Alle Wege führen nach Rom (eBook)
272 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11920-6 (ISBN)
Michael Sommer, geboren 1970, studierte Geschichte, Klassische Philologie, Wissenschaftliche Politik und Vorderasiatische Archäologie in Freiburg. Von 2002 bis 2012 forschte und lehrte er in Oxford und in Liverpool. Seit 2012 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Seine Bücher zur römischen Geschichte sind Standardwerke.
Michael Sommer, geboren 1970, studierte Geschichte, Klassische Philologie, Wissenschaftliche Politik und Vorderasiatische Archäologie in Freiburg. Von 2002 bis 2012 forschte und lehrte er in Oxford und in Liverpool. Seit 2012 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Seine Bücher zur römischen Geschichte sind Standardwerke.
ZWEI
Der Zorn des Achill. Griechenland lernt laufen
143 n. Chr., in Rom regierte der Kaiser Antoninus Pius im fünften Jahr, besuchte ein 25-jähriger Grieche die Tibermetropole. Es war der erste Aufenthalt des jungen Mannes in der Hauptstadt, die ihn zutiefst beeindruckte. Aelius Aristides war römischer Bürger und von Beruf Redner. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches. Die griechische und die römische Antike war eine eminent rhetorische Kultur: Reden wurden zu jedem Anlass gehalten, Menschen mit dem kunstvoll gesprochenen Wort überzeugen, in den Bann ziehen oder auch nur erfreuen zu können, war eine wichtige Voraussetzung, um in der Politik reüssieren zu können.
Doch nur wenige beherrschten die Kunst der Rede in solcher Perfektion wie Aristides. In klaren, schnörkellosen Sätzen, die sich in das Gedächtnis der Zuhörer einbrannten, sprach der Grieche zu seinem Publikum. Und auch den Römern gab Aristides eine Kostprobe seines Könnens. Für sie hatte er sich etwas Besonderes ausgedacht: Er hielt, selbstverständlich in der Sprache der Gebildeten, auf Griechisch, eine Rede auf ihre Stadt, »Auf Rom«, eis Rhōmēn. Und als Hellene konzedierte Aristides den Römern bereitwillig, dass sie vieles bessergemacht hatten als seine Landsleute. Anders als das Alexanderreich und seine Nachfolgestaaten hätte das römische Imperium die von ihm unterworfenen Völker nicht nur gut behandelt, sondern sogar schrittweise zu Römern gemacht. Aristides attestiert der Weltmacht und vor allem ihrer Hauptstadt eine kolossale Integrationsleistung: Wie ein Meer das Wasser von Flüssen, so habe sie Menschen aus aller Welt in sich aufgenommen. Im Reich hätten sich Frieden und Wohlstand, Recht und Ordnung ausgebreitet, römische Ingenieure hätten noch die entferntesten Gegenden mit Straßen, Brücken und Tunneln erschlossen. Die Römer würden den Globus so organisieren, als wäre er eine einzige Familie, und so das Homerwort wahrgemacht, nach dem die Erde allen gemeinsam ist. Am Ende richtet Aristides ein Gebet an die Götter: Sie mögen diesem Imperium, das allen die Zivilisation gebracht hat, ihre Gunst schenken und ihm Dauer verleihen.
Rund tausend Jahre vor Aristides, Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr., sah die Welt um das Mittelmeer herum noch völlig anders aus. In Griechenland, Kleinasien, Syrien, Mesopotamien und Ägypten lebten die Menschen, die meisten von ihnen Bauern, Hirten oder Fischer, inmitten der Ruinen einer monumentalen Vergangenheit: Überreste großer Reiche, von Palästen, Tempeln und Städten, die das Rückgrat einer Weltzivilisation gewesen war. Drei Imperien waren nochmals rund 350 Jahre zuvor in Schutt und Asche versunken: das Hethiterreich in der heutigen Türkei, das ägyptische Neue Reich im Niltal und das Mittelassyrische Reich im Zweistromland von Euphrat und Tigris, dazu Dutzende kleinerer Königreiche in Ägäis und Levante.
Große Metropolen wie die hethitische Hauptstadt Hattuscha, Mykene in Griechenland, Troia und die Handelsstadt Ugarit in Syrien, die für die Ewigkeit gebaut schienen, waren plötzlich, kurz nach 1200 v. Chr., nichts als rauchende Trümmer. Die Mächte der Spätbronzezeit, die historisch zum ersten Mal große Räume miteinander verflochten und die Mobilität von Menschen, Gütern und Ideen möglich gemacht hatten, waren in sich zusammengefallen wie Kartenhäuser. Hatte sie eine große Wanderungswelle ausgelöscht, eine Hungersnot oder gar ein Vulkanausbruch? Hatte eine neue Technologie, die Verhüttung von Eisen und die dadurch ausgelöste militärische Revolution, den Niedergang der großen Reiche eingeläutet? Möglicherweise spielten alle diese Faktoren eine gewisse Rolle, doch letztlich ging das Mächtesystem vor allem an seiner inneren Komplexität zugrunde: Kleine Krisen schaukelten sich zu einer – bezogen auf die Welt der Spätbronzezeit – globalen Katastrophe auf, die ein Reich nach dem anderen in den Abgrund riss.
