Der Mensch und die Macht (eBook)
592 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28642-2 (ISBN)
Zwölf Mächtige, elf Männer und eine Frau, die das 20. Jahrhundert in Europa tief geprägt haben, rücksichtslose, mörderische Diktatoren oder demokratische Staatenlenker: Was zeichnete diese Menschen aus, dass sie große Macht erlangten und Geschichte machten? Welche Voraussetzungen brachten sie mit? Wie weit wurden sie von den Umständen ihrer Zeit und Umgebung befördert oder getrieben? Vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen mit autoritären Führern ergründet der englische Historiker Ian Kershaw, einer der besten Kenner der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Bedingungen für den Aufstieg zur Macht und analysiert dabei grundsätzlich die Möglichkeiten und Grenzen »starker« Führungspersönlichkeiten.
Ian Kershaw, geboren 1943, zählt zu den bedeutendsten Historikern der Gegenwart. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Modern History an der University of Sheffield, seine große zweibändige Biographie Adolf Hitlers gilt als Meisterwerk der modernen Geschichtsschreibung. Für seine Verdienste um die historische Forschung wurde Ian Kershaw mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und der Karlsmedaille. 1994 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, 2002 wurde er zum Ritter geschlagen. Bei DVA sind außerdem von ihm erschienen »Hitlers Freunde in England« (2005), »Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg« (2010) und »Das Ende« (2013). Die beiden Bände seiner großen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa, »Höllensturz« (2016) und »Achterbahn« (2019), sind hochgelobte Bestseller. Zuletzt erschien von ihm »Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas« (2022).
einleitung
der einzelne und der historische wandel
Inwieweit wurde Europas turbulentes 20. Jahrhundert durch das Handeln politischer Führer geprägt? Waren es diese Führer, die das 20. Jahrhundert »gemacht« haben? Oder wurden sie vielmehr von ihm gemacht? Diese Fragen sind Teil der umfassenderen Frage, wie wichtig Einzelne bei der Gestaltung von Geschichte sind. Ändern sie deren Gang grundlegend? Oder leiten sie die Flut lediglich in neue, temporäre Kanäle? Man nimmt häufig nahezu automatisch und fraglos an, politische Führer seien mehr oder weniger persönlich – oder sogar allein, wie implizit manchmal unterstellt wird – dafür verantwortlich, welchen Kurs die Geschichte nimmt. Aber wie und warum sind sie in die Position gelangt, überhaupt so handeln zu können, wie sie es tun? Welchen Einschränkungen sind sie unterworfen? Welcher Druck lastet auf ihnen? Welche Unterstützung oder Opposition bedingt ihr Handeln? Unter welchen Umständen sind die Führer in unterschiedlichen politischen Systemen erfolgreich? Und wie wichtig ist dabei die Rolle der Persönlichkeit? Inwieweit färbt oder prägt sie sogar tiefgreifende politische Entscheidungen? In welchem Maß haben politische Führer selbst durch frei getroffene Entscheidungen den Wandel bewirkt, mit dem man sie später dann identifiziert hat? Diese Fragen betreffen sowohl demokratische als auch autoritäre Führer. 1
Die Frage des Einflusses des Einzelnen auf den historischen Wandel ist von Historikern häufig und wiederholt aufgegriffen worden, 2 und nicht nur von diesen. So hat Lew Tolstoi viele Seiten seines 1869 erschienenen Romans Krieg und Frieden der philosophischen Reflexion über die Rolle des individuellen Willens bei der Gestaltung historischer Ereignisse gewidmet und durch die Betonung des »Schicksals« den Gedanken zurückgewiesen, sie würden von »großen Männern« geprägt. 3 Indirekt lag die Frage aber stets dicht am Zentrum der historischen Forschung, seit das Studium der Geschichte im 19. Jahrhundert zu einer Fachdisziplin geworden ist. Während sie als theoretisches oder philosophisches Thema häufig untersucht wurde, ist sie jedoch selten direkt und empirisch behandelt worden.
