Kindliche Entwicklung zwischen Ur-Angst und Ur-Vertrauen (eBook)
272 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11871-1 (ISBN)
Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof., Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen; Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er war bis 2020 Vorstand des weltweit ersten Lehrstuhls für Early Life Care und leitete das gleichnamige Forschungsinstitut an der PMU in Salzburg. Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen den Bereich der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. Brisch leitete über viele Jahre die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und entwickelte dort das MOSES®-Therapiemodell zur erfolgreichen Intensiv-Psychotherapie von früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Er entwickelte die Präventionsprogramme »SAFE® - Sichere Ausbildung für Eltern« und »B.A.S.E® - Babywatching«, die inzwischen in vielen Ländern Europas, aber etwa auch in Australien, Neuseeland und Russland Verbreitung gefunden haben. Brisch ist Gründungsmitglied der »Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit« (GAIMH e. V. - German-Speaking Association for Infant Mental Health) und war dort viele Jahre lang im Vorstand. Die GAIMH ist eine Tochtergesellschaft der WAIMH - World Association for Infant Mental Health. Bis 2022 organisierte er die jährlich stattfindende renommierte Internationale Bindungskonferenz (www.bindungskonferenz.de) so wie von 2018 bis 2021 die Internationale Early Life Care Konferenz in Salzburg (www.earlylifecare.at). Brisch verbreitet die Inhalte und Ergebnisse der Bindungs- und Traumaforschung und -psychotherapie auch durch viele Publikationen, Vorträge und die Teilnahme an zahlreichen Radio- und Fernsehsendungen (www.khbrisch.de).
Karl Heinz Brisch, Univ.-Prof., Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen; Ausbildung in spezieller Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er war bis 2020 Vorstand des weltweit ersten Lehrstuhls für Early Life Care und leitete das gleichnamige Forschungsinstitut an der PMU in Salzburg. Seine klinische Tätigkeit und sein Forschungsschwerpunkt umfassen den Bereich der frühkindlichen Entwicklung und der Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. Brisch leitete über viele Jahre die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und entwickelte dort das MOSES®-Therapiemodell zur erfolgreichen Intensiv-Psychotherapie von früh traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Er entwickelte die Präventionsprogramme »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern« und »B.A.S.E® – Babywatching«, die inzwischen in vielen Ländern Europas, aber etwa auch in Australien, Neuseeland und Russland Verbreitung gefunden haben. Brisch ist Gründungsmitglied der »Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit« (GAIMH e. V. – German-Speaking Association for Infant Mental Health) und war dort viele Jahre lang im Vorstand. Die GAIMH ist eine Tochtergesellschaft der WAIMH – World Association for Infant Mental Health. Bis 2022 organisierte er die jährlich stattfindende renommierte Internationale Bindungskonferenz (www.bindungskonferenz.de) so wie von 2018 bis 2021 die Internationale Early Life Care Konferenz in Salzburg (www.earlylifecare.at). Brisch verbreitet die Inhalte und Ergebnisse der Bindungs- und Traumaforschung und -psychotherapie auch durch viele Publikationen, Vorträge und die Teilnahme an zahlreichen Radio- und Fernsehsendungen (www.khbrisch.de).
Karl Heinz Brisch
Menschliche Ur-Ängste und Bindung – die Wiege des Ur-Vertrauens
Einleitung
Wir können nur vermuten, unter welchen extremen Ur-Ängsten die Menschen am Anfang der menschlichen Entwicklung gelitten haben müssen – wie sie es schafften, mit den extremen Bedrohungen der Umwelt umzugehen. Sie waren den Naturgewalten – wie Wasser, Feuer, Donner, Blitz – ungeschützt ausgesetzt, so dass sie möglicherweise immer wieder Todesangst erlebt haben. Bemerkenswert ist, dass Menschen bis heute – trotz aller Versuche, die Naturgewalten zu beherrschen, und der dabei erreichten Fortschritte – unmittelbar von extremer, panischer Angst überwältigt werden, wenn sie sich bedroht fühlen, ihr Leben zu verlieren. In dieser Reaktion könnten die Ur-Angst-Zustände anklingen, denen unsere Vorfahren am Beginn der Menschheit ausgeliefert waren.