Den Zeitgenossen demonstrierte das Jahr 1200 v. Chr. auf brutale Weise, dass Globalisierung umkehrbar war. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben. Für die Zivilisation markiert der Epochenschnitt zwischen Bronze- und Eisenzeit eine Stunde Null. Doch nicht überall musste man wieder ganz von vorne anfangen. Vor allem in der Levante, im heutigen Israel und im Libanon, rettete man Wissen aus der Vergangenheit in die neue Zeit, bewahrte sich Fertigkeiten und wirkte zugleich innovativ: die Eisentechnologie und die Alphabetschrift setzten sich durch. Langsam begannen wagemutige Seefahrer, ins große Unbekannte vorzustoßen und in der Ferne Länder zu entdecken, mit denen man Handel treiben konnte: Zypern, Griechenland, Italien, Nordafrika, schließlich Spanien. Die Griechen nannten die Kaufleute, die sie bald regelmäßig besuchten, »Phönizier«, die Purpurroten. Der Name verdankte sich den purpurgefärbten Textilien, die niemand in besserer Qualität verkaufte als die Händler aus den Städten Tyros und Sidon. Die Phönizier verknüpften nicht nur als erste die seit 1200 v. Chr. isoliert vor sich hinvegetierenden Teile des Mittelmeers, viele von ihnen ließen sich auch in der Fremde nieder und gründeten Städte. Die berühmteste und erfolgreichste der phönizischen Niederlassungen in Übersee wurde Karthago: jene Metropole in Nordafrika, mit deren maritimem Reich viele Jahrhunderte später das aufstrebende Rom frontal zusammenstieß.
Dass ausgerechnet die Seefahrten der Phönizier am Anfang der Zeit stehen, die wir die »klassische« Antike nennen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Epoche. Die Antike, das ist mehr als Griechenland plus Rom. Untrennbar dazu gehörten auch Gesellschaften, die ganz anders sprachen und dachten als Griechen und Römer: außer Phöniziern und Karthagern die Kelten, Germanen, Juden und Perser sowie die unzähligen Stämme, die den Wüsten- und Steppengürtel am Süd- und Ostrand des Mittelmeers sowie nördlich des Schwarzen Meeres bevölkerten. Und das sind nur die unmittelbaren Nachbarn der beiden Brennpunkte Griechenland und Rom. Seit Alexander dem Großen rückten entfernte Weltgegenden dichter ans Mittelmeer heran: der Indische Ozean und der gleichnamige Subkontinent, indirekt auch China und selbst Afrika südlich der Sahara. Keine zeitgemäße Geschichte der Antike kann sich deshalb heute noch auf die beiden Mittelmeerhalbinseln des Balkan und Italiens beschränken. Eine modern deutende Altertumswissenschaft hat den gesamten afro-eurasischen Raum vom Atlantik bis zum Pazifik mitzudenken, mit dem Indischen Ozean als großer Drehscheibe, an die das Mittelmeer seit Alexander dem Großen angekoppelt war.
Diese semi-globale Antike war freilich noch ferne Zukunftsmusik, als phönizische Händler ab dem 9. Jahrhundert die Ägäis und damit auch Hellas erreichten. Dennoch war das Jahrhundert ein Wendepunkt. Der Wiederanschluss Griechenlands an den Fernhandel fiel dort mit einschneidenden Veränderungen der lange Zeit rein agrarischen Gesellschaft zusammen: Die Bevölkerung wuchs langsam, aber stetig. Zugleich wandelte sich das Siedlungsbild: Zentrale Orte entstanden, die allmählich anfingen, wie Städte auszusehen. Nicht länger arbeiteten alle Menschen in der Lebensmittelproduktion. Handwerk und Handel expandierten. Die Gesellschaft wurde auch sozial vielfältiger: Es gab oben und unten, Auf- und Absteiger. Im geometrischen Stil der Keramik deutete sich die Entwicklung an, die später die griechische Kunst nahm: mit klaren Konturen und einer standardisierten, auf wenige Formen reduzierten visuellen Sprache. Mit erst importierten, später auch lokal produzierten Luxusartikeln wurden den neuen Eliten Instrumente an die Hand gegeben, um ihren Status sichtbar zu machen. Und: Die Phönizier brachten außer Schmuck und Purpurstoffen mit der Alphabetschrift auch eine Innovation nach Griechenland, die es plötzlich möglich machte, die vielen Geschichten aufzuschreiben, die man sich seit Generationen erzählte.
Viele dieser Geschichten kreisten um einen Krieg, von dem es hieß, er habe in grauer Vorzeit die Ägäiswelt erschüttert und zehn Jahre gedauert: den Kampf um Troia. Doch wie stellt...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Vor- und Frühgeschichte / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Vor- und Frühgeschichte | |
Schlagworte | Alte Sprachen • Altgriechisch • Amerikanische Verfassung • Antike • Antike-Begeisterung • Antike Kultur • antikes Erbe • Antikes Griechenland • Antikes Rom • Asterix • Augustus • Bildungsgeschichte • Caesar • Cicero • Demokratie • Flavius Josephus • Homer • Ilias • Jüdischer Krieg • Kaiser • Karthago • Klassische Antike • Latein • Marcus Tullius • Max Weber • Odysseus und seine trojanischen Helden • Palmyra • Phönizier • Polybios • Rezeption • Römische Bürgerkriege • Römische Kaiserzeit • Sidonius Apollinaris • Spätantike • Tacitus • Troja • Uvo Hölscher • Zenobia |
ISBN-10 | 3-608-11920-5 / 3608119205 |
ISBN-13 | 978-3-608-11920-6 / 9783608119206 |
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