Mentalisieren bei Psychosen (Mentalisieren in Klinik und Praxis, Bd. 6) (eBook)
272 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11614-4 (ISBN)
Helga Felsberger, Mag. Dr. phil., Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (Gruppenanalyse, Psychoanalytische Psychotherapie), Supervisorin, Lehrtherapeutin im ÖAGG und am Seminar für Gruppenanalyse Zürich, tätig in freier Praxis. Adjunct Professor für Psychologie an der Webster Private University Vienna, ehemals Leiterin des ÖAGG-Weiterbildungslehrgangs 'Mentalisieren in der Psychotherapie und Beratung', Mitherausgeberin der Zeitschrift »Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse«.
Helga Felsberger, Mag. Dr. phil., Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (Gruppenanalyse, Psychoanalytische Psychotherapie), Supervisorin, Lehrtherapeutin im ÖAGG und am Seminar für Gruppenanalyse Zürich, tätig in freier Praxis. Adjunct Professor für Psychologie an der Webster Private University Vienna, ehemals Leiterin des ÖAGG-Weiterbildungslehrgangs "Mentalisieren in der Psychotherapie und Beratung", Mitherausgeberin der Zeitschrift »Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse«. Ulrich Schultz-Venrath, Prof. Dr. med., ist Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie (DGPM) und Nervenheilkunde (DGN), Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA) und Gruppenlehranalytiker (D3G, EFPP, GASI) in eigener Praxis in Köln. Er ist Professor für Psychosomatik an der Universität Witten/Herdecke. Bis 2019 war er Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des EVK Bergisch Gladbach. Des Weiteren ist er Sprecher der Herausgeber der Zeitschrift »Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse« und Sprecher des Beirats für Wissenschaft und Forschung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (D3G). Herausgeber der Reihe »Mentalisieren in Klinik und Praxis«.
Kapitel 1
Die Macht der Worte
Es gibt kaum etwas, das den Menschen mehr Angst macht als die Erfahrung einer Psychose. Gleichzeitig gibt es kaum ein Wort, das einen psychischen Zustand zu beschreiben versucht und dabei mehr Schrecken verbreitet als der Begriff »Schizophrenie«,[1] was Behandlerinnen, die mit Psychose-Erkrankten und deren Angehörigen zu tun haben, bestens wissen. Die Vorstellungen und Fantasien, die sich im allgemeinen Sprachgebrauch um diesen Begriff ranken, werden mit Eigenschaften wie Unberechenbarkeit, Aggressivität und Gefährlichkeit assoziiert. Er habe geradezu ein Eigenleben entwickelt und sei daher besser, wenn überhaupt, mit Vorsicht zu verwenden (Katschnig 1989).
Andererseits ist gerade das sogenannte »schizophrene« Erleben prototypisch für die Erforschung des menschlichen Geistes, da es die fundamentalste Beeinträchtigung der Persönlichkeit darstellt und dabei die grundlegendsten Funktionen unseres Selbsterlebens betroffen sind, wie z. B. das Gefühl von Individualität, Einzigartigkeit und Selbststeuerung. Gemeint sind hier die Art und Weise, wie wir uns im Zusammensein mit anderen erleben, Daniel Sterns »ways-of-being-with others« (Parnas et al. 2005; Stern 1974; Stern et al. 1998) und wie wir uns in der Welt verankert fühlen (Sass & Pienkos 2013; Sass et al. 2017; Stanghellini & Ballerini 2011).
Diese Erlebensweisen entwickeln sich im Laufe der Kindheit und des Jugendalters und werden auf allen Bereichen verallgemeinernd in unser Selbsterleben eingebaut (Hipólito et al. 2018). Menschen mit aktuellen Psychose-Erfahrungen berichten von Beeinträchtigungen in ihrem Selbsterleben, insbesondere davon, wie sich ihre verschiedenen Erfahrungsmodalitäten des Denkens, Wollens, Fühlens, usw. ausdrücken (Fuchs 2022). Eine Teilnahme am sozialen Leben wird dadurch schnell zur Überforderung. Die Vermittlung und das Verständnis mimischer und gestischer Signale oder Intentionen von Emotionen stellen zunehmend eine Hürde dar. Verzerrte Einschätzungen, eine erhöhte Gewissheit bei gleichzeitig vorschnellem Beurteilen einer Situation, Schwierigkeiten beim Perspektivenwechsel können die Kontaktaufnahme erschweren und führen zu sozialer Isolation. In der Folge kann ein jahrelanger sozialer Ausschluss diese Beeinträchtigungen im empathischen Mitschwingen und damit im Gewahrwerden des Selbst und des anderen verschlimmern.
