Haltung (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01437-4 (ISBN)
Katrin Halfmann, Jahrgang 1969, ist Erzieherin, Diplom-Psychologin, Berufsschullehrerin und Mediatorin (BM). Sie unterrichtet an einer Fachschule mit Fachrichtung Sozialpädagogik und Heilpädagogik. Darüber hinaus ist sie freiberuflich als Mediatorin tätig, erstellt psychologische Gutachten im Rahmen von Adoptionen und bietet Fortbildungen für Lehrkräfte und Unternehmen an. Sie lebt in Lübeck.
Katrin Halfmann, Jahrgang 1969, ist Erzieherin, Diplom-Psychologin, Berufsschullehrerin und Mediatorin (BM). Sie unterrichtet an einer Fachschule mit Fachrichtung Sozialpädagogik und Heilpädagogik. Darüber hinaus ist sie freiberuflich als Mediatorin tätig, erstellt psychologische Gutachten im Rahmen von Adoptionen und bietet Fortbildungen für Lehrkräfte und Unternehmen an. Sie lebt in Lübeck.
1.4 Hinter Haltungen verbirgt sich innere Vielfalt
Häufig kann von innerer Einheit allerdings nicht die Rede sein. Mal will der Kopf anders als der Bauch, mal ist das Rückgrat den Anforderungen der eigenen moralischen Ansprüche einfach nicht gewachsen. Wir Menschen sind vielschichtige und vielfältige Wesen mit unterschiedlichen Impulsen, Meinungen, Gefühlen und Erwartungen. Manchmal alles zur selben Zeit. Vor allem in nicht eingeübten Situationen, die unmittelbare Reaktionen erfordern, zeigt sich unsere Haltung – aber auch unsere innere Vielfalt. Wie häufig stehen wir verdattert da und wissen nicht weiter, sind innerlich hin- und hergerissen oder handeln wie ferngesteuert und ärgern uns später darüber.
1.4.1 Das Innere Team
Das Modell des Inneren Teams des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun (1998) eignet sich gut, um die Prozesse sichtbar zu machen, die sich in Bezug auf unsere Haltung(en) im Inneren abspielen. Es geht davon aus, dass es in einem Menschen zu einer Situation oder einer Fragestellung normalerweise unterschiedliche Impulse, Gedanken oder Gefühle gibt, die verschiedenen inneren Anteilen zugeordnet werden können. Wir sind selten mit uns selbst «ein Herz und eine Seele», sondern bemerken, wenn wir genauer in uns hineinhören, meistens verschiedene Stimmen, die sich zu Wort melden und sich nicht immer einig sind. Im Modell des Inneren Teams betrachten wir diese als innere Teammitglieder, die alle eigene Gefühle, Interessen oder Bedürfnisse haben und untereinander eine eigene Dynamik entwickeln. Einige sind laut, andere leise und zaghaft. Einige melden sich schnell, andere erst eine Weile später.
So kann es sein, dass in der eingangs beschriebenen Wasserhahn-Situation alle drei Erzieherinnen sowohl etwas Ärger («Ach herrje, muss das jetzt sein?!») als auch etwas Stress («Wie soll ich das alles wieder trocken kriegen?») als auch etwas Freude («Wow, Igor lernt ganz viel!») empfinden – das eine mehr, das andere weniger. Entscheidend für ihre Reaktion ist, welcher Impuls schnell zur Stelle ist, welcher dominiert, welchen sie zulässt und welchen oder welche (es kann auch eine Kombination von mehreren sein) sie schließlich in welcher Form äußert.
Trotz unserer inneren Vielfalt sprechen wir nicht von «Wir», sondern von «Ich». Das, was wir dabei «Ich» nennen, ist die Führungskraft unseres Inneren Teams, die Schulz von Thun das Oberhaupt nennt. Wie eine gute Teamleitung muss das Oberhaupt zusehen, wie es alle unsere inneren Teammitglieder unter einen Hut kriegt, um als Gesamtperson handlungsfähig zu sein. Es versucht idealerweise, alle im Blick zu behalten und angemessen einzusetzen.
Eine vertiefte Betrachtung des Oberhauptes und seiner Bedeutung für eine professionelle Haltung findet sich in Kapitel 2.5.2.
