Sandspiel (eBook)
169 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61619-0 (ISBN)
Dora M. Kalff war Schülerin von C. G. Jung, studierte am Jung-Institut in Zürich und bei Margaret Lowenfeld in London. Aus Jungs tiefenpsychologischer Lehre und Lowenfelds "World Technique" entwickelte sie das "Sandspiel", eine heute weltweit verbreitete Therapie- und Diagnosemethode.
Dora M. Kalff war Schülerin von C. G. Jung, studierte am Jung-Institut in Zürich und bei Margaret Lowenfeld in London. Aus Jungs tiefenpsychologischer Lehre und Lowenfelds "World Technique" entwickelte sie das "Sandspiel", eine heute weltweit verbreitete Therapie- und Diagnosemethode.
Christoph
Überwindung einer Angstneurose
An der Hand seines hochgewachsenen, bäuerlich aussehenden Vaters machte der 9jährige Christoph einen überaus zarten und ängstlichen Eindruck. Er kam jedoch meiner Aufforderung, mit mir ins Spielzimmer zu kommen, willig nach. Etwas zögernd, doch neugierig schaute er sich um. Kleine Löckchen kräuselten sich um seine blasse, ziemlich hohe Stirn. Das sollte ein Kind vom Lande sein? Nach einer Weile blieb sein Blick auf der kleinen «Käpselípistole» (Knallpistole) haften, die in einiger Entfernung von ihm lag. «Möchtest du damit spielen?» fragte ich ihn. Eine kurze, aber bestimmte Abwehrbewegung verriet mir, daß er davor Angst hatte.
Von seinem Vater hörte ich, daß die Schulbehörde ihn aufgefordert habe, den Knaben zu einem Psychologen zu bringen, da er immer wieder heimlich von der Schule fern blieb. Christoph verließ sein Zuhause pünktlich vor Schulbeginn und kam auch zur richtigen Zeit nach Schulschluß wieder nach Hause. Daher ahnte die Mutter zunächst nicht, daß er oft die Schule schwänzte.
Mit seinen Eltern und einem um zwei Jahre jüngeren Bruder wohnte Christoph abseits in ländlicher Umgebung. Sein Schulweg führte durch Wiesen mit Obstbäumen zur Dorfschule. Was mochte er in der Zeit, da die andern Kinder in der Schulstube saßen, getan haben? Niemand wußte es.
Sein Blick streifte den Sandkasten. «Hast du auch schon mit Sand gespielt?» «Ja, früher, das ist nur noch gut für meinen kleinen Bruder, ich bin schon zu groß dazu », antwortete er.
«Aber vielleicht hast du noch nie mit Figuren wie diesen hier» – ich zeigte ihm meine Sammlung – «im Sand gespielt.»
Das schien ihm einzuleuchten. Flink ging er ans Werk. In der Mitte entstand ein großer Hügel, und mit größter Sorgfalt höhlte er einen Tunnel aus, der von einer Seite zur andern gehen sollte. Er war erst befriedigt, als er hindurchschauen konnte. Dann wandte er sich den Figuren zu. Ein kleines Haus schien ihm zu gefallen. Dieses setzte er in die linke untere Ecke. Daneben stellte er eine Schaukel. Alles zusammen zäunte er ein, ohne eine Öffnung für Ein- und Ausgang freizulassen. Auf den höchsten Punkt des Hügels pflanzte er eine hohe Pappel, und unter ihrem Schutz saß ein kleiner Junge auf einer Bank. Ein schmaler Fußpfad führte von der Anhöhe in die Ebene hinunter.