Wie kann mit einer entsprechenden mentalisierungsfördernden Haltung und Vorgehensweise diesen Schwierigkeiten Rechnung getragen werden und so die Therapie für die Betroffenen hilfreich und von Nutzen sein? Menschen mit Psychose-Erfahrungen brauchen besonders dringend eine auf sie abgestimmte und modifizierte Psychotherapie, da die Beeinträchtigungen im Mentalisieren meist ausgeprägter und anhaltender sind als bei anderen strukturellen Erkrankungen (Lempa et al. 2016). Einbrüche im Mentalisieren gibt es bei Menschen, die die Diagnose »Schizophrenie« erhalten, allerdings nicht nur aufseiten der Betroffenen, sondern auch in deren Umfeld, wie später noch genauer ausgeführt wird.
In der Psychosen-Behandlung ist die Mentalisierungsfähigkeit sowohl der Betroffenen als der Therapeutinnen von außerordentlicher Bedeutung, da die Hürden und Hindernisse in sehr subtilen, oftmals schwer erkennbaren Bereichen der Kommunikation und Interaktion auftreten, wie etwa in einer verringerten Abstimmung und im emotionalen Mitschwingen, in abweichender Synchronizität, etwa in der Gestik, der Mimik und in der emotionalen Prosodie. Ängste und Zuschreibungen im Zusammenhang mit der Stigmatisierung von Menschen mit Psychosen beeinträchtigen das Mentalisieren also bei allen Beteiligten. Betroffenen den Einstieg in die Psychotherapie zu erleichtern und die Verweildauer in der therapeutischen Beziehung zu verlängern, ist daher bei Psychose-Erkrankungen besonders wichtig.
1.1 »Das ist doch schizophren!« – Ein umstrittener Begriff
»Das tut weh: Schizophrenie. Das tut weh. Ich bin nicht dieses Wort« (Schmidt 2020, S. 13).
Nicht selten hören wir Bemerkungen wie: »Was der macht, ist doch völlig schizophren«, oder wir sehen bestimmte gesellschaftliche Ereignisse als »total schizophren« an. Dies sind metaphorische Phrasen, die auf Zwiespältigkeit, Unsinnigkeit oder ein absurdes Verhalten hinweisen sollen. Der alte Terminus »Spaltungsirrsein« hat sich im Alltagssprachgebrauch im Begriff »schizophren« gehalten, wird aber oft im Sinne einer »gespaltenen« Persönlichkeit mit Assoziationen zu den Romanfiguren Dr. Jekyll und Mr. Hyde verstanden und damit zum Gegensatzpaar von Gut und Böse. Sogar in der medialen Berichterstattung wird der Ausdruck »schizophren« als Zuschreibung für unfassbare, gefahrenbergende Umstände gebraucht.[2]
Ende der 70er Jahre löste Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher (Sontag 1978) eine breite Diskussion in der angelsächsischen und deutschsprachigen Öffentlichkeit aus. Sie bezog sich darauf, wie der Begriff »Krebserkrankung« zunehmend als Metapher verstanden wurde und als Erkrankung für die Unfähigkeit des Erkrankten stand, seine Gefühle auszudrücken und auszuleben. Die Metapher suggerierte, dass diese »Unfähigkeit« letztlich Ursache für eine selbst verschuldete Krankheit sei.
Mit dem Artikel »Das ist doch schizophren! Vom Missbrauch der Schizophrenie als gesellschaftliche Metapher« hatte Asmus Finzen (1996) diese Entwicklung ähnlich kritisiert. Der Autor vermutete, dass diese metaphorische Verwendung erst die negative Konnotation bewirke und dadurch mit dem Krankheitsbild der Schizophrenie eine Persönlichkeitsspaltung assoziiert werde. »Schizophrenie ist nicht nur eine Krankheitsbezeichnung. Schizophrenie ist – wie Krebs und Aids und früher die Tuberkulose – zugleich eine Metapher. Der Begriff steht für alles Mögliche andere; und nichts davon ist gut« (Finzen 1996, S. 38).
