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Verteilungsfragen (eBook)

Wahrnehmung und Wissen von Reichtum in der Bundesrepublik (1960-1990)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
360 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45149-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verteilungsfragen -  Anne Kurr
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Wann und wie setzten sich gesellschaftliche Akteure aus Politik, Medien und Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland mit Reichtum und seiner gesellschaftlichen Verteilung auseinander? Welche Rolle spielte die (Nicht-)Wahrnehmung von Reichtum, der neben der wachsenden sozialen Ungleichheit zu den prägenden Erfahrungen unserer Gegenwart zählt, in der Durchsetzung der Demokratie und Marktwirtschaft? Anne Kurr fragt aus zeithistorischer Perspektive nach den Konjunkturen der Wissensproduktion zu Reichtum zwischen 1960 und 1990. Reichtum - so ihre These - wurde nur als Randthema in Verteilungsdebatten verhandelt, dennoch politisierte sich die Diskussion um ihn in den langen 1960er Jahren. Wer als reich galt und in wie fern sich Reichtum in wenigen Händen konzentrierte, blieb dabei umstritten. Die Skandalisierung einer Reichtumskonzentration nahm in den 1970er Jahren infolge der Wirkmächtigkeit marktliberaler Konzepte ab und gewann erst nach der »Wiedervereinigung« wieder an Fahrt.

Anne Kurr arbeitet als freie Kuratorin und Autorin; sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Deutsche Geschichte an der Universität Hamburg und assoziiert an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte.

Anne Kurr war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg und assoziiert an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte; sie arbeitet als freie Kuratorin und Autorin.

2.Verteilungsfragen. Neue Perspektiven auf Reichtum im wirtschaftlichen Aufschwung seit Mitte der 1950er Jahre


Am Ende der 1950er Jahre befand sich die Bundesrepublik Deutschland in einem kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwung.79 In der öffentlichen Wahrnehmung zeigte sich dieser in steigenden Einkommen und im Rückgang von Notlagen und Armut.80 Die fast erreichte Vollbeschäftigung, die Verbesserung der Konsumgüterversorgung und die Teilnahme am Massenkonsum veranschaulichten den Anstieg des allgemeinen Wohlstandes. Der enorme wirtschaftliche Aufschwung beinhaltete zugleich eine enorme Gewinn- und Vermögenssteigerung bei den Unternehmen. Zwar konnten die Arbeitnehmer durch wachsende Einkommen an der Massenkonsumgesellschaft teilhaben, dennoch änderte sich die Vermögensverteilung zwischen der besitzenden Oberschicht und dem größten Teil der Bevölkerung in ihrer Relation kaum.81

In zeithistorischen Untersuchungen spielt jedoch dieses soziale Ungleichheitsverhältnis zwischen einer kleinen besitzenden Schicht und einer breiten Masse ohne relevantes Eigentum nur eine marginale Rolle. Im Vordergrund der Darstellungen stehen die Veränderungen der Lebensverhältnisse der Mittel- und Unterschichten, anhand derer Nivellierungstendenzen zwischen den Schichten82 sowie die Wirkmächtigkeit von gesellschaftlichen Selbstbeobachtungen diskutiert werden.83 Auf der Wahrnehmungsebene habe trotz der erkennbaren Konturen vertrauter Sozialformationen wie den Klassen des Wirtschaftsbürgertums, dem Bildungsbürgertum und der nach wie vor klar abgegrenzten industriellen Arbeiterschaft »die Illusion, bereits in einer ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ zu leben, wie sie der Soziologe Helmut Schelsky in den frühen 50er Jahren zu erkennen glaubte, eine auch politisch erstaunlich weitreichende Resonanz«84 gehabt. Der Begriff habe einerseits in einer veränderten Form das Erbe der nationalsozialistischen klassenlosen »Volksgemeinschaft« angetreten. Andererseits habe er als »ideologischer Schirm« in der Deutung von Ralf Dahrendorf »die endgültige Auflösung der herkömmlichen Klassenschranken« suggeriert.85 Die vermeintlich gleichen Ausgangsbedingungen durch die Verteilungswirkungen der Währungsreform von 1948 seien in den 1950er Jahren als illusionär enttarnt worden, doch hätten die Konsumchancen und der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft eine neue Illusion genährt: dass auch eine breite »Querverteilung« der Vermögen möglich sei und sich der wirtschaftliche und soziale Antagonismus der Klassengesellschaft auflöse.86 In historischer Perspektive wurden diese Auflösungsprozesse anhand der Arbeiterklasse oder unter dem Begriff der Verbürgerlichung von Unter- und kleinbürgerlichen Schichten untersucht.87

2.1Vermögenskonzentration als Problem. Veränderte Wahrnehmung der Verteilung


Die ungleiche Vermögensverteilung widersprach diesem wirkmächtigen Gesellschaftsbild, die in geschichtswissenschaftlichen Narrativen auch nur wenig Beachtung findet. Nach der Währungsreform und den vermeintlich gleichen Startchancen bildete sich relativ schnell das industrielle Anlagevermögen neu. Die Unternehmen finanzierten sich größtenteils durch Selbstfinanzierungen, die durch Steuergesetze begünstigt wurden. Die Unternehmens- und Vermögenskonzentration verstärkte sich dadurch.88 In diesem Abschnitt wird daher nach der zeitgenössischen Wahrnehmung der Vermögenskonzentration seit den 1950er Jahren gefragt. Dabei fällt auf, dass gesellschaftliche Akteure der christlichen Sozialehre, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik die Verteilung der Vermögen seit der Währungsreform und der Gründung der beiden deutschen Staaten kritisch beäugten und sich in diesem Zusammenhang vermögenspolitische Konzeptionen entwickelten.89 Innerhalb der vermögenspolitischen Diskussionen der 1950er Jahre stand zuerst die Vermögenslosigkeit der Arbeitnehmer als soziales Problem im Zentrum. Das Komplementärphänomen der Vermögenskonzentration bei den Unternehmern spielte zuerst noch eine marginale Rolle. Die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit war noch auf die unteren Schichten der Gesellschaft gerichtet.