Das Modell des Inneren Teams lebt von seiner Visualisierung. Dabei geht es nicht um Schönheit oder künstlerische Qualität, sondern um Praktikabilität. Einfache Strichmännchen reichen. Es wird zunächst ein Kopf mit einem großen Bauch aufgemalt. Hierein werden dann nach und nach die Inneren Teammitglieder eingezeichnet, die sich zu einer konkreten Fragestellung zu Wort melden. Sie bekommen alle einen passenden Namen und eine typische Botschaft in eine Sprechblase geschrieben. Gegebenenfalls werden sie mit Gesten, Symbolen oder einem passenden Gesichtsausdruck versehen. Der Kopf steht für das Oberhaupt.
Das Modell des Inneren Teams (vgl. Schulz von Thun, 1998)
Das Aufmalen ist wichtig, weil sich die Wirkung des Modells erst voll entfalten kann, wenn wir unsere inneren Anteile und die dadurch entstandene Dynamik bildlich vor uns sehen. Dadurch können wir uns von dem, was in uns vor sich geht, emotional leichter distanzieren und es von außen betrachten. Indem die inneren Teammitglieder als «Wesen» bildlich dargestellt werden, aktivieren wir unterschiedliche Hirnregionen, die jeweils für analytische oder eher assoziative Prozesse zuständig sind. Diese Verbindung ermöglicht es uns auch, unseren Blick zu erweitern und uns von einseitigen Bewertungen und Interpretationen zu lösen. Nachhaltige und auch kreative Lösungen werden hierdurch wahrscheinlicher.
Die Erzieherin Catarina Faller spürt in der oben beschriebenen Situation mit Igor zunächst die «Pädagogin» in sich, die Igor und seine Entwicklung im Blick hat. Sie freut sich über jeden kleinen Fortschritt und nimmt wahr, dass er heute in der Kita etwas Neues wagt.
Auch die «Bildungssensitive» in ihr vermutet, dass es sich hier keineswegs um Unsinn oder Böswilligkeit handelt, sondern um einen spontan entstandenen kindlichen Forschungsprozess. Sie ist davon überzeugt, dass sich Kinder beim Spielen selbst bilden. Ihre Haltung ist offen und neugierig. Sie hat das Vertrauen, dass Igor einen subjektiv guten Grund dafür hat, mit dem Wasser zu experimentieren, und interessiert sich dafür.
In ihr meldet sich aber auch die «gestresste Alltagsmanagerin», die genervt reagiert und der Experimentierfreude von Igor Grenzen setzen möchte. Sie trägt hier die Verantwortung, der Tagesablauf muss weitergehen, und es bleibt an ihr und ihrer Kollegin hängen, dafür zu sorgen, dass das Bad und Igors Kleidung trocken und benutzbar sind.
Auch eine «Ressourcenbewusste» macht auf sich aufmerksam. Ihr ist es ein Anliegen, mit der kostbaren Ressource Trinkwasser sparsam hauszuhalten.
Als ungutes Gefühl macht sich schließlich eine «Grenzwächterin» bemerkbar. Ihr ist es wichtig, Kindern gutes Benehmen beizubringen. Sie weist darauf hin, dass Igor solche Experimente nicht nach Belieben überall machen sollte und dass es auch nicht gut wäre, wenn nun alle Kinder, z.B. beim Händewaschen vor dem Essen, mit Wasser im Bad herumspritzen. Igor sollte lernen, auch auf die Bedürfnisse und Grenzen anderer Rücksicht zu nehmen.
Inneres Team von Catarina Faller zur Wasserhahn-Situation
1.4.2 Vielfältige Haltungen innerhalb einer Person
Nicht selten kommt es innerhalb einer Person zum Kampf verschiedener Haltungen. Mehrere innere Teammitglieder ringen dann darum, Gehör zu finden und sich durchzusetzen.
Der Referendar Lukas Hempel hat noch eine recht unklare Haltung – man könnte auch sagen, unterschiedliche Haltungen – zu der Frage, wie mit Lernenden umzugehen ist, die häufig der Schule fernbleiben.