Nun wurde er plötzlich lebendig, suchte sich schwere Tanks, Soldaten und Waffen aus und stellte sie rings um und auf den Hügel. Ein Krieg sei ausgebrochen, sagte er. Soldaten belagerten den Hügel, Mitrailleure schossen durch den Tunnel, und die Tanks wurden zum Kampf bereitgestellt. Ja, er wünschte sogar, daß Bomber an der Zimmerdecke an Fäden aufgehängt würden, da der Hügel auch aus der Luft angegriffen werde. Der Knabe, der zu Beginn der Stunde so scheu und ängstlich um sich geschaut hatte, war wie von einem Fieber ergriffen, bis alles so war, wie er es wünschte! Daraufhin schaute er befriedigt auf sein Bild, versicherte sich, daß der Bomber sein Ziel nicht verfehle, und ehe er das Zimmer verließ, stellte er rasch eine Tankstelle an den Rand der linken Bildseite. Seine Wangen waren gerötet, als er seinem Vater entgegenging und ihn bat, zu sehen, womit er gespielt hatte.
Das Bild (Abb. 16) nun zeigt einerseits eine friedliche Situation, wie sie bei ihm zu Hause sein mochte: ein Haus, einen kleinen Garten, einen schaukelnden Knaben. Hier schien es ihm wohl zu sein. Gleichzeitig saß oben auf dem Hügel neben einem hohen Baum ein zweiter Knabe, mit dem sich Christoph wohl ebenfalls identifizierte.
Der tief in der nährenden Erde verwurzelte Baum, dessen Stamm gegen den Himmel wächst und sich zur Krone entfaltet – der im Frühling Blüten treibt, die im Herbst zu Früchten reifen – hat von jeher die Menschen beschäftigt. Sein Wachstum wird mit dem menschlichen Leben verglichen, und er wird in vielen Kulturen als Lebensbaum dargestellt. In seinem Schatten sucht der Mensch Schutz, und seine Früchte stillen Hunger und Durst. So verkörpert er auch die schützenden und nährenden Elemente.
Der Knabe träumte dort oben auf dem Hügel und sehnte sich im Schutz dieses Baumes nach der Entfaltung seiner Begabungen, die ihm erlauben würden, einen gebührenden Platz in der Welt einzunehmen. Doch der Krieg, der um den Hügel tobte, bedrohte diesen Wunschgedanken. Die Außenwelt erschien ihm als unüberwindbarer Gegner; ängstlich zog er sich in seinen Temenos, den umhegten Raum seines Heims, zurück.
Als ich seinen Hügel betrachtete, erinnerte mich dessen Form unwillkürlich an die Wölbung des Leibes einer schwangeren Frau, und ich fragte mich, weshalb wohl gerade der Hügel das Ziel jener Attacken war. Könnte es sein, daß die Mutter eine unglückliche Schwangerschaft durchgemacht hatte? Suchte der Knabe einen andern weiblichen Schutz als den seiner leiblichen Mutter, daß er sich unter den Baum auf den Hügel setzte? Ein Gespräch mit der Mutter, so schien mir, könnte aufschlußreich sein.
Sie erzählte mir, als Tochter von Bauern hätte sie ein hartes Leben gehabt. Oft fühlte sie sich nicht wohl, hatte Leibschmerzen, doch wurde diesen nicht viel Beachtung geschenkt. Vielmehr wurde sie oft als faul gescholten, wenn sie sich unpäßlich fühlte. Aber Schmerzen hatten sie fast immer begleitet, auch dann, als sie sich verheiratete. Sie fürchtete sich daher vor einer Schwangerschaft und brauchte die Versicherung von verschiedenen Ärzten, sie könne ohne Bedenken einem Kind das Leben schenken. Doch kaum fühlte sie sich schwanger, wurde sie von großer Angst befallen; der Gedanke an die Geburt schien ihr fast unerträglich. Wiederum brauchte sie die Betreuung durch einen Arzt, bis sie getröstet der Geburt entgegensehen konnte. Diese verlief soweit normal. Doch kaum fühlte sie die Verantwortung für das kleine Wesen, unseren Christoph, wurde sie wiederum von Ängsten geplagt.
So war anzunehmen, daß der Bub wirklich nie Geborgenheit bei der Mutter gefunden hatte. Es wäre sogar denkbar gewesen, daß sich die Ängste der Mutter auf das Kind übertragen hatten.