Ur-Angst und Erregungsniveau
Dies könnte bedeuten, dass die Urmenschen in ständiger extremer Angst und Panik gelebt hätten, verbunden mit einer äußerst stressvollen physiologischen und neurobiologischen Erregung. Das Leben war sicherlich grundlegend von Gefühlen wie Ohnmacht und totaler Hilflosigkeit geprägt, von Tod und Verlust. Ein solcher Zustand ist normalerweise nicht lange auszuhalten und führt zur Erschöpfung, zum Tod.
Lange vor den Menschen haben Reptilien in der Evolution die Fähigkeit entwickelt, mit lebensbedrohlichem Stress umzugehen. Wenn sie sich bedroht fühlten, konnten sie den »Totstellreflex« einsetzen (Machado-Filho et al. 2018), sie erstarrten motorisch im Bruchteil einer Sekunde in der Position, in der sie gerade waren, und bewegten sich nicht mehr von der Stelle. Diese Reaktionsweise nennen wir heute auch »Dissoziation«, ein überlebenswichtiger Mechanismus, den wir heute auch bei allen höheren Wesen und allen Primaten einschließlich des Homo sapiens beobachten können. Ur-Ängste und Gefühle von Panik wurden möglicherweise entsprechend beim Homo sapiens auch dissoziiert, psychisch »abgespalten«. Sie wurden auf diese Weise nicht mehr wahrgenommen und es gab auch keine Möglichkeit, mit ihnen umzugehen, weil in der vollständigen dissoziativen Erstarrung kein Fühlen und kein Handeln mehr möglich sind (Brisch 2015; Wieland 2014; Hirsch 2006).
Kulturentwicklung zur Bewältigung von Ur-Ängsten
Es könnte sein, dass die Menschen zur Bewältigung dieser extremen Ängste und der damit verbundenen ständigen hochgradigen Erregungszustände verschiedene Rituale entwickelt haben: Musik, Tanz und Kunst, religiöse Riten (Lang et al. 2015; Mills 2012). Diese verschiedenen Riten haben es möglicherweise erlaubt, die intrapsychisch erlebten Ur-Ängste nicht nur durch Kampf und Flucht zu bewältigen – was ja oftmals sicherlich nicht möglich war – und auch nicht durch intrapsychischen Rückzug und Abspaltung der Angst im Sinne der Dissoziation, sondern die Erregung etwa durch laute Musik und Tanz abzureagieren. Indem die Ursachen der Ur-Ängste außerhalb der aktuellen Bedrohung auf andere Mächte, nämlich die Götter, projiziert wurden, konnte es möglich werden, zu versuchen, diese gnädig zu stimmen; durch die Projektion auf Götter war dann eine Art Selbstregulation möglich. Es könnte also sein, dass mit den ersten stressregulierenden Bindungserfahrungen durch Menschen auch projektive Erfahrungen der Bindung an externe Mächte (»Götter«), vermittelt durch religiöse Riten, geholfen haben, mit den extrem traumatischen Ur-Ängsten umzugehen (Swan & Halberstadt 2022; Inzlicht & Tullett 2010; Lang et al. 2015, 2020; Vishkin 2021; White 2021).
Bindung zur Stressregulation
Man kann sich vorstellen, dass erste menschliche Bindungserfahrungen dadurch entstanden sind, dass z. B. versorgendes und schützendes, Sicherheit gebendes Verhalten von Müttern gegenüber ihren Babys – Hautkontakt und Stillen – zur Ausschüttung von Oxytocin führten (zum Zusammenhang zwischen Berührung und Sicherheit vgl. Brummelman et al. 2019). Oxytocin ist ein im Gehirn gebildetes Hormon, das sowohl ins Blut abgegeben wird und etwa die Wehen auslöst, beim Stillen bei der Mutter sowie beim Säugling gleichzeitig ausgeschüttet wird, aber auch als Neurobotenstoff im Gehirn wirkt. Wenn Oxytocin z. B. während des Stillens in bestimmte Gebiete im Gehirn transportiert wird, führt es zu einer Beruhigung des Babys und seiner Mutter, es ist also auch ein Anti-Stress-Hormon (Beckes & Coan 2015). Gleichzeitig wird das Gefühl ausgelöst, sich bei dem anderen Menschen, hier der Mutter, sicher, mit ihm vertraut zu fühlen. Daher wird es auch als Bindungshormon bezeichnet. In diesem Kontext könnte also die Mutter-Kind-Bindung der Prototyp der ersten Bindungserfahrung gewesen sein, um erstmals im Zusammenhang realer Beziehungen Schutz und Sicherheit zu erleben. Auf diese Weise könnten die Anfänge der sicheren Bindung zur Entwicklung eines Gefühls von Ur-Vertrauen grundlegend beigetragen haben (zu Oxytocin und Bindungssicherheit vgl. Uvnäs Moberg 2016; Oberschneider et al. 2017; Szymanska et al. 2017).
