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Im Namen der Würde (eBook)

Eine deutsche Geschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
480 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27642-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Namen der Würde - Habbo Knoch
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Die Würde des Menschen ist unantastbar: nur ein Versprechen oder politische Maxime?
Das Grundgesetz garantiert die Würde des Menschen - ein abstraktes Versprechen, aus dem im Laufe der Jahre sehr konkrete Forderungen abgeleitet wurden. Ging es der frühen Bundesrepublik um die Distanzierung von der nationalsozialistischen Diktatur, berief man sich später immer stärker auf die Menschenwürde, um gegen globale Ungerechtigkeit oder für die Rechte der Frauen zu kämpfen, sich für sexuelle Gleichberechtigung genauso einzusetzen wie gegen die Straffreiheit von Abtreibungen. Habbo Knoch erzählt, wie sich die Idee der unantastbaren Würde des Menschen schon vor 1945 entwickelte und wie sie, trotz aller unterschiedlichen Interpretationen, zur wichtigsten Übereinkunft der Deutschen wurde.

Habbo Knoch, geboren 1969, studierte Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie in Göttingen, Bielefeld, Jerusalem und Oxford und war ab 2008 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seit 2014 lehrt er Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln. Er interessiert sich besonders für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts und für Fragen der kollektiven Erinnerung. Bei Hanser: Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte (ET: 15.5.2023).

Einleitung


»Dignity? We are in great need of it!« Smalltalk mit einem Mitarbeiter der US-Botschaft im Januar 2020. Alle Unterlagen für mein Visum liegen vor, sind geprüft und für gut befunden. Ein paar Stempel noch, einige freundliche Hinweise, ein Informationsblatt: Läuft wie hier alles nach Plan, stellt sich trotz der Autorität des Amtes ein Gefühl von Respekt, Anerkennung und Sicherheit ein. Was damit als Achtung vor der Würde des Menschen zum Ausdruck kommt, hat sich wie ein Wollmantel um unser Leben gelegt. Er bettet unsere Rechte ein, bietet Schutz vor staatlicher Willkür und erleichtert unsere Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Für die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik ist das seit dem 23. Mai 1949 durch den ersten Artikel des Grundgesetzes verbrieft: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Seither sind eine Fülle von Lebensbereichen unter den Schutz der Menschenwürde gestellt worden. 2021 auch Visumsangelegenheiten innerhalb der Europäischen Union.

Doch das Bild des Wollmantels trügt. Bilder von Flüchtlingen, Schiffbrüchigen und Ertrunkenen im Mittelmeer oder von Push-Backs an den Grenzübergängen nach Europa stehen für das Gegenteil von geordneten, menschenwürdigen Verfahren. Migration, Illegalität oder Staatenlosigkeit sind nur zu oft mit Erfahrungen von Willkür, Respektlosigkeit und Gewalt verbunden. Empörung regt sich. Aber ändert das etwas? Anscheinend nicht: Tagtäglich werden überall auf der Welt Menschen mit Gewalt erniedrigt, sie leiden an Hunger und Armut, arbeiten unter sklavenähnlichen Bedingungen oder werden gefoltert. Menschen werden zu wehrlosen Objekten staatlicher Maßnahmen, wenn über sie zum Beispiel durch polizeiliche Gewaltakte oder Eingriffe in die Privatsphäre im Namen von Sicherheit und Ordnung verfügt wird. Vielen Menschen mangelt es an essentiellen materiellen Voraussetzungen, um ein gutes, selbstbestimmtes Leben zu führen — ganz abgesehen von denjenigen, die hungern müssen. Wohlfahrt und Fürsorge schlagen in Herabsetzungen und die Missachtung persönlicher Bedürfnisse um.

Es liegt auf der Hand, dem Staat in solchen Fällen vorzuwerfen, die Menschenwürde zu verletzen. Aber worauf gründet unser oftmals intuitives und emotionales Alltagsverständnis der »Würde des Menschen«? Wie sind die moralischen, rechtlichen und politischen Maßstäbe entstanden, nach denen wir heute etwas als »entwürdigend« oder »unwürdig« bewerten? Wie verhalten sich das »unwürdige Verhalten« und die »Verletzung der Menschenwürde« zueinander? Als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz entwarf, wählte er auf Geheiß des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss bewusst eine offene Formulierung, um ihr möglichst viel Zustimmung zu sichern. Das sollte sich als große Chance wie als erhebliche Belastung erweisen. Für die Auslegung der Würdenorm existierten keine Vorbilder, nicht im Staatsrecht und auch nicht in der Philosophie. Denn die Würde des Menschen war bis dahin weder legislativ noch in der politischen Moral verankert. Die heutige Bedeutung der Menschenwürde kann deshalb nur aus einer historischen Perspektive verstanden werden. Erst infolge der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts mit den Diktaturen, Kriegen und Verbrechen zunächst vor allem auf europäischem Boden, dann aber auch mit Blick auf die globale Dimension der kolonialen Herrschaft des Westens hat sich die Menschenwürde von einer moralischen Idee und politischen Kampfformel zum Bestandteil des Rechts, zu einer prominenten Bezugsgröße öffentlicher Debatten und zu einem prekären Anker des politischen Handelns entwickelt.