In mehreren internationalen Studien (Hoffmann-Richter et al. 1998) wurden die Auswirkungen der metaphorischen Verwendung des Begriffs »Schizophrenie« und die Rolle der Medien bei der Entstehung und Verbreitung von Vorurteilen und der Stigmatisierung betroffener Menschen untersucht (Duckworth et al. 2003; Hoffmann-Richter et al. 2003). US-amerikanische Tageszeitungen verwendeten demnach den Begriff zu 28 % metaphorisch, deutsche gar zu 58 % und schweizerische zu 31 %. So wurde in einer der renommiertesten deutschen Zeitungen eine besonders große Kluft zwischen einer seriösen und einer abschätzigen Verwendung des Wortes »Schizophrenie« als Metapher dokumentiert (Chopra & Doody 2007).
Bis heute haben sich Vorurteile gegenüber Menschen mit Psychosen gehalten. Die Diskriminierung von Schizophrenie-Erkrankten ist immer noch weit verbreitet. Das Kompetenznetz Schizophrenie untersuchte die Einstellungen der Bevölkerung in sechs deutschen Großstädten (Gaebel et al. 2002) und befragte dazu 7246 Personen telefonisch: Mehr als die Hälfte der Befragten glaubte, dass Schizophrene nicht in der Lage seien, einer geregelten Arbeit nachzugehen, jeder Fünfte dachte, Schizophrene wären eine Gefahr für die Öffentlichkeit (wobei statistisch gesehen psychisch Kranke weniger häufig straffällig sind als sogenannte »Normale«). Drei Viertel der Befragten gaben an, dass sie keinen Schizophrenen heiraten würden, und knapp ein Viertel konnte sich nicht vorstellen, mit einem Schizophrenen eine Freundschaft fortzusetzen. Gar 79 % der Befragten glaubten, dass Schizophrene unter einer gespaltenen Persönlichkeit leiden, ein besonders hartnäckiges Vorurteil, wie die Umfrage des Vereins open the doors belegt. Die soziale Distanz ist laut der Umfrage umso größer, je weniger Kontakt die Befragten zu Erkrankten hätten, und altersabhängig, denn bei den damals über 60-Jährigen trete sie häufiger auf. Mithilfe von Antistigma-Programmen und -Initiativen wurden inzwischen durchaus nachweisbare Effekte erzielt.
20 Jahre nach dieser Umfrage werden jedoch die Erfolge von Antistigma-Initiativen durch reißerische Darstellungen in diversen Medien, wie Kinofilmen, schnell wieder getrübt. Anhand des Filmes Joker konnte in Neuseeland gezeigt werden, wie massiv populäre Kinofilme die öffentliche Meinung bezüglich psychisch Kranker beeinflussen (Scarf et al. 2020). Nachdem sie den Film gesehen hatten, assoziierten die Versuchspersonen in einem höheren Ausmaß Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen, stellt der Film Joker doch die Hauptfigur als eine psychisch kranke Person dar, die im Laufe des Filmes gewalttätig wird. Dieser Film wurde weltweit von über 100 Millionen Menschen gesehen und spielte über eine Milliarde Dollar ein. Die Autoren der Studie gingen außerdem davon aus, dass die Stigmatisierung und die Selbststigmatisierung psychisch erkrankter Menschen sogar von der Inanspruchnahme von Hilfe abhalten könnten. Die Fortsetzung Joker 2 ist 2024 in die Kinos gekommen.
Menschen mit psychischen Erkrankungen, vor allem Menschen, die an Schizophrenie erkranken, wird in allen Ländern und in allen Kulturen immer noch ein geringerer gesellschaftlicher Wert beigemessen als Menschen ohne psychische Erkrankung. Laut einer Umfrage mit Teilnehmern aus 27 Ländern fühlen sich 50 %...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2024 |
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Reihe/Serie | Mentalisieren in Klinik und Praxis | Mentalisieren in Klinik und Praxis |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Psychosen | |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Bateman • Fonagy • Mentalisation • Mentalisierung • Mentalisierungsbasierte Therapie • mentalisierungsgestützte Therapie • Mentalisierungsstörung • Persönlichkeitsstörung • Psychoanalyse • Psychodynamische Therapie • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychose • Psychose-Spektrum • Psychotische Erkrankung • Soziale Kompetenz • Strukturelle Störung • Therapeutische Beziehung • Ulrich Schultz-Venrath |
ISBN-10 | 3-608-11614-1 / 3608116141 |
ISBN-13 | 978-3-608-11614-4 / 9783608116144 |
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