Tolstoi und der Islam (eBook)
330 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-7146-7 (ISBN)
Ahmad von Denffer, in der muslimischen Szene Deutschlands wie auch international bekannt gewordener Autor und Übersetzer zahlreicher Schriften zum Thema Islam, war nach dem Studium von Islam- und Völkerkunde Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Islamic Foundation in Leicester und Herausgeber des Nachrichtendienstes Focus on Christian-Muslim Relations, später Deutschsprachiger Referent des Islamischen Zentrums München und Herausgeber der Zeitschrift Al-Islam, auch Projektleiter sowie langjähriger Vorsitzender von Muslime helfen.
I. AUF DER SUCHE
Wer Tolstoi war
Was Goethe für den deutschsprachigen Raum bedeutet, stellt Tolstoi für den russischsprachigen Raum dar. Jeder der beiden ist der herausragende Schriftsteller seiner Kultur und gilt darüber hinaus zumindest weiten Kreisen bis heute auch jenseits der jeweiligen Grenzen noch immer als moralische Instanz.
Wie Goethe hatte auch Tolstoi im Laufe seines Lebens gewisse Berührungen mit dem Islam, und ebenso wie bei Goethe fanden diese ihren Niederschlag in seinen Werken. Allerdings sind die Umstände nicht gleichzusetzen. Abgesehen davon, dass die beiden Schriftsteller nicht derselben Generation angehörten, gab es noch andere wesentliche Unterschiede. Vor allem darf nicht übersehen werden, dass Russland seit Jahrhunderten in Kriege mit Muslimen verwickelt war, durch die fortwährenden Eroberungen der Anteil von Muslimen an der Bevölkerung zunehmend wuchs und auch zu Tolstois Zeiten Kriege gegen Muslime geführt wurden - immer wieder gegen das Osmanische Reich und vor allem gegen die verschiedenen Völker im Kaukasus. Zur Zeit Goethes war die „Türkengefahr“ für die Menschen in Deutschland längst Geschichte, zur Zeit Tolstois war, wenn auch nicht für jedermann im Land, so doch für Russland insgesamt, der Krieg gegen Tataren, Tschetschenen und Türken Alltag.
Etwa 180 Kilometer südlich von Moskau liegt die Bezirkshauptstadt Tula, und noch 20 Kilometer weiter nach Süden Jasnaja Poljana. Dort, auf dem Familiengut, kam der russische Schriftsteller von Weltruhm Graf Lew Nikolajewitsch (Leo Nikolaussohn) Tolstoi 1828 zur Welt, verstarb 1910 mit 82 Jahren unweit von da und wurde an seinem Geburtsort begraben.
Als Zweijähriger hatte er die Mutter verloren, sieben Jahre danach starb auch sein Vater. Seit 1841 lebte Lew Tolstoi bei seiner Tante in Kasan, wo er 1844 mit dem Studium an der Fakultät für orientalische Sprachen begann, doch schon im nächsten Jahre stattdessen Jura wählte. Mit 19 Jahren kehrte er nach Jasnaja Poljana zurück.
Die Jahre 1851 bis 1856 verbrachte er beim Militär, zunächst im Kaukasus, später während des Krimkriegs bei Sewastopol. In dieser Zeit begann er zu schreiben, zu veröffentlichen und erlangte mit seinen „Sewastopoler Erzählungen“ grosse Bekanntheit.
Zurück in Jasnaja Poljana setzte Tolstoi seine schriftstellerische Tätigkeit fort, unternahm 1857 und 1860 Auslandsreisen nach Westeuropa, befasste sich mit der Frage der Volksbildung und betrieb eine Schule für Bauernkinder auf seinem Gut. Mit 34 Jahren heiratete er 1862 die damals 18-jährige Sofja Andrejewnja Behrs aus Moskau, mit der er im Lauf der Jahre 13 Kinder hatte.
Sein Hauptwerk „Krieg und Frieden“ stellte Tolstoi 1868 fertig, in den 1870er Jahren schrieb er neben anderen Texten den Roman „Anna Karenina“ und wandte sich zunehmend Fragen der Religion und religiösen Praxis zu. Seit etwa 1880 distanzierte er sich in seinen Veröffentlichungen zunehmend schärfer von der Kirche, schrieb Erzählungen, die an das Volk gerichtet waren und unterstützte den zum Zwecke der Volksbildung begründeten Verlag „Posrednik“ (Der Vermittler), in dem mehr als 40 seiner Schriften erschienen.
Seit 1881 lebte Tolstoi mit seiner Familie in Moskau. Als Mitwirkendem bei der Volkszählung 1882 begegnete ihm dort unmittelbar die städtische Armut, und in der Folge thematisierte er immer häufiger die sozialen Missstände in Russland und wiederholte seine Kirchenkritik. Insbesondere in der Schrift „Worin besteht mein Glaube?“ stellte er sein eigenes Verständnis vom wahren Christsein der kirchlichen Lehre und Praxis gegenüber. Dieser Text erschien erstmals 1885 auf Deutsch, übersetzt von Sophie Behr, Tolstois Ehefrau.
Während der Hungerjahre 1891 bis 1894 engagierte Tolstoi sich bei Begründung und Betrieb von Armenküchen, schrieb Texte über die Not und sammelte im In- und Ausland Mittel für die Hungerhilfe. Desgleichen unterstützte er die Auswanderung von tausenden „Duchoborzen“ (Geisteskämpfern) nach Kanada. Diese Anhänger einer Abspaltung von der Russisch-Orthodoxen Kirche lehnten wie Tolstoi Gewalt und insbesondere den Militärdienst ab. 1901 exkommunizierte die Russisch-Orthodoxe Kirche Tolstoi wegen seiner fortwährenden Ablehnung kirchlicher Dogmen.