Wenn er mit dem Kollegen G. spricht, der ein konsequentes Vorgehen mit schulrechtlichen Konsequenzen anmahnt, wird der «Ordnungshüter» in ihm wach: «Ich denke auch, da müssen wir hart vorgehen. Wo kämen wir hin, wenn jeder kommt oder nicht kommt, wie es ihm gefällt!?»
Später spricht er mit dem Kollegen L. Dieser macht darauf aufmerksam, dass es für die Jugendlichen meist «gute» Gründe gibt, warum sie fehlen. Diese herauszufinden müsste oberstes Gebot sein. «Das leuchtet mir ein», findet Lukas. «Vielleicht liegt ja irgendeine Not vor! Wir müssten sie auf jeden Fall ansprechen und fragen, was los ist. Durch gnadenlose Sanktionen machen wir vielleicht alles noch schlimmer!» Der «Empathische» in ihm ist nun ganz in seinem Element.
Zu Hause klagt sein Sohn: «Schule ist ätzend! Wir machen nichts, was mich interessiert!» «Hm», entgegnet Lukas nachdenklich, «was müsste denn passieren, dass sich Schule für dich lohnt?» In ihm meldet sich plötzlich ein «Qualitätsbewusster», der darüber nachdenkt, ob die Schule wirklich so gestaltet ist, dass sie von Lernenden als sinnvoll erlebt wird.
Schulz von Thun bezeichnet es als «reziproke Hervorlockung», wenn wir uns von der Ausstrahlung unseres Gegenübers so beeinflussen lassen, dass die dazu passenden inneren Stimmen hervorgelockt und aktiv werden (Schulz von Thun, 1998, S. 249ff.).
Dieses Phänomen des Herauslockens einzelner Teammitglieder durch das Gegenüber kann auch kontrastierend bzw. «komplementär» (ebd.) sein. In Diskussionen ertappe ich mich hin und wieder dabei, dass ich Haltungen vertrete, die im Gespräch noch nicht vertreten sind, die aber, aus meiner Sicht, zur Vervollständigung einer – in der Sache – angemessenen Haltung eine wichtige Rolle spielen sollten. So kommt es zu einer Art Kontrastverstärkung. Wenn mein Gegenüber einseitig die Vorteile von etwas herausstellt, übernehme ich zuweilen die Rolle des kritischen Bedenkenträgers und umgekehrt.
1.4.3 Haltung als Ergebnis innerer Vielfalt
Die Innere Vielfalt kann lästig sein und innere Konflikte heraufbeschwören. In ihr verbirgt sich allerdings auch eine große Chance. Wenn eine Haltung von mehreren inneren Teammitgliedern gemeinsam getragen wird, im Idealfall vom gesamten Team, ist sie wesentlich bedachter und ausgewogener und wird einer Situation in ihrer Vielfältigkeit sehr wahrscheinlich gerechter, als wenn einzelne Teammitglieder ihre eigenen Haltungen durchzusetzen versuchen. Es ist die Aufgabe des Oberhauptes, aus den Einzelstimmen ein Team zu machen, das an einem Strang zieht.
Der Referendar Lukas Hempel kann, wenn er als Oberhaupt seine drei oben skizzierten Überzeugungen in einen Austausch miteinander bringt, mit seinen inneren Teammitgliedern zu einer ausgewogenen Haltung finden, die zwar Ambivalenzen enthält, aber gangbare Wege eröffnet.
Die Erzieherin Catarina Faller findet eine Lösung, mit der alle fünf inneren Teammitglieder gut leben können. Aus mehreren...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2023 |
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Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Eigenverantwortung • Erzieher • Feedbackkultur • Fehlerkultur • Haltung • Hamburger Schule • Heilpädagogik • Innerer Kompass • Inneres Team • Kindergarten • Kommunikationspsychologie • Lehrkräfte • Mediation • Miteinander reden • Pädagogen • Pädagogikstudium • Professionalität • Schule • Schulz von Thun • Selbststeuerung • Sozialarbeiter • Sozialarbeiterin • Soziale Arbeit • Soziale Berufe • Stressresistenz • Tugenden • Verantwortung übernehmen • Werte |
ISBN-10 | 3-644-01437-X / 364401437X |
ISBN-13 | 978-3-644-01437-4 / 9783644014374 |
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