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Kohlezeit (eBook)

Eine Global- und Wissensgeschichte (1500-1900)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
479 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45159-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kohlezeit -  Helge Wendt
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Angesichts begrenzter Ressourcen und ökologischer Krisen zielt die Energiewende heute auf die Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, auf ein neues Zeitalter, in dem die Kohle keine Rolle mehr spielt. Gerade diese hehre Absicht verdeutlicht, dass es eine Ära gegeben haben muss, in der Kohle für die Menschheit überaus wichtig war: die »Kohlezeit«. Helge Wendt zeichnet sie als eine globale Wissensgeschichte über das Material, seine Förderung, Lagerung und Nutzung, verbunden mit politischen Fragen und sozialen Strukturen. Beginnend im Europa der frühen Neuzeit, beleuchtet sein Buch Fragen, die in Lateinamerika genauso diskutiert wurden wie im Asien und Afrika des späten 19. Jahrhunderts. Besonders in den Kolonien europäischer Staaten - so Wendts innovativer Ansatz - zeigte sich, wie in der Kohlezeit Wissen und Macht, Praxis und Problemlösungen, fossile Energiewende und Wirtschaft in großen und kleinen räumlichen Konstellationen zusammenwirkten.

Helge Wendt ist Historiker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Helge Wendt ist Historiker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

2.Wissenschaft und Praxis der historischen Kohleforschung


2.1Frühe Kohlezeit


Der Beginn der Kohlezeit in Europa in der Frühen Neuzeit


Die Erforschung der wirtschaftlichen Bedeutung von Steinkohle in den 150 Jahren vor dem allgemein mit 1750 durch die Historiographie gesetzten »Beginn« der Industrialisierung in Europa muss mit vielfachen Schwierigkeiten umgehen. Es besteht allgemein keine Überblicksforschung zu diesem Thema. Darstellungen gehen kaum über den lokalen Rahmen hinaus oder sind älteren Datums und wurden aufgrund methodischer Mängel kritisiert.263 Begibt man sich auf die Ebene dieser Lokal- und Regionalstudien, die mitunter von renommierten Historikern verfasst wurden, so ergibt sich ein äußerst reiches Bild der Steinkohleausbeutung in vielen Teilen Europas.264 England, Schottland und Wales sind sicherlich zu nennen, wenn es um eine frühe Einführung von Steinkohle als grundlegenden Brennstoff geht. Über England und Schottland haben John U. Nef und Baron F. Duckham ausführliche wirtschaftshistorisch ausgerichtete Bände vorgelegt.265 Der Umwelthistoriker Warde geht in seiner Studie zum veränderten Energieverbrauch in England und Wales davon aus, dass bereits um 1700 fast die Hälfte des dortigen Energiekonsums durch Steinkohle gedeckt wurde.266 Der relativ einfache Zugang zu Kohle war aber nicht auf England beschränkt, wie es häufig in der auf England bezogenen Forschung heißt,267 sondern ist beispielsweise auch im Aachener Raum in Lüttich oder in verschiedenen Teilen Frankreichs anzutreffen.268 Es scheint aus Sicht des kritischen Historikers eher der Fall zu sein, dass die schnelle und umfassende Industrialisierung, die im Vergleich zu anderen Regionen Europas frühzeitig einsetzte, zu einer Konzentration der Forschung auf den britischen Steinkohlebau geführt haben mag.

An vielen Orten in Europa war die fossile Transformation der Energiesysteme weit vor dem industriellen Zeitalter im Gange. Zumeist war hier der kleinteilige, bäuerliche und im Nebenerwerb getätigte Abbau von Steinkohle in kleinen Gruben vorherrschend. Ein Problem der Forschung ist, dass viele der kleinen Abbauorte den Industrialisierungsprozess im Bergbau nicht überlebten. Entweder stellten sich die Kleinstbetriebe gegenüber den großen Bergwerken als nicht konkurrenzfähig heraus, oder sie wurden von industriell organisierte Ausbeutungsbetrieben absorbiert. Drittens stellten Unternehmen die Ausbeute von Vorkommen teilweise nach kurzer Zeit wieder ein, weil das gewonnene Material in Konkurrenz zu anderen Brennmitteln oder aufgrund der schlechten Qualität nicht länger nachgefragt wurde. Diese drei Entwicklungen führten dazu, dass sie in einer Rückschau auf die Geschichte eines Reviers nicht mehr wahrgenommen wurden oder ein gesamtes Kleinrevier in Vergessenheit geriet. Diese Prozesse fanden unter anderem statt in Frankreich, Schlesien, in norddeutschen Gebieten sowie in den verschiedenen sächsischen und thüringischen Territorien. Aber wohl auch in Italien und Spanien finden sich die Prozesse des »vergessenem« Verschwindens oder Überformens von älteren kleinen Kohlegruben, wozu unsere Kenntnis aber noch viel unzureichender als zu den Gebieten der früher einsetzenden Energietransformation ist. Beispielsweise blieb vom durch den Herzog Friedrich (1557–1608) in den 1590er Jahren initiierten Kohleabbau in Kriegsberg in Stuttgart nichts übrig; nur kurz wird er in der Arbeit von Tara Nummedal zur Alchemie im Heiligen Römischen Reich erwähnt.269