In der »Social Baseline«-Theorie (Hasselmo et al. 2012) wird es aufgrund der Forschungsergebnisse alleine schon als eine basale Form der beruhigenden Interaktion angesehen, wenn man von einer vertrauten Person an der Hand gehalten wird. Auch hierbei wird im Gehirn Oxytocin ausgeschüttet und wirkt beruhigend. In der »Social Baseline«-Theorie geht man davon aus, dass die Menschen sich schon in frühesten Zeiten der Evolution zum Schutz und zur Sicherheit sowie zur physiologischen und zur emotionalen Beruhigung an den Händen gehalten haben und so durch die Natur gelaufen sind. Ein solches Verhalten kann immer wieder auch heute noch bei Primaten beobachtet werden.
Es ist inzwischen durch neuronale Untersuchungen mit Hilfe von Kernspinaufnahmen belegt, dass die Versuchspersonen, die während der Kernspinuntersuchung schmerzvollen Reizen ausgesetzt waren, weniger Schmerzen wahrnahmen, wenn sie während der Untersuchung und dem Erleben von schmerzvollen Reizen von einem ihnen vertrauten Menschen an der Hand gehalten wurden. Die neuronale Erregung durch die Schmerzreize wurde gedämpft, und zwar sowohl im Schmerz- als auch im Angstzentrum des Gehirns (Eisenberger et al. 2011). Gleichzeitig wurde Oxytocin im Gehirn ausgeschüttet und die Versuchspersonen gelangten in einen entspannteren Zustand. Coan (2008) spricht in diesem Zusammenhang von der »neuroscience of attachment«.
Einander zu umarmen, Nähe zu suchen, in der Gruppe zusammen zu sein und einander Schutz zu geben, etwa in einer Höhle mit Körperkontakt eng beieinanderzusitzen, all dies führt zur Ausschüttung von Oxytocin und hat einen beruhigenden Effekt auf die physiologische Erregung; die emotionale Bindung sowie das Ur-Vertrauen werden bei jedem Einzelnen sowie innerhalb der Gruppe gefördert (zum Zusammenhang zwischen Berührung, Oxytocin und Entspannung siehe auch den Übersichtsartikel von Field 2010; vgl. auch Ott et al. 2021).
Entsprechend konnte es in den Anfangszeiten menschlichen Lebens vermutlich das Überleben sichern bzw. die Überlebenschancen vergrößern, wenn man mit anderen zusammen im schützenden Raum einer Höhle lebte und bei Gefahr und Bedrohung enger zusammenrücken sowie einander berühren konnte. Das Erregungssystem wurde dadurch »herunterreguliert«, die Ur-Ängste wurden vermutlich weniger stark erlebt und es entstand ein Gefühl von Ur-Vertrauen. Auf diese Weise konnten zwischenmenschliche Bindungserfahrung in der Gruppe (Brisch 2018) erstmalig emotional verankert und vertieft werden. Auch bei Erfahrungen von Sicherheit in der Gruppe spielt Oxytocin eine große Rolle, wie Studien zeigen (De Dreu 2012).
Solche Erfahrungen können, wie neurobiologische Untersuchungen am Gehirn zeigen, auch zu einer verstärkten Reifung der neuronalen Netzwerke führen. Entsprechend verläuft die neuronale Reifung der Netzwerke in den ersten Lebensjahren bei Menschen, die frühe sichere Bindungserfahrungen gemacht haben, gänzlich anders als bei denjenigen, die in den frühen Entwicklungsjahren langdauerndem frühen Stress und extremen, sogar traumatischen Angsterfahrungen, etwa auch durch emotionale Deprivation, ausgesetzt waren (Bernier et al. 2019). So sind in einer Studie mit...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Ängste • attachment-based psychotherapy • Bindung • Bindungstheorie • Early Life Care • Eltern-Kind-Beziehung • Entwicklungspsychologie • Frühe Hilfen • Karl Heinz Brisch • Kinderängste • Kinderpsychotherapie • Psychologie • Urvertrauen |
ISBN-10 | 3-608-11871-3 / 3608118713 |
ISBN-13 | 978-3-608-11871-1 / 9783608118711 |
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