Der deutsche Historiker Imanuel Geiss beschäftigte sich 1970 vor dem Hintergrund der in Deutschland herrschenden starken Abneigung gegen eine personalisierte Geschichtsschreibung mit der Rolle der Persönlichkeit. Diese Aversion war zum Teil auf die Ablehnung der früheren Tradition der deutschen Geschichtsschreibung zurückzuführen, die Rolle mächtiger, häufig visionärer Einzelner bei der Gestaltung der deutschen Geschichte zu überhöhen. Hauptsächlich war sie jedoch eine Reaktion auf die katastrophale jüngste deutsche Geschichte, die häufig implizit, wenn nicht sogar explizit als Werk eines einzigen Mannes, Adolf Hitlers, gesehen wurde. Der Führerkult im »Dritten Reich«, der alle »Leistungen« der »Größe« des »Führers« zuschrieb, und die Umkehr dieser Wertung nach 1945, als man nur zu bereitwillig das ganze Desaster, das Deutschland ereilt hatte, Hitler persönlich anlastete, hatten in den 1960er Jahren dazu geführt, dass man der Persönlichkeit eine Rolle in der Geschichte nahezu vollständig absprach. Dies war sowohl in Westdeutschland, wo die Strukturgeschichte vorherrschend wurde, als auch – aufgrund der marxistisch-leninistischen Betonung des Primats der Ökonomie – in extremer Weise in Ostdeutschland der Fall. Geiss schlug einen Mittelweg zwischen Übertreibung und Zurückweisung der Rolle des Einzelnen ein, ging aber nicht weit über – nicht sehr klare – Abstraktionen hinaus. »Die noch so große Persönlichkeit«, stellt er fest, »schafft nicht selbst den historischen Stoff oder formt ihn entscheidend selbst, sondern gibt ihm nur die ihr eigene persönliche Note.« Eine »große Persönlichkeit« präge »allenfalls ihrer Zeit den eigenen persönlichen Stempel« auf. 4
Die starke Betonung struktureller Determinanten historischen Wandels und die Geringschätzung der Rolle des Einzelnen hatten zur Folge, dass der Biographie, einem traditionellen Bestandteil der angloamerikanischen Geschichtsschreibung, in Deutschland bei der Interpretation der Vergangenheit lange Zeit keine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich dies in Deutschland und anderswo jedoch geändert. Der Rückgang des geistigen Einflusses des Marxismus nach dem Sturz des Sowjetblocks und die Ausbreitung der neuen »Kulturgeschichte«, die jede »große Erzählung«, jede dem historischen Wandel übergestülpte umfassende Theorie zurückweist, brachten eine Fragmentierung ohne grundlegendes Muster oder zu enthüllende Bedeutung mit sich, so dass sich das Augenmerk erneut auf den Willen, die Handlungen und die Wirkung von Einzelnen richtete. Eine »allgemeine Wende vom Abstrakten zum Konkreten« hatte eine »Abkehr von System und Struktur hin zum Subjekt, zum Einzigartigen und Individuellen« zur Folge. 5
Als das Millennium näher rückte, veröffentlichte einer der führenden deutschen Historiker, Hans-Peter Schwarz, eine umfangreiche, schwungvoll geschriebene »Porträtgalerie« des 20. Jahrhunderts, wie sie eine Generation zuvor in Deutschland noch undenkbar gewesen wäre. Durch die »Kunstform des biographischen Essays«, erklärte Schwarz, ähnle sein Buch einem »Durchgang durch ein Geschichtsmuseum, in dem die Porträts verschiedener Größen des 20. Jahrhunderts zu betrachten sind: das Gesicht des Jahrhunderts als Abfolge von Gesichtern«. Er räumte ein, dass »der Faktor Persönlichkeit nur einer unter vielen« sei, fragte aber anschließend rhetorisch: »Doch wer wollte seine Bedeutung ernstlich bestreiten?« 6
Die Vorstellungen von politischer Führung sind natürlich alles andere als statisch. Selbst ihre Anhänger verleihen heutigen »starken Führern« selten jene »heroischen« Züge von »Schicksalsmännern«, deren Taten das Geschick ihrer Nation prägen, wie sie noch politischen Führern im 19. Jahrhundert zugeschrieben wurden, als dem romantischen Zeitgeist entsprechend der Glaube an »große Männer« entstand. 