Die Frage nach den Frühformen der Steinkohlegewinnung und den vorindustriellen Vorläufern gewinnt an Relevanz, wenn von Verbindungen zu späteren technischen Entwicklungen und Spezialisierungen ausgegangen wird, die auf früheren Erfahrungen aufsaßen. Ein weiterer Mehrwert einer Geschichte des vor- und frühindustriellen Steinkohlebaus und seiner Nutzung besteht zudem in einer Rekonstruktion der vor- und proto-industriellen Nachfrage nach Steinkohle, der Marktentwicklung und der CO2-Bilanzen von früh- und proto-industriellen Gesellschaften.270 Es ist nämlich anzunehmen, dass selbst durch einen geringen Einsatz von Steinkohlen und in Verbindung mit einer durch die Holzkohle dominierten Brennstoffwirtschaft und Bestückungstechnik sich die Produktionsmengen von Konsumgütern in Dimensionen erhöhen konnten, dass die Emission von Kohlendioxiden und -monoxiden trotz der allgemein noch vorherrschenden und nur lokal in gewissen Produktionsbranchen bereits fossil organisierten »organischen Brennstoffwirtschaft« anstieg. Die Steigerungsraten der Produktion erklären sich dann aus einer höheren Energieausbeute durch die beigefügte Steinkohle. Interessant ist diese Entwicklung zudem im Hinblick auf die Langzeitentwicklung von Produktionsweisen und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Umwelt: Durch die nun mögliche Mengensteigerung bei Waren, für die ein ausreichender Markt vorhanden war, erlebte auch die frühe kapital-basierte europäische Wirtschaft eine nachhaltige Dynamik. Das Mehr an potenzieller Energie erzeugte außerdem die Möglichkeit, unabhängiger von Jahreszeiten – denen beispielsweise die Mühlentechnologie unterlag271 – und einer einzigen Brennstoffquelle eine wachsende Warenproduktion zu erzielen.

Damit setzte früh der Eintritt in die Kohlezeit der europäischen Gesellschaften und Wirtschaftsräume ein. Während dieser frühen Kohlezeit wurde Steinkohle als Brennmittel vielfältig, regional und lokal differenziert, kleinteilig und unter Umständen nur als Beimischung unabdingbar. In der Produktion in den Werkstätten und als Heizmittel in den heimischen Kaminen und Öfen »gewöhnte« sich die europäische Gesellschaft schon im ausgehenden 17. Jahrhundert räumlich ausgreifend und mengenmäßig zunehmend im 18. Jahrhundert an den Rohstoff. Zu Beginn der Kohlezeit wurden also die ersten Schritte in einer bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein anhaltenden Langzeitentwicklung der fossilen Brennstoffanwendung gemacht. Die Zeit um 1700 steht am Anfang dieser Pfadabhängigkeit, wonach der Einsatz von Steinkohlen in einzelnen Produktionsprozessen und technischen Systemen sich intensivierte, sich räumlich ausbreitete und neue Einsatzgebiete in den sich daraus neu entwickelnden technischen Systemen und Verfahren entstanden. Damit war dann um 1800 in vielen Produktionszweigen und in den produktionsintensiveren Regionen Europas die Herstellung von bestimmten Waren ohne den Einsatz von Steinkohle nicht mehr vorstellbar.

Dieser Wandel bedeutet jedoch nicht, dass es nicht andere Entwicklungswege gab, besonders auch eine erhöhte Produktion und Verwendung von Holzkohle, die häufig noch unverändert als Brennmaterial eingesetzt wurde.272 Holzkohle wurde in den Eisenschmelzen und Stahlschmieden häufig durchmischt mit Steinkohle, wobei die jeweiligen Produktionsanlagen ihren wirtschaftlichen Bestand gegenüber den mit Steinkohle produzierenden Betrieben behaupten mussten. Sollte anfangs noch kein qualitativer Unterschied bestanden haben, so überlebten die Holzkohlebetriebe nur in solchen Regionen, in denen ein Überangebot an Holz vorhanden war oder der jeweilige Territorialstaat – vielleicht durch eine Versorgungsgarantie der Betriebe – eine besondere Standortpolitik betrieb. Außerdem waren die europäischen Märkte noch nicht dermaßen durch den Warenaustausch geprägt, dass etwa englischer Stahl im südlichen Deutschland den lokal und mit Holzkohle produzierten Stahl hätte verdrängen können. In der Forschung zu Holzkohle wird häufig die unterschiedliche Qualität außer Acht gelassen, die das Brennmaterial aufweisen konnte. Schlecht hergestellte oder aus weichen Hölzern bestehende Holzkohle konnte das Ergebnis beim Schmelzen von...

Erscheint lt. Verlag 23.11.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte Afrika • Alexander von Humboldt • Anthropozän • Asien • Braunkohle • David Skene • Dekarbonisierung • Erderwärmung • Europa • Frühe Neuzeit • Geschichte • Globalgeschichte • J. F. C. Morand • Klimawandel • Kohle • Kohlegeschichte • Kolonialismus • Lateinamerika • Nutzung • Rohstoffe • Steinkohle • Umweltgeschichte • Wirtschaftsgeschichte • Wissensgeschichte
ISBN-10 3-593-45159-X / 359345159X
ISBN-13 978-3-593-45159-6 / 9783593451596
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