Zudem hatte der kleine Christoph reichlich Pech gehabt in seinem jungen Leben. Mit kaum zwei Jahren steckte er sein Fingerchen in eine elektrische Steckdose, was ihm einen Schock versetzte. Noch bevor er in die Schule ging, mußte er sich der Operation einer Darmhernie unterziehen. Auch diese Erfahrung schien ihn sehr eingeschüchtert zu haben. Die Mutter erzählte mir, daß er vor Spritzen große Angst habe, auch daß er den weißen Mantel des Arztes scheue. Er habe Angst vor dem Dunkeln und fürchte sich, am Abend allein sein Schlafzimmer aufzusuchen, das einen Stock höher lag.
Als er im zweiten Schuljahr einen Lehrer bekam, der die Kinder mit ziemlich rauher Hand anfaßte, dehnte sich begreiflicherweise Christophs Angst auf den Lehrer aus. Dies mochte dazu geführt haben, daß er von Zeit zu Zeit der Schule fern blieb. In jener Zeit fing er auch an, der Mutter kleine Dinge zu entwenden, vor allem Süßigkeiten.
Es ging nun zunächst darum, dem Knaben die Sicherheit zu geben, die ihn befähigen würde, den Unbilden des Lebens zu trotzen.
In seinem Bild hatte er selbst dargestellt, daß er Geborgenheit außerhalb des Zuhauses suchte. Er sah sich oben auf dem Berg im Schutz des Baumes, er suchte eine symbolische Mutter. Andrerseits stellte der Baum auch ein Symbol des Selbst dar. Er verkörpert nicht nur das Weiblich-Mütterliche, sondern sein gerader Stamm hat auch phallische Bedeutung. Damit ist er ein Träger der sich vereinigenden Gegensätze. Prognostisch gesehen konnte ich hoffen, daß eine Zentrierung der in der Natur des Knaben angelegten Kräfte möglich würde. Auch freute ich mich, daß Christoph im letzten Moment ganz links an den Rand des Bildes eine Tankstelle gesetzt hatte. Neue Energien konnten im Unbewußten getankt werden!
Sehr bald, schon nach der zweiten Stunde, schien er sich bei mir sehr wohl zu fühlen. Er bestimmte, welche Spiele gespielt werden sollten. Ein kleiner Kaufladen übte zuerst die größte Anziehungskraft aus. Christoph wollte bei mir einkaufen kommen. Da waren Früchte aller Art, Spezereien und Süßigkeiten. Orangen wurden in großen Mengen gekauft. Kein Wunder, daß die leuchtende Kugel, die im Innern eine süße, saftige Frucht birgt, und Keime, die neues Leben bedeuten, für den Knaben das waren, was sein Unbewußtes anstrebte.
Das friedliche Spiel nahm eines Tages dadurch ein jähes Ende, daß Christoph plötzlich einen Überfall auf den Laden inszenierte. Der Junge war der Angreifer, und ich wurde zum Polizisten bestimmt, der ihn suchen mußte. Christoph hatte großen Spaß, sich in unserem alten Haus, das viele Verstecke hat, so zu verbergen, daß ich ihn lange suchen mußte. Oft verlängerte ich die Suche absichtlich, um ihm zu zeigen, wie gut er sich versteckt hatte. Wollte Christoph mit diesem Spiel nicht, daß ich sein Verborgenes aufdecken sollte? Er wollte ernstgenommen, er wollte gesucht werden.
Einmal verriet er mir, daß er, wie sein Vater, gern zeichne. Er wollte auf die große weiße Tafel...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Diagnosemethode • Klassiker • Psychodiagnostik • Psychologie • Therapeutisches Sandspiel • Therapieerfahrung • Therapiemethode |
ISBN-10 | 3-497-61619-2 / 3497616192 |
ISBN-13 | 978-3-497-61619-0 / 9783497616190 |
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