Passt doch! (eBook)
320 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-621-28906-1 (ISBN)
Dr. med. Eckhard Roediger, Psychotherapeut in eigener Praxis und Leiter des Instituts für Schematherapie in Frankfurt. Mitglied des Gründungs-Vorstandes der Internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST).
1 Biologische Grundlagen
1.1 Niemand ist eine Insel. Die biologischen Grundlagen unserer Beziehungen
Es ist offensichtlich, dass Beziehungen für uns Menschen wichtig sind. Das ist übrigens weniger eine Frage unserer persönlichen Einstellung als vielmehr unserer Veranlagung. Hinter unseren romantischen Gefühlen stecken ganz unromantische Körperprozesse. Wir sind biologisch auf Bindung hin angelegt. Bindung ist ein zugegebenermaßen etwas schlichtes Wort für viele Phänomene, die man allgemein »Liebe« nennt. Es hat (und hatte schon immer) handfeste Vorteile im Überlebenskampf, wenn man sich in Gruppen zusammenschließt. Das gilt besonders für die Gattung Mensch. Wenn wir auf die Welt kommen, können wir lange Zeit nicht aus eigener Kraft überleben. Das ist bei den meisten Tieren anders. Menschen sind in diesem Sinne »Frühgeburten« und auf eine »soziale Gebärmutter« angewiesen. Das ist die Gruppe, besonders natürlich die engsten Angehörigen. Die Natur hat also dafür gesorgt, dass es zwischen den Neugeborenen und den Eltern eine biologisch angelegte Tendenz zur Verbindung gibt. Die dafür verantwortlichen Hirnstrukturen nennt man das Bindungssystem. Wir suchen Bindung – ob wir wollen oder nicht! Trennt man junge Hunde von ihren Müttern, jaulen sie, als ob sie körperliche Schmerzen hätten. Werden Menschen aus einem gemeinsamen Spiel ausgeschlossen, wird das Schmerzsystem im Gehirn genauso wie bei körperlichem Schmerz aktiviert. Obwohl die deutsche Sprache durchaus nicht arm an Worten ist, benutzen wir für seelischen und körperlichen Schmerz dasselbe Wort. Eben weil es sich ganz ähnlich anfühlt. Das hat die Natur sehr geschickt gemacht, wenn man das einmal so ausdrücken möchte: dass sich Mütter und Väter unbewusst zu ihren kleinen Schreihälsen hingezogen fühlen und sie ganz nebenbei auch noch für die süßesten Babys der Welt halten, was Außenstehende nicht immer nachvollziehen können. Aber mit einem liebevollen Blick betrachtet ist alles schön.
Bindungsfähigkeit. Dasselbe Gefühl haben wir später wieder, wenn wir uns verlieben. Auch das entbehrt manchmal jeder vernünftigen Grundlage. Fühlt sich aber trotzdem toll an. Ist es ein Zufall, dass das »Geturtel« zwischen Verliebten, dem zwischen Eltern und Säuglingen so ähnelt? Was spricht uns denn im Gegenüber emotional am meisten an? Wenn er oder sie sich verletzbar und offen zeigt! Das aktiviert unser Bindungssystem in Form von Beschützer- oder Bemutterungsinstinkten. Diese Fähigkeit, die Eltern emotional für sich einzunehmen und dadurch an sich zu binden, geht übrigens von den Säuglingen aus, indem sie immer wieder den Blick der Eltern suchen. Das Bindungssystem der anderen Person auszulösen ist überlebenswichtig: Tatsächlich sterben Alleinstehende früher als Menschen in einer Partnerschaft.
Bindung fördert die Gesundheit!
Zugegeben: Das klingt etwas unromantisch. Anderseits lüftet es aber auch ein Geheimnis einer guten Beziehung: Wenn wir in einer reiferen Partnerschaft (das klingt doch besser als »alte« Partnerschaft, oder?) wieder warme und liebevolle Gefühle für den Partner oder die Partnerin haben wollen, kann man etwas dafür tun. Wir dürfen nicht hinter unseren Alltagsgefühlen verschwinden und resigniert den Alltag erdulden oder gar emotional verhärten, sondern müssen uns gegenseitig wieder unsere verletzbare Seite zeigen. Wir müssen uns berühren lassen und dankbar zeigen für die Zuwendung der anderen Person. Seelisch und körperlich berühren. Das ist keine große Sache. Man muss sich nur innerlich einen kleinen Schubs geben und offen auf die andere Person zugehen. Eben bereit sein, den ersten Schritt zu machen. Das können wir von den Säuglingen lernen, die ihre Eltern mit großen Augen dankbar anschauen. Verliebte und Eltern-Kind-Paare sind maximal aufeinander bezogen, schauen sich oft tief und offen in die Augen und »spiegeln« sich in ihrem Erleben. Das schafft maximale Bindung.
Nähe entsteht, wenn Verletzbarkeit mit Zuwendung beantwortet wird.
