeichnungen unvermittelt ab. Die handschriftlichen Aufzeichnungen im kompakten Gebetbuchformat sind doppelt so dick, wie sie hoch sind. Das Buch wurde 1848 aus dem Nachlass des Braunschweiger Privatgelehrten Carl Friedrich von Vechelde an die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel verkauft und wird unter der Signatur Cod. 1159 Novi aufbewahrt. Da die Familie von Vechelde im 15. Jahrhundert mehrere Familienmitglieder im Konvent hatte, sind die Tagebuchaufzeichnungen der anonymen Zisterzienserin vielleicht in der Familie über die Jahrhunderte tradiert worden. Der Anfang der Handschrift ist leider verloren, sodass nicht auszuschließen ist, dass die Tagebuchschreiberin am Anfang etwas über sich selbst gesagt hat. Ihre Aufzeichnungen beginnen mit dem Jahr 1484 und müssen ihr sehr wichtig gewesen sein. Den Beschreibstoff beschaffte sie sich auf möglichst sparsame, aber mühsame Art und Weise: Sie schabte den Text eines alten Gebetbuchs vom Pergament ab, um es neu beschreiben zu können, schnitt weitere Pergamentreste zurecht oder nähte kleinere Stücke zusammen, um ausreichend Material für ihre Aufzeichnungen zu haben. An manchen Stellen ergänzte sie ihren Pergament- oder Papiervorrat mit der Rückseite alter Briefe. Ihre Stellung im Konvent lässt sich nur insofern ermitteln, als sie keines der leitenden Klosterämter innegehabt zu haben scheint, weder als Priorin, noch Kellermeisterin oder Lehrmeisterin der Mädchen (magistra puellarum) amtierte. Damit ist die Tagebuchschreiberin eine der seltenen Stimmen, die nicht nur aus der Innenperspektive eines Konvents über das Leben hinter den Klostermauern berichten, sondern ganz unbefangen auch über Dinge sprechen, die den Nonnen problematisch erschienen oder die einfach schiefgelaufen waren. Für sie gibt es nichts zu verteidigen oder schönzureden, und in ihre Beurteilung der Ämterinhaberinnen, die die Geschicke des Konvents leiteten, fließt an einigen Stellen überraschende Kritik ein.

Wahrscheinlich gehörte es um 1500 zu den Aufgaben der Tagebuchschreiberin, sich an der Organisation und der Betreuung der Festessen zu beteiligen, die bei der Aufnahme neuer Konventsmitglieder mit den Verwandten der Nonnen im Kloster stattfanden. 1499 erzählt sie von einem solchen Festessen, zu dem Familien aus dem Niederadel geladen waren, und schließt ihre Beschreibung mit den Worten: »Dies habe ich aufgeschrieben, damit, wenn mir in Zukunft für ein ähnliches Festessen zu sorgen aufgetragen wird, ich mich etwas vorsichtiger verhalten kann.« Sie notierte die Ereignisse ihres Klosterlebens also nicht zuletzt für sich selbst. Ihre eher untergeordnete Stellung im Konvent prägt ihren Erzählstandpunkt: Die Kommentare haben einen gewissermaßen ungefilterten Charakter. Sie schreibt lateinisch, vielleicht auch um sich in der Sprache zu üben, bei deren Orthografie und Satzbau sie sich nicht immer ganz sicher war. An einigen Stellen fällt sie unvermittelt ins Niederdeutsche, wenn es emotional wird, wenn sie die Worte der Verwandten und Laien wiedergeben möchte oder wenn ihr der passende lateinische Ausdruck nicht einfällt. Und sie kann hinreißend erzählen: lebendig, erfrischend und mit Humor.

Neben der Selbstversicherung in schwierigen Situationen sieht die Tagebuchschreiberin als intendierte Leserinnen ihrer Aufzeichnungen zukünftige Generationen in Heilig Kreuz. Sie will weitergeben, was der Konvent aus Unkenntnis oder Unbesonnenheit falsch gemacht hat, damit es in Zukunft vermieden werden kann: »Das habe ich geschrieben, damit Spätere nicht jedes Wort glauben, das sie hören«, mahnt sie, als Propst und Konvent beschämt erkennen mussten, dass man Schwindlern aufgesessen war, die ihnen eine große Stiftung weit entfernt wohnender Adeliger versprochen hatten. Aber auch das unbesonnene Herauslaufen einzelner Nonnen aus der Klausur, als nachts ein Feuer auf dem Rennelberg ausbricht, wäre besser unterblieben, denn mit mehr Gottvertrauen hätte das Verlassen der Klausur – vor allem in Nachtkleidung – vermieden werden können.

Aufbauend auf den Erzählungen der Tagebuchschreiberin behandeln wir größere Themenkomplexe: Wie lebt es sich im Kloster (Kapitel I), was wissen wir über die Ausbildung (Kapitel II), wie ist das Verhältnis zu den Familien und wie funktioniert die Wirtschaft (Kapitel III), welche Rolle spielt die Musik und was bedeutet es, reformiert zu sein (Kapitel IV), wie bewältigen die Frauengemeinschaften die Umbrüche der Reformationszeit (Kapitel V), wie heilt man Krankheiten – und wie geht man mit Tod im Kloster um (Kapitel VI)? Der Anhang stellt in einem Glossar systematisch Begriffe zusammen, die dort erklärt werden und im Text mit Sternchen markiert sind, ebenso Übersichten und Leseempfehlungen.

Eine Vielzahl der Quellen, auf die wir uns für dieses Buch stützen, kommt aus dem 15. Jahrhundert. Es sind spannende Jahrzehnte, in denen schriftliche Zeugnisse sprunghaft zunehmen. So wie die Nonne aus Heilig Kreuz ein Gebetbuch aus Pergament für ihre Aufzeichnungen recycelt, um Platz zum Schreiben zu finden, zeugen auch viele andere Schriftzeugnisse aus den Frauenklöstern von einem kreativen Umgang mit dem kostbaren Schreibmaterial. Ende des 14. Jahrhunderts war in Nürnberg die erste Papiermühle in Deutschland in Betrieb gegangen, die Zahl an Lese- und Schreibkundigen wächst vor allem in den Städten und mit...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Mittelalter
Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
Schlagworte Äbtissin • Benediktinerinnen • Bibel • Bildung • Bischof • Briefe • Gebet • Gemeinschaft • Handschrift • Klausur • Klostergarten • Latein • Liturgie • Nonne • Probst • Regel • Schwestern
ISBN-10 3-8437-2961-1 / 3843729611
ISBN-13 978-3-8437-2961-1 / 9783843729611
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