7 Thomas Carlyles gefeierte Vorlesungsreihe Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte von 1840 gab diesem Glauben enormen Auftrieb und trug wesentlich dazu bei, den »großen Mann« – Frauen schenkte man keine Beachtung – ins Geschichtsbild einzuführen. Nach Carlyles Ansicht ist »die Universalgeschichte, die Geschichte dessen, was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, im Grunde die Geschichte der großen Männer […]. Alle Dinge, die wir in der Welt fertig dastehen sehen, sind eigentlich das äußere wesentliche Ergebnis, die praktische Verwirklichung und Verkörperung von Gedanken, die in den Hirnen der uns in die Welt gesandten großen Männer lebten.« Für Carlyle waren »große Männer« vollkommen positive Figuren. Ein »großer Mann« war in seinen Augen nicht weniger als »die lebendige Quelle des Lichtes, und es ist gut und ersprießlich, ihr nahe zu sein«, dieser »strömende[n] Lichtquelle […] der angeborenen ursprünglichen Erkenntnis, der Mannheit und des edlen Heldentums«. 8
Die meisten von Carlyles »Helden« bewegten sich auf den Gebieten von Religion (wie Mohammed und Luther) und Literatur (Dante, Shakespeare). In der letzten Vorlesung wandte er sich jedoch der Politik zu, wobei er Cromwell und Napoleon herausgriff, die beide nach revolutionärem Chaos die Ordnung wiederhergestellt hatten, oder wie er es ausdrückt: »In aufrührerischen Zeiten, wo das Königtum an sich tot und vernichtet zu sein schien, treten Cromwell und Napoleon wieder als Könige hervor.« 9 Der »Held« oder »große Mann« prägt die Geschichte durch Willenskraft: Dies war die grundlegende Botschaft. Kein Wunder also, dass ein Jahrhundert später Hitler ein begeisterter Bewunderer Carlyles war – und dass Carlyle heute so wenig gelesen wird. 10
Auch der herausragende Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt befasste sich in einem Essay mit dem Thema »historischer Größe«. In der erst 1905, nach seinem Tod, veröffentlichten Schrift, die auf 1870 gehaltenen Vorträgen beruht, räumt er ein, dass »wirkliche Größe […] ein Mysterium« sei, wir aber »unwiderstehlich dahin getrieben« seien, »diejenigen in der Vergangenheit und Gegenwart für groß zu halten, durch deren Tun unser spezielles Dasein beherrscht ist«. Große Männer zeichneten sich durch Einzigkeit und Unersetzlichkeit aus. 11 Burckhardts Hauptanliegen war die »Größe« in der Kultur, insbesondere von Malern, Dichtern und Philosophen sowie von religiösen Figuren (auch hier Mohammed und Luther). In der Politik unterschied er »Größe« von »bloßer Macht«; »bloßen kräftigen Ruinierern«, wie er sie nennt, spricht er jede Größe ab. 12 Wer nur zerstöre und nichts schaffe, habe jeden Anspruch auf Größe verspielt. Groß seien nur diejenigen, die sich als fähig erwiesen, die Gesellschaft von »abgestorbenen Lebensformen« zu befreien. 13 Zur »Größe« gehört nach Burckhardts Ansicht mehr als die Durchsetzung des eigenen Willens. Ihr bestimmender Faktor liegt vielmehr darin, ob er – je nach Standpunkt – dem Willen Gottes, der Nation oder des Zeitalters entspricht. 14 Wie dieser definiert werden sollte, ließ er offen.
Sowohl Carlyle als auch Burckhardt suchten »Größe« in der Persönlichkeit. Aber ihre...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2022 |
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Übersetzer | Klaus-Dieter Schmidt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Personality and Power. Builders and Destroyers of Modern Europe |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 2022 • Achterbahn Buch • Adenauer • Churchill • de Gaulle • Demokratisierung Europa • Diktator 20. Jahrhundert • Diktatoren • Diktaturen Europa • eBooks • Einzelner und Geschichte • eu geschichte • Europa Einigung • Francisco Franco • Geschichte • Gorbatschow • große Frauen • große Männer • Helmut Kohl • Hitler • Höllensturz Buch • Holocaust • Kalter Krieg • Lenin • Machtmenschen • Margaret Thatcher • Mussolini • Nachkriegszeit Europa • NATO Europa • Neuerscheinung • NS-Regime • Putin • Putin Hitler • Putin Lenin • Putin Stalin • Putin Ukraine • Russische Revolution • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Stalin • Stalinismus heute • Tito • Warschauer Pakt • Weltkriege |
ISBN-10 | 3-641-28642-5 / 3641286425 |
ISBN-13 | 978-3-641-28642-2 / 9783641286422 |
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