Dieses »Spiegeln« hat noch eine weitere Funktion über das Schaffen von Bindung hinaus: Es stimuliert die Entwicklung des Gehirns des Säuglings. Man kann in unserem Gehirn verschiedene Systeme unterscheiden, die biologisch angelegt sind und von Geburt an funktionieren. Dazu gehört das Bindungssystem, aber auch andere wichtige Systeme wie das Belohnungs- oder das Angstsystem. Diese Systeme haben ihre Zentren in der Tiefe des Gehirns und arbeiten mehr oder weniger gefühlsgesteuert und automatisch. Sind sie aktiviert, wirken sie auf uns mit einem fast zwingenden Charakter, z. B. bei Ängsten oder Süchten. Diese Systeme haben wir mit den anderen Säugetieren gemeinsam.
Darüber wölbt sich bei Menschen die Hirnrinde bis hin zum Stirnhirn. Die Funktion der Hirnrinde entwickelt sich abhängig davon, wie sie benutzt wird. Dadurch werden wir für die Einflüsse unserer Umgebung offen und prägbar. Die Ausreifung dauert sehr lange, etwa bis zum 21. Lebensjahr. Daher ist auch der Einfluss der Eltern (und später der Freunde) auf unsere Entwicklung viel größer als bei Tieren. Unsere Beziehungsentwicklung setzt sich zusammen aus der Wechselwirkung zwischen der biologischen Grundlage (z. B. dem Bindungssystem) und den frühen Erfahrungen (z. B. der Spiegelung durch die Eltern).
Mentalisierungsfähigkeit. Vermutlich besteht ein entscheidender Entwicklungsvorteil der Gattung Mensch darin, dass uns der Aufbau unseres Gehirns erlaubt, auf die Welt nicht nur gefühlsgesteuert zu reagieren, sondern sie auch in unseren Gedanken abzubilden. Wir können sogar fühlen und denken, was andere Menschen fühlen und denken. Wenn wir sehen, wie einem geliebten Menschen Schmerz zugefügt wird, tut das fast genauso weh, als wären wir diesem Schmerz selbst ausgesetzt. Es sind in uns tatsächlich auch die gleichen Hirnregionen aktiv. Diese Fähigkeit, Erleben mitzufühlen und dafür Worte zu finden, nennt man »mentalisieren«. Es verbindet uns miteinander. Dadurch entsteht eine innere Parallelwelt zur Außenwelt.
Tatsächlich dient der Großteil unseres Gehirns dazu, die Umwelt in uns abzubilden und uns dadurch mit den anderen Menschen verbinden zu können. Dies ist die Grundlage für eine differenzierte Gruppenbildung mit einer geteilten Erlebniswelt, was vermutlich der entscheidende Vorteil der Menschen gegenüber den Affen war. Das ermöglichte uns, auch in der Savanne zu überleben, wo ein einzelner Mensch rasch die Beute von Raubtieren wurde. Man spricht daher vom »sozialen Gehirn« (social brain) des Menschen. Man kann in seinem Gehirn ca. 145 Menschen sicher auseinanderhalten (Dunbar, 1998). Diese Fähigkeit begrenzt die Größe der Gruppen, die wir bilden können. Das war etwa die Größe eines Stammes in der Urzeit. Wurde die Gruppe größer, wurde sie geteilt. Die gemeinsame Innenwelt, die Erlebnisse, die Mythen und Sagen, die Regeln und der Glauben verbinden die Menschen. Man fühlt sich zusammengehörig. Das geht über die Blutsbande hinaus. Es ist eine gemeinsam geschaffene Innenwelt, die die Menschen miteinander verbindet.
Bedeutung von Sprache. Wenn sich unsere Innenwelten zu sehr voneinander unterscheiden, ist das die Grundlage der Konflikte zwischen uns. Jeder sieht dann die Welt durch die eigene Brille und hält diese für normal und richtig. Man kann sich oft gar nicht vorstellen, dass ein anderer Mensch mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Welt ganz anders sehen kann. Das passiert aber, wenn verschiedene Gruppen (oder gar Kulturen) aufeinanderstoßen. Dann müssen die Innenwelten miteinander »synchronisiert« werden. Die Brillen müssen ausgetauscht werden. Das geschieht durch Begegnung und Austausch in der Gruppe. Nicht umsonst bezeichnet Dunbar (1998) im Titel seines grundlegenden Buches »Kuscheln« und »Tratschen« als Grundlage der Entwicklung unserer Sprache und damit unseres Sozialsystems. Unsere Sprache ist das Ergebnis und der Ausdruck unseres Austauschs mit der Welt. Wir bringen beim Bilden von Worten unser Erleben in eine Form, die andere Menschen verstehen können. Das nennt man »Symbolisierung«. Das Wort »Mutter« z. B. löst im Zuhörenden ein ganz komplexes inneres Erleben aus, das weit über das schlichte Wort hinausgeht. Jeder kann sich unter »Mutter« etwas vorstellen. Auch wenn sich das Erleben im Detail deutlich unterscheiden mag, gibt es einen Kern, der bei allen Menschen ähnlich ist. Das erleichtert uns das Verstehen untereinander. Der direkte Austausch von Gefühlen, z. B. durch Laute oder Mimik, ist zwar unmittelbarer, der Austausch über Sprache ist aber genauer und damit zuverlässiger. Worte können z. B. für...
Erscheint lt. Verlag | 20.7.2022 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-621-28906-2 / 3621289062 |
ISBN-13 | 978-3-621-28906-1 / 9783621289061 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich