Menschenrechte und Menschenwürde (eBook)
451 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77286-7 (ISBN)
In Reaktion auf die totalitären Verbrechen und den Zweiten Weltkrieg greift bald nach 1945 eine weltpolitisch revolutionäre Vision um sich: Die Vereinten Nationen verpflichten sich auf universelle Menschenrechte, die allen Menschen weltweit ein mindestens menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen. Diese völkerrechtliche Idee entspringt dem Gedankenexperiment einer demokratischen Neugründung politischer Machtverhältnisse, die nicht in Willkürherrschaft oder unmenschliche Diskriminierung umschlagen dürfen. Lange war dieses revolutionäre Projekt auf dem Siegeszug, es gerät jedoch neuerdings unter autoritären Druck, und selbst in der wissenschaftlichen Debatte werden immer häufiger relativistische oder gar höhnische Abgesänge laut. Um an dieses historisch fragile, aber ungebrochen dringliche Erbe zu erinnern, legt Arnd Pollmann eine umfassende philosophische Deutung und Begründung des Zusammenhangs von Menschenrechten und Menschenwürde vor.
Arnd Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
9Einleitung Das Erbe der Gewalt und der historisch gewachsene Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde
Noch zu Beginn dieses neuen Jahrtausends sind sich zahllose Kommentatorinnen und Kommentatoren der politischen Weltlage auf geradezu euphorische Weise einig gewesen: Das »Zeitalter der Menschenrechte« sei angebrochen.[1] Mit der Öffnung des »Eisernen Vorhangs« und dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 schien der vorläufige Höhepunkt einer historischen und politischen Erfolgsgeschichte erreicht, die mit den bürgerlichen Revolutionen des 18.Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich begonnen und dann spätestens mit Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 auch international an Fahrt aufgenommen hatte. Der Siegeszug »universeller« Rechte auf ein menschenwürdiges Leben wirkte nunmehr unaufhaltsam. Keine Regierung dieser Welt würde sich zukünftig noch ausdrücklich gegen die Würde und die Rechte »des« Menschen positionieren können, ohne sich damit zugleich selbst aus dem Kreis der international ernst zu nehmenden Akteure zu verabschieden. Endlich sollte sich die einst schon von Immanuel Kant gehegte Hoffnung bewahrheiten, »daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird«, sodass »die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart« mehr sei, sondern »notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex« des Staats- und Völkerrechts »zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt«.[2] Oder zeitgemäßer formuliert: Der politisch revolutionäre Anspruch der auf die Würde des Menschen gründenden Menschenrechte, weltweite Barrikaden gegen die Gefahren staatlicher Willkürgewalt zu errichten, wirkte nicht länger illusorisch. Im Zuge einer verheißungsvollen Fusion philo10sophischer Utopien, politischer Gründungsakte und völkerrechtlicher Überwachungsmechanismen sah man die Menschenrechte zur »schlechthin grundlegenden und weltweit gültigen politischen Idee«[3] avancieren.
Doch in nur wenigen Jahren ist diese Euphorie fast vollständig verflogen. Heute ist nicht nur die ernüchternde Feststellung zu machen, dass sich der Prozess einer wahrhaft globalen Verwirklichung der Menschenrechte länger als erhofft »hinzieht«. Vielmehr sind die Menschenrechte längst auch wieder realpolitisch unter massiven Druck geraten. Politische Verunsicherungen in der Folge des 11.September 2001, die Misserfolge militärischer Interventionen im Namen der Terrorismusbekämpfung und des nation building, die desaströse Lage in Syrien oder Afghanistan, die überwiegend gescheiterten Revolutionen des »arabischen Frühlings«, dramatische Krisen der kapitalistischen Weltwirtschaft, die sich stetig verschärfende Klimakrise, politische Polarisierungen in der Folge der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, das Wiedererstarken autoritärer Kräfte selbst in manchen »Mutterländern« der Demokratie, bedrohliche Tendenzen einer protektionistischen Renationalisierung und nicht zuletzt auch teilweise heftig umstrittene Freiheitsbeschränkungen im globalen Kampf gegen die Corona-Pandemie: Ereignisse und Entwicklungen wie diese haben in vergleichsweise rasantem Tempo dazu geführt, dass mit der zuvor beinahe konkurrenzlos anmutenden Idee demokratisch legitimierter Rechtsstaatlichkeit – parlamentarisch organisiert und international eingebunden – zugleich auch das mit dieser modernen Ordnungsvorstellung eng verknüpfte Anliegen egalitärer Grund- und Menschenrechte in Misskredit geraten ist. Und selbst die für die Menschenrechte so zentrale und lange Zeit feierlich als ihr »oberster Wert« fungierende Idee der Menschenwürde ist derzeit immer häufiger dem Verdacht ausgesetzt, lediglich ein Ausdruck politischer Irrationalität und »Heuchelei« zu sein.[4]
