Keine Lizenz zum Töten (eBook)
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2822-5 (ISBN)
Gerhard Conrad studierte Völkerrecht, Politologie und promovierte in Islamwissenschaften, bevor er seinen Dienst im militärischen Nachrichtenwesen der Bundeswehr und beim Bundesnachrichtendienst begann. Seit 1990 BND-Agent mit dem Schwerpunkt Naher Osten. Von 2009 bis 2012 Leiter des präsidialen Leitungsstabes des BND, danach Vertreter des Dienstes in London und schließlich von 2016 bis 2019 Direktor im Europäischen Auswärtigen Dienst (EU- INTCEN) in Brüssel. Seit seiner Pensionierung Ende 2019 ist er unter anderem Visiting Professor am King's College London, Dozent an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Abteilung Nachrichtendienste und an Sciences Po in Paris. Darüber hinaus unterstützt er als Intelligence Advisor die Munich Security Conference, als Senior Advisor die Agora Strategy Group AG und als Vorstandsmitglied den Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND).
Gerhard Conrad promovierte in Islamwissenschaften, Völkerrecht und Politologie, bevor er seinen Dienst im militärischen Nachrichtenwesen der Bundeswehr und beim Bundesnachrichtendienst begann. Seit 1990 BND-Agent mit dem Schwerpunkt Naher Osten. Von 2009 bis 2012 Leiter des präsidialen Leitungsstabes des BND, danach Vertreter des Dienstes in London und schließlich von 2016 bis 2019 Direktor im Europäischen Auswärtigen Dienst (EU- INTCEN) in Brüssel.
EINLEITUNG
EU TOP SECRET?
Manchmal gibt es Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Inmitten großer Veränderungen, revolutionärer Umbrüche und Krisen, kehrt dann für einen Augenblick eine merkwürdige, fast unwirkliche Ruhe ein. Zuweilen bringt dieser Moment auch Klarheit, und man wird sich der Probleme nur allzu bewusst. Was ist bisher geschehen, wie soll und wird es in Zukunft weitergehen? Das sind die Fragen, die sich in solchen Augenblicken stellen. Einen solchen erlebte ich 2019 in Brüssel. Seit 2016 war ich dort Direktor des EU Intelligence Analysis Center (EU-INTCEN). Alle zivilen Geheim- und Nachrichtendienste der EU-Mitgliedstaaten stehen mit diesem Stab in Verbindung und unterstützen ihn. In meiner Funktion war ich der ranghöchste zivile Nachrichtendienstmitarbeiter in den Europäischen Institutionen. In wenigen Tagen würde ich diesen Posten abgeben. Einige Wochen später – nach fast dreißig Dienstjahren – auch den Bundesnachrichtendienst verlassen und mich in den Ruhestand begeben. Von Ruhe konnte in diesem Moment jedoch noch keine Rede sein, da ich vollauf damit beschäftigt war, die Amtsgeschäfte an meinen Nachfolger zu übergeben. An diesem Tag blieb ich darum bis zum Abend im Büro, im vierten Stock des Gebäudes, das auch den Militärstab der Europäischen Union beherbergt. Unten floss während der Rushhour der Verkehrsstrom stetig und gleichmäßig auf der Avenue de Cortenbergh. Der Verkehrslärm war in den klimatisierten Räumen nur gedämpft zu hören. Ein Hintergrundrauschen, wenn man so will, das von der Betriebsamkeit der europäischen Hauptstadt zeugte. Ich nahm etwas vom Schreibtisch und blickte dabei kurz aus dem Fenster auf die Lichter der Fahrzeuge. Dann fokussierte ich mich vom Verkehrsgeschehen auf mein Spiegelbild. Vor dem Hintergrund der abendlichen Großstadt betrachtete ich einen Moment lang den Mann in dunklem Anzug und Krawatte. Das war das Outfit, das man von mir als Director EU-INTCEN erwartete. In der Hand hielt ich ein geheimes Schriftstück. Passte also auch. Bei der Betrachtung des Spiegelbilds musste ich beinahe zwangsläufig an all die Schauplätze und Einsatzorte denken, an denen ich in den zurückliegenden dreißig Jahren als Mitarbeiter des BND aktiv war. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Das großzügige Büro in Brüssel mit seiner Sitzgarnitur, dem opulenten Besprechungstisch und dem Distanz gebietenden Schreibtisch war ebenso ein Arbeitsplatz, wie es die heißen und stickigen Hinterzimmer im kriegszerstörten Gazastreifen oder im Nachkriegs-Beirut waren, in denen ich mich mit der Hamas oder der Hizballah1 getroffen habe. Eine Runde von hochrangigen Gästen war mir ebenso vertraut wie ein konspiratives Treffen im Nahen Osten inmitten eher finster dreinschauender Bewaffneter. Ich habe an einem Tag mit Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und UN-Generalsekretären verkehrt und am nächsten mit Personen, die im Namen ihrer Ideologie zum Schlimmsten bereit waren. So bin ich in vielen Welten zugleich zu Hause gewesen. Einige davon sind durch meine berufliche Tätigkeit eng miteinander verbunden. Viele Missionen, an denen ich teilgenommen habe, Aufgaben, mit denen ich betraut war, hatten sehr ernste Hintergründe. Die Erinnerungen daran sind intensiv und manchmal allzu gegenwärtig. Darum lässt mich mitunter ein Blick auf die tief hängenden Regenwolken über Downtown-Brüssel oder Berlin an die Rauchwolken über dem brennenden Beirut denken.
Die Begegnung mit meinem Spiegelbild war tatsächlich nur eine Momentaufnahme, doch auch ein Moment der Reflexion im doppelten Sinn. Nachdenklich legte ich den Übergabebericht an meinen Nachfolger in den Panzerschrank. Gleich drei dieser Ungetüme befanden sich in meinem Büro. Ganz offenbar zierten sie bereits seit Einzug meines Vorvorgängers William Shapcott diese Räume. In einem davon befanden sich unsere Verschlusssachen, in einem zweiten die Geheimnisse meiner Vorgänger – nüchterner ausgedrückt: historische Akten –, und der dritte war leer und wurde nicht mehr benutzt. Die Panzerschränke waren letztlich ein Anachronismus, sie hätten zwar eine gute Kulisse in einem Spionagefilm abgegeben, der im letzten Jahrhundert spielt, doch im Zeitalter von verschlüsselter Kommunikation und Informationstechnologie hätte man sie eigentlich nicht mehr benötigt. Dass ich mich ihrer bei EU-INTCEN immer noch bediente, hing damit zusammen, dass die europäischen Institutionen den entscheidenden Schritt in die Moderne noch nicht gemacht hatten. Das wurde mir seinerzeit schmerzlich bewusst. Die in der EU vorherrschende friedliche Transparenz und allseitige Verständigung im Vordergrund sehende Mentalität hatte bislang verhindert, dass EU-INTCEN die erforderlichen Mittel und Befugnisse für einen gesicherten Informationsverbund mit seinen Abnehmern in Brüssel und in den über 140 EU-Delegationen im Ausland zugestanden worden waren. Digitale, verschlüsselte Kommunikationstechnologie anstatt Aktenstapel und Panzerschrank hätten eine milliardenschwere Investition vonseiten der Europäischen Union bedeutet. Es reicht ja nicht aus, einfach die entsprechenden Geräte aufzustellen und in einem gesicherten Netzwerk zu verbinden, sondern es müssen auch die Räume, in denen sie sich befinden, umgebaut und mit moderner Technologie abgeschirmt werden. Hier ist die Rede von weitläufigen Umbaumaßnahmen in zahlreichen Gebäuden und EU-Liegenschaften. Für ein solches Großprojekt muss der politische Wille vorhanden sein, und der wiederum basiert auf der Erkenntnis, dass es notwendig ist, ein leistungsfähiges EU Intelligence Analysis Center wirksam – und das bedeutet ebenso zeitgerecht wie sicher – in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse der EU zu integrieren. Im Grunde war diese Erkenntnis ja ursprünglich vorhanden. Sie hatte dazu geführt, dass der »Kortenberg«, also das Gebäude, in dem sich INTCEN und EU-Militärstab befinden, um die Jahrtausendwende entsprechend konzipiert und ausgestattet war, damit jedoch im