Seit 1902 lebte er wieder in Jasnaja Poljana, wo er weiterhin schrieb und ihn zahlreiche Anhänger seiner Gedanken besuchten. Die schon in der Vergangenheit gewachsenen Spannungen zwischen den Eheleuten nahmen weiter zu, je mehr Tolstoi damit ernst machte, sein eigenes Leben konsequenter nach den von ihm geforderten Grundsätzen zu gestalten. Er gab die Urheberrechte an vielen seiner Werke frei, verzichtete damit auf entsprechende Einkünfte und stellte konkrete Überlegungen an, überhaupt auf seinen Besitz zu verzichten. Im November 1910 verliess er heimlich Jasnaja Poljana und verstarb kurz danach auf einem Bahnhof. Tausende nahmen an Trauerumzügen in verschiedenen Städten Russlands teil. Sein letztes grosses literarisches Werk „Hadschi Murat“ wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht.
Viele seiner kirchen- und gesellschaftskritischen Texte konnten wegen der strengen russischen Zensur zunächst nur im Ausland erscheinen, teils in russischer Sprache, teils als Übersetzungen. Die vollständige Gesamtausgabe von Tolstois Werken in russischer Sprache einschliesslich seiner Tagebücher und Briefe umfasst 90 Bände. Mittlerweile liegen diese vollständig digitalisiert vor. 1
„Verschweigen“
Ein kleines Buch in Frakturschrift, mit abgegriffenem Einband und dem Titel „Volkserzählungen des Grafen Leo N. Tolstoj“ erinnert mich an unsere alte Tante Grete, in deren Jugend Tolstoi und seine Geschichten populär waren. Irgendwie gelangte es an uns Kinder, doch ist mir nicht bewusst, dass es einen besonderen Eindruck hinterlassen hätte. Heute kann ich, anders als damals, etwas damit anfangen, wenn ich in „Der Gefangene im Kaukasus“ von „Kasi-Muhamed“, von „Abdul“ und von „Tataren“ lese.
Später hörte ich mehr von Tolstoi. Wirklich interessiert hatte mich aber zunächst nur sein Hauptwerk „Krieg und Frieden“. Was mich ansprach, war nicht Tolstois literarische Kunst als solche, nicht der Roman an sich, nicht die einzelnen Charaktere und ihre Beziehungen zueinander, sondern die Epoche, der geschichtliche Kontext, das Milieu, in dem - wie Tolstois Gestalten - auch meine Familienangehörigen gelebt hatten. Vier von ihnen waren in den Kriegen gegen Napoleon russische Offiziere, darunter auch einer meiner direkten Vorfahren. Ebenso konnten die Erzählungen Tolstois, die im Kaukasus und auf der Krim spielen, entsprechende Hintergrundeindrücke vermitteln.
Als ich mich einmal für die gesetzgeberischen Bestrebungen der russischen Kaiserin Katharina II. interessierte, stiess ich dabei auf Tolstois Tagebuchaufzeichnungen. Sie beginnen 1847 mit knappen Hinweisen aus der Zeit, die er in Kasan verbrachte. Demnach erstellte er als Jura-Student eine Analyse der gesetzgeberischen „Instruktion“ der Kaiserin Katharina II., beschäftigte sich mit der Frage „Worin besteht das Lebensziel des Menschen?“ 2 und entwarf Lebensregeln für sich selbst.
Dabei fiel ein merkwürdig erscheinender Umstand auf: Im Tagebuch fehlt Tolstois begonnenes Studium an der Fakultät für orientalische Sprachen. Er mag es deshalb übergangen haben, weil er es bald aufgab und darum vielleicht für nicht erwähnenswert hielt. Doch mehr als das - Tolstoi verlor auch kein einziges Wort über den Islam, obwohl er jahrelang in der mehrheitlich von muslimischen Tataren bevölkerten Stadt Kasan gelebt hatte.
Dieses „Verschweigen“ schien mir seltsam. Nun wollte ich wissen: Hatte Tolstoi in seinem weiteren Leben vielleicht noch andere Gelegenheiten gehabt, mit dem Islam in Berührung zu kommen? Und falls ja, wie hatte er sich dabei verhalten? Eine ausführliche Untersuchung zum Thema „Tolstoi und der Islam“ fand ich nicht. So kam es zu meinem Bemühen, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Was ich herausgefunden habe, teile ich nun mit. Eine vergleichbar umfassende Darstellung liegt bisher nicht vor. Dabei kann und will ich nicht behaupten, dass alles so ist oder so war, wie ich schreibe, ich kann nur versuchen, aufzuzeichnen, wie es sich mir darstellte und wie ich es wahrgenommen habe. Meine Ansichten sind persönliche, die Quellen, auf denen sie beruhen, lieferten das Material dazu. Wo immer mir zugänglich, bringe ich eine bereits veröffentliche deutsche Fassung. Ich zitiere sie unverändert unter Verzicht auf Vereinheitlichung der Wortwahl, Schreibweise und wissenschaftlichen Umschrift. Das gilt ebenso für die Namenangaben, einschliesslich der Varianten für den Namen des Propheten des Islam, der meist in der altertümlichen Form „Mahomet“ vorkommt. Muslimische Leser werden seiner Erwähnung die übliche Formel „Allah gebe ihm Heil und Frieden“ beifügen, die in den Zitaten fehlt und hier nicht jedesmal angefügt wurde. Ansonsten bleibt allein der Verweis auf die russischen...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Islam |
ISBN-10 | 3-7562-7146-3 / 3756271463 |
ISBN-13 | 978-3-7562-7146-7 / 9783756271467 |
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