Dieser weltpolitische »Backlash« im Hinblick auf das nach 1945 begonnene Projekt einer globalen Verwirklichung von Menschenrechten und Menschenwürde wirkt nicht selten verstörend, ekla11tant und auch bedrohlich.[5] Und es ist befremdlich, dass dieser Backlash inzwischen auch große Teile des akademischen Fachdiskurses ergriffen, ja regelrecht desillusioniert hat.[6] Ob aus völkerrechtlicher oder politikwissenschaftlicher Sicht, ob aus historischer, kulturwissenschaftlicher oder postkolonialer Perspektive, ob aus den Reihen der Gender Studies, der Diversity Studies oder der Black Studies: Immer häufiger weicht heute das – ursprünglich fraglos berechtigte – Anliegen einer kritischen Selbstreflexion menschenrechtlicher Theoriebildung dem polemischen, hämischen oder gar verächtlichen Abgesang. Wahlweise werden die Menschenrechte dann als eine sich in ihrer »Endphase« befindliche »Kirche« verspottet, als idealistische »letzte Utopie« belächelt, der Komplizenschaft mit dem »Neoliberalismus« bezichtigt, als patriarchale Rhetorik zur »Essentialisierung« weiblicher Untertänigkeit gebrandmarkt, als scheinheilige imperiale »Ideologie« zur Festschreibung kolonialen Unrechts dekonstruiert oder aber auf ihren realpolitischen »Missbrauch« im Rahmen geopolitischer Interventionen reduziert.[7]
Aus dieser durchaus beunruhigenden Entwicklung ist einmal mehr zu lernen, was bei genauerem Hinsehen auch schon vorher zu erkennen gewesen wäre: Der politisch revolutionär anmutende Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde ist keineswegs das Ergebnis eines historisch linearen, unumkehrbaren und damit gesicherten »Lernprozesses«.[8] Die politischen Leitideen 12der Menschenrechte und der Menschenwürde sind der Welt nicht einfach fraglos vorgegeben. Vielmehr müssen sie stets aufs Neue gegen staatliche Willkürherrschaft, autoritäre Abwehr und bisweilen eben auch gegen akademisch-intellektuelle Nekrologe verteidigt und hochgehalten werden – nur dann kommt diesen Ideen auch weiterhin politische Realität zu. Die betreffenden Widerstände mögen zeitweise schwächer wirken, mal wieder stärker oder hartnäckig werden und gelegentlich sogar überhandnehmen. Der historische und politische Kampf um diese Ideen unterliegt schwankenden Konjunkturen und kann damit stets auch als eine Art »Gegenwiderstand« gedeutet werden: als ein Widerstand gegen den Widerstand autoritärer Politik und reaktionärer Denkweisen. Es geht dabei um ein periodisches Aufbäumen gegenüber politischen Anfeindungen und repressiver Willkür, und zwar in der Gestalt von öffentlicher Kritik, politischem Protest, sozialen Bewegungen, handfester Rebellion oder sogar offener Gewalt. Und genau dieser Gegenwiderstand hätte sich besonders auch dann zu zeigen – sowohl politisch als auch intellektuell und innerakademisch –, wenn sich das vielzitierte Rad der Geschichte in menschenrechtlicher Hinsicht wieder einmal zurückzudrehen droht.
Dabei wäre die folgende kritische Einsicht von enormer Bedeutung: Die vormals allzu feierlich und gewiss vorgetragene Rede von einem »Siegeszug« der Menschenrechte ist bereits deshalb problematisch, weil damit eine historisch eher bestürzende Einsicht in den Hintergrund zu rücken droht. Die revolutionären Ideen, politischen Deklarationen und internationalen Konventionen, die sich dem Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde widmen, »verdanken« sich zumeist sehr konkreten Erfahrungen eklatanten Unrechts, massiver Gewalt, politischer Willkür, staatlichem Terror oder auch verheerenden Kriegen. Exemplarisch schlägt sich dies in dem bis heute weltpolitisch symbolträchtigsten aller menschenrechtlichen Dokumente nieder: in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Gleich zu Beginn, in ihrer Präambel, erinnert diese Erklärung daran, dass »die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen«. Kaum vorstellbar, dass sich die kurz zuvor noch kriegerisch »geteilte« und erst drei Jahre zuvor im Rahmen der Vereinten Nationen »geeinte« Menschheit zu einem völkerrechtlich konzer13tierten Menschenrechtsschutz entschlossen hätte, wenn nicht von den globalen Katastrophen der beiden Weltkriege, der atomaren Vernichtung und den totalitären Barbareien die weltweit vernehmbare Botschaft ausgegangen wäre, dass sich unmenschliches Unheil dieser Art »nie mehr« wiederholen dürfe.[9]
Es...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Autoritarismus • neues Buch • STW 2370 • STW2370 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2370 • Völkerbund • Völkerrecht |
ISBN-10 | 3-518-77286-4 / 3518772864 |
ISBN-13 | 978-3-518-77286-7 / 9783518772867 |
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