Auf dem Bochumer Katholikentag 1949 erläuterten katholische Sozialreformer, dass die momentanen Eigentumsverhältnisse katastrophal seien, und forderten einen Lastenausgleich, um die sehr ungleichen materiellen Verhältnisse, die durch Kriegseinwirkungen und Heimatverlust entstanden seien, gerechter zu gestalten. Ferner sollten zukünftig die unternehmerischen Gewinne unter den Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Kapitalgebern gerecht verteilt werden.90 Die Eigentumsverhältnisse waren seit der Industrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein traditionelles Thema der katholischen Soziallehre91, die schon frühzeitig entscheidende Impulse für die soziale Entwicklung des neugegründeten Staates setzen wollte. Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sollte durch staatliche Förderung der Vermögensbildung der Arbeiternehmer entschärft werden. Soziale Spannungen, die durch eine ungleiche Verteilung der Vermögen entstehen konnten, sollten in der neu gegründeten Demokratie vermieden werden. Die Erfahrungen extremer sozialer Ungleichheit während der Währungs- und Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik und dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie prägten ihre Erwartungen an die Regierungsverantwortlichen, die Verteilung in der Bundesrepublik gerechter zu gestalten.92 In der Denktradition der katholischen Soziallehre kritisierte auch der in den Sozialausschüssen organisierte Arbeitnehmerflügel der CDU die Vermögensverteilung im Wiederaufbau. Die Sozialausschüsse forderten auf ihrer Bundestagung 1953 Miteigentum der Arbeitnehmer am Neuvermögen der Wirtschaft.93 Sie richteten ihre Bemühungen auf die Verbesserung und auch Bildung der Arbeitnehmer bzw. der unteren und mittleren Schichten, um Klassengegensätze abzumildern. Im Vordergrund stand die Bewahrung der Gesellschaftsordnung, indem die Lage der Arbeitnehmer durch soziale Reformen verbessert werde. Neben den rhetorischen Formeln zur Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen auf Bundesebene entwickelte sich eine, wenn auch nicht im Zentrum des Politikgeschehens stehende Vermögenspolitik heraus, die sich auf eine »Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand« konzentrierte. Innerhalb der CDU/CSU wurde die Vermögenpolitik zum Austragungsort der Gefechte der Sozialausschüsse mit dem Wirtschaftsflügel und den marktliberal beeinflussten Teilen der Ministerialbürokratie.94 Im Hamburger Programm der CDU von 1953 wurde unter dem Titel Eigentum für alle Schichten des Volkes die Vermögenspolitik vom wirtschaftsnahen Flügel eher als Abwehr von kollektivistischen Tendenzen, so der damalige sprachliche Ausdruck für die Abgrenzung von sozialistischen Enteignungen wie in der DDR, gesehen. Arbeitnehmer sollten zu einem kleinen Eigentum kommen, das sie durch Sparen und Konsumverzicht erreichen könnten, um so die Klassengegensätze abzumildern und die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sichern.95 Gesellschaftliches Konfliktpotential und eine Gefährdung des marktwirtschaftlich-demokratischen Systems wurde in den besitzlosen Arbeitern gesehen und es wurde gefragt, wie viel ungerechte Verteilung das System aushalte und dabei an die Grundfragen des Kapitalismus angeknüpft. Die Vermögenspolitik der CDU-Regierung fokussierte sich daher seit den 1950er bis in die 1960er Jahre auf die Verbesserung der Lage der Arbeitnehmer. Daraus entstanden Konzepte zur Sparförderung, um ein eigenes Vermögen zu bilden, um so die sozialen Spannungen zwischen den Schichten abzumildern und die Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. Konzepte der Sozialausschüsse der CDU zum Miteigentum von Arbeitnehmern an den Unternehmen ihrer Arbeitgeber, die in ihren Grundüberlegungen an den Vermögenszuwächsen der Unternehmer ansetzten, fanden keine Mehrheit in der CDU und wurden von Wirtschaftsverbänden diskreditiert.96

Der Konflikt um die ungleiche Verteilung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern war seit der Gründung der Arbeiterbewegung eines ihrer zentralen Themen. In der Nachkriegszeit forderte die SPD in ihrem...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Armut • Bundesrepublik • Deutsche • Deutschland • Geschichte • Medien • Mediengeschichte • Politik • Reiche • Reichtum • Sozialgeschichte • Wahrnehmung • Wirtschaft • Wirtschaftsgeschichte • Wissen • Wissensgeschichte • Wohlstand • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-593-45149-2 / 3593451492
ISBN-13 978-3-593-45149-7 / 9783593451497
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