Ergebnis eine abgeschirmte Insel innerhalb der Institutionen bildete, die ihre Geheimnisse nur analog mit eingestuften Papieren verteilen konnte. Innerhalb des »Kortenberg« waren die Voraussetzungen für die höchste Geheimhaltungsstufe »EU TOP SECRET / TRÈS SECRET« geschaffen. Doch noch besaßen alle anderen Bereiche in der EU weder die Verfahren noch die Produkte, die eine solche Einstufung ermöglicht hätten. Höchste Zeit zum Handeln, dachte ich damals, während draußen der Verkehr abebbte, und ließ die verschiedenen Forderungen, die in Ratsschlussfolgerungen der vergangenen Jahre bereits dazu erhoben, jedoch nie umgesetzt worden waren, Revue passieren. Ich geriet ins Grübeln. Keiner wollte wohl den Schuss hören. In den vergangenen dreißig Jahren war die Welt beileibe kein besserer Ort geworden. Im Gegenteil, die Bedrohungslage war vielgestaltiger und schwerwiegender denn je geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit lebten wir in einem military global village. Im 21. Jahrhundert würde bald schon jeder jeden erreichen können, nicht nur die relativ wenigen nuklearen Großmächte. Nordkorea würde höchstwahrscheinlich über einsatzfähige Raketen verfügen, die alle europäischen Städte treffen konnten, der Iran ebenso. Dazu gesellten sich neue Risiken der allen zugänglichen hybriden Kriegführung: Terrorismus, dirty bombs, ABC- oder groß angelegte Cyberangriffe. Regionale Konflikte bedrohten aufgrund der vielfältigen globalen Abhängigkeiten zunehmend die lebenswichtigen Liefer- und Versorgungsketten auch und besonders in Europa. Eine transnationale, global organisierte Kriminalität war in der Lage, Staaten und Wirtschaftsräume zu destabilisieren. Immer deutlicher wurden die gravierenden Konsequenzen des Klimawandels für Ressourcen und Überlebensräume ganzer Völker, mehr denn je drohten existenzielle Verteilungskonflikte und Migrationsbewegungen. Die schon 1808 von Goethe ironisierte heitere Unbeschwertheit des Spießbürgers aus dem Osterspaziergang im Faust war und ist heute weniger denn je angebracht und doch noch erschreckend weit verbreitet und handlungsbestimmend.
In solchen eher beschwerten Momenten der Reflexion tauchte immer wieder der Gedanke auf, ein Buch zu schreiben, in dem es um die Bedeutung von Nachrichtendiensten und ihren möglichen Beitrag zur Problemerkenntnis und Entscheidungsfindung angesichts dieser epochalen Herausforderungen gehen würde. Keine unmittelbare operative oder administrative Verantwortung mehr tragen zu müssen könnte von Vorteil sein. Es würde mir erlauben, einen Schritt zurückzutreten und eine andere, distanziertere Perspektive ohne tagespolitische Hektik und Rücksichtnahme einzunehmen, auf meine Erfahrungen zurückzublicken und die eine oder andere Schlussfolgerung zu ziehen.
Seitdem ist noch einiges mehr auf uns alle zugekommen. Allem voran natürlich ein Russland unter Präsident Putin, das nach den ersten massiven Übergriffen und der Annexion der Krim im Jahre 2014 nunmehr einen veritablen Feldzug gegen die Ukraine mit – inzwischen öffentlich erklärten – weitreichenden imperialen und revisionistischen Ambitionen und dem Einsatz des ganzen Spektrums hybrider...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
Schlagworte | Agent • Asymetrische Kriegsführung • Auslandsnachrichtendienst • Bundesnachrichtendienst • Cyberkrieg • Gefangenenaustausch • Geheimdienste • Geiselnahme • Hisbollah • Israel • Krieg • Mr Hisbolla • Mr Hizbolla • Nahostkonflikt • Palästina • Sicherheitsarchitektur • Sicherheitspolitik • Terrorabwehr • Ukraine • Ukraine-Krieg |
ISBN-10 | 3-8437-2822-4 / 3843728224 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2822-5 / 9783843728225 |
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