Nach dem Ende des Nationalsozialismus mussten sich insbesondere die Deutschen fragen, wie sie ihre Gesellschaft normativ begründen wollten. Auf diese Herausforderung sollte Artikel 1 des Grundgesetzes eine Antwort geben, wie in den Teilen II und III dieses Buches nachzulesen ist. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«: Dieses Axiom, es besser machen zu wollen als nach 1918 und 1933, stellte ein Novum dar, denn einen derart prominenten Rang hatte die Menschenwürde bis dahin in keiner anderen Verfassung eingenommen. Lange sollte dies so bleiben. Vergleichbar ist nur ihre Stellung in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 und in der drei Jahre später verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Während die Menschenwürde international jedoch nicht bindend war, diente sie im Grundgesetz mehr als nur einem rhetorischen Zweck. Weil sie von Beginn an nicht nur eine Pathosformel sein sollte, konnte sie sich zum Fundamentalprinzip der verfassungsrechtlichen Ordnung und der politischen Moral der Bundesrepublik entwickeln. Aber wie und unter welchen Voraussetzungen fand die Würde des Menschen ihren Weg in das Grundgesetz der Bundesrepublik, und wie gelangte sie von dort aus in deren moralische Kultur?

Was ist Würde?


Wer in die umfangreiche philosophische, juristische und theologische Literatur schaut, die gerade in den beiden letzten Jahrzehnten zur Menschenwürde erschienen ist, findet zu dieser Frage relativ wenig, stellt aber zumindest eines fest: Es besteht kein Konsens darüber, was die Menschenwürde ausmacht und umfasst, wie und ob sie sich verbindlich begründen lässt oder ob sich aus ihr Schutzansprüche und allgemeine oder spezifische Rechte ableiten lassen. Sie wird variantenreich als Konzept und Idee, Wert und Empfindung, Norm und Haltung beschrieben. Man findet sie als von Gott zugesprochene oder als anthropologische Eigenschaft des Menschen, als geschichtlich gewachsenes und sozial verabredetes Regulativ, als Zwilling von Vernunft und Freiheit, als Lebensform oder als Gefühl. Sie ist partikular oder universal, reversibel oder unantastbar, sie wird abstrakt begründet oder konkret erfahren, sie kann als absolut gültig proklamiert oder als kontingente Norm begriffen werden. Als wenig ergiebig erweist es sich, nach einem vermeintlichen ideengeschichtlichen Ursprung der heutigen Würdenorm in der Antike, im spätmittelalterlichen Christentum oder im Humanismus zu suchen.

Aus historischer Sicht ist die Frage, was Würde ist, ohnehin falsch gestellt. Denn es lässt sich, und das soll dieses Buch zeigen, eigentlich nur sagen, was unter der Würde des Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und Bedingungen verstanden wurde, und damit auch, ob und wie dies mit Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Politik, Recht und Gesellschaft einherging. Mehr nicht. In genau diesen historischen Kämpfen, Skandalisierungen, Aushandlungen, Verrechtlichungen und Habitualisierungen der Menschenwürde liegt ihre Geltung begründet, ebenso ihre Gefährdung. Denn nicht messerscharfe Definitionen retten die Menschenwürde, sondern eine gelebte, aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewachsene politische Kultur, die es sich zum höchsten Wert gemacht hat, für die Würde der Menschen einzutreten und sie zu schützen.

Aber für eine erste Orientierung lässt sich mit dem Philosophen Peter Schaber zwischen einer »kontingenten« und einer »inhärenten« Würde unterscheiden, die sich bei genauerem Hinsehen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts allerdings so eindeutig selten findet.1 Kontingent ist Würde dann, wenn sie als moralische oder soziale Auszeichnung und Bewertung zugeschrieben, erworben und verloren werden kann. Diese Form der Würde lässt sich anhand äußerer Merkmale nach kollektiv verbindlichen oder hinlänglich vertrauten Kriterien erkennen. Es handelt sich mit dem Rechtsphilosophen Dietmar von der Pfordten um eine »nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen«.2 Sie ist partikular und verlierbar. Als »kleine« Würde ist sie eng mit Begriffen wie Ehre, Privileg oder Status verbunden. Es geht bei ihr um Einfluss und Macht, Normen und Verhalten, Auftreten und Erscheinung. Kontingente Würde ist mithin ein soziales Phänomen, das für denjenigen sichtbar ist, der die zugrunde liegenden Codes kennt.

Anders die inhärente Würde: Sie ist eine unsichtbare Idee, ein Konzept oder eine Eigenschaft. Als ein dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommendes Wesensmerkmal muss und kann sie nicht erst durch seine Herkunft, seine Leistungen oder ihm verliehene Auszeichnungen entstehen....

Erscheint lt. Verlag 15.5.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bundesrepublik • Deutschland • Geschichte • Gesellschaft • Grundgesetz • Grundrechte • Politik • Staat • Unantastbarkeit • Würde
ISBN-10 3-446-27642-4 / 3446276424
ISBN-13 978-3-446-27642-0 / 9783446276420
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