Das Wenige und das Wesentliche (eBook)
208 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8265-6 (ISBN)
JOHN VON DÜFFEL, geb. 1966 in Göttingen, studierte Philosophie in Stirling, Schottland, und Freiburg im Breisgau und promovierte über Erkenntnistheorie. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a. >Vom Wasser< (1998), >Houwelandt< (2004), >Wassererzählungen< (2014), >Klassenbuch< (2017), >Der brennende See< (2020), >Wasser und andere Welten< (Neuausgabe 2021), >Die Wütenden und die Schuldigen< (2021) sowie >Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch< (2022). Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.
JOHN VON DÜFFEL, geb. 1966 in Göttingen, studierte Philosophie in Stirling, Schottland, und Freiburg im Breisgau und promovierte über Erkenntnistheorie. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a. ›Vom Wasser‹ (1998), ›Houwelandt‹ (2004), ›Wassererzählungen‹ (2014), ›Klassenbuch‹ (2017), ›Der brennende See‹ (2020), ›Wasser und andere Welten‹ (Neuausgabe 2021), ›Die Wütenden und die Schuldigen‹ (2021) sowie ›Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch‹ (2022). Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.
DIE ZEHNTE STUNDE
Die Geschichte, in der ich bin (Vor- und Zurückgehen)
Ich bleibe einen Augenblick stehen
Auf dem Grat
Der Bergrücken erstreckt sich
Kilometerlang
Es gibt keinen Gipfel zu erklimmen
Kein Plateau
Das als Ziel herhalten könnte
Die Bergspitzen in der Ferne
Sind unerreichbar
Auf einer von ihnen liegt Schnee
Würde ich anders gehen
Wenn ich wüsste, wie viele Schritte
Und Wege noch vor mir liegen
Würde ich anders leben
Wenn ich wüsste, wie viele Tage
Oder Jahre mir bleiben
Was würde ich tun
Wenn ich wüsste, dass morgen
Die Welt untergeht
Oder dass sie gestern schon
Untergegangen ist
Unbemerkt
Wenn ich etwas ändere
Ändert das etwas?
Die Frage, die ich dem Orakel
Stellen würde, wenn ich könnte, wäre
In welcher Geschichte bin ich?
Wenn das Leben ein Buch ist
Wie man sagt, dann ist es eins
Das nicht weitergeht
Als bis zu dieser Stunde, bis jetzt
Das macht es so schwer zu verstehen
Wir sind in einer Geschichte
Und zugleich im Geschehen
Versuchen, unser Leben zu leben und zu lesen
Alles zur selben Zeit
Ohne die Möglichkeit, vorzublättern
Zu den letzten Seiten
Und schon einmal den Schluss zu lesen
Um zu wissen, wie es ausgeht
Wir sind gefangen
In der Unaufhörlichkeit der Gegenwart
Fortlaufend
Wo komme ich her
Wo stehe ich
Wo gehe ich hin
Die drei Fragen der Lebenserzählung
Sind eng miteinander verknüpft
Ihr Zusammenhang ergibt die Geschichte
Da aber die Antwort aus der Zukunft fehlt
Sind auch die Antworten
Der Gegenwart und der Vergangenheit
Immer nur vorläufig
Niemand weiß, wo er steht
Ohne den ganzen Weg zu kennen
Auch wenn er weit gekommen ist
Stellt sich die Frage
Geht es weiter hinauf
Geht es abwärts
Oder bleibt es auf dieser Höhe
Mehr oder weniger
Wie soll ich meinen Standort bestimmen
Wenn ungewiss ist, ob ich am höchsten Punkt
Meines Weges bin oder ob er
Schon hinter mir liegt
Jeden Morgen die Frage
Kommt das Beste noch
Ist es das jetzt
Oder sind sie das schon gewesen
Die besseren Tage
Jeden Abend keine Antwort
Vielleicht ist die Frage falsch
Und es wird weder besser noch schlechter
Sondern immer nur anders
Und auch wieder nicht
Vielleicht bleibt sich im Grunde alles
Mehr oder weniger gleich
In welcher Geschichte bin ich?
Manchmal, wenn ich vorausschaue
Erscheint mir nichts schlimmer als die Ungewissheit
Angesichts dessen, was kommt
Manchmal erscheint mir meine Ahnungslosigkeit
Im Rückblick wie ein seliger Zustand der Unschuld
Gemessen daran, wie es gekommen ist
Manchmal weiß ich nicht, was schwerer auszuhalten ist
Die Frage, wie lebe ich richtig
Geht einher mit der Frage
Wie lese ich mein Leben
(Richtig)
Die Geschichte, in der ich bin
Zu verstehen, ist nicht nur schwer
Es scheint zum Verzweifeln unmöglich
Weil der entscheidende Teil fehlt
Die wichtigsten Kapitel sind ungeschrieben
Nemo ante mortem beatus
Niemand ist vor dem Tod selig zu nennen
Klarer lässt sich die Vorläufigkeit jeder Lebenserzählung
Nicht auf den Punkt bringen
Dem steilen Aufstieg
Folgt ein noch tieferer Fall
Glück schlägt um in Unglück
Ruhm in Vergessenheit
Ein großer Name wird Schall und Rauch
Bevor das Spiel nicht zu Ende gespielt ist
Kann sich alles in sein Gegenteil verkehren
Wenn wir die Leben anderer lesen
Gibt es Enden, Lebensenden
Die so zwingend erscheinen
So zwangsläufig, als wären sie
In der Vergangenheit angelegt und
Gewissermaßen immer schon da gewesen
So wie das Ende des Ödipus
Es scheint in seinem Anfang enthalten
Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen
Von unserem Tod
Wir erkennen ihn nur nicht
Obwohl er immer um uns ist
Wir sind blind für unser Ende
Todesblind
Doch womöglich entsteht der Eindruck, dass es
So kommen musste, so und nicht anders
Erst im Nachhinein, in der Rückschau
Wir lesen das Ende, wenn wir es kennen
Ins Leben hinein
Wenn wir den Tod einmal gesehen haben
Sehen wir ihn überall
Oft heißt es »tragisch«
Wenn am Ende ein schlimmer Tod steht
Doch ein tragischer Tod macht aus einem Leben
Noch lange keine Tragödie
Wir lesen die meisten Geschichten vom Ende her
So wie wir das Geschehen meist vom Ende her beurteilen
Als ginge es um ein Ergebnis, um die Summe
Von etwas, eine Lebensbilanz nach dem Motto
Abgerechnet wird zum Schluss
Es gibt kein Maß, keinen Maßstab für
Die Bewertung eines Lebens als Erfolgsgeschichte
Oder als eine Geschichte des Scheiterns
Man kann seine Ziele verfehlen
Enttäuschungen erleben, Rückschläge, Brüche
Doch was heißt es, sein Leben zu verfehlen?
Eine Richtung haben
Und aus der Bahn geworfen werden
Ist das ein Ende oder der Anfang
Einer tieferen, gründlicheren Suche
Einer Suche unter anderen Voraussetzungen
In anderen Richtungen
Und so unaufhörlich wie die Gegenwart
Ich ertappe mich dabei, den Tag zu bewerten
Die Bilanz einer Woche, eines Jahres zu ziehen
Ständig beurteile ich mein Leben, anstatt es zu beschreiben
Dabei ist die Beurteilung die schlechteste Erzählung
Und die Bewertung die schlechteste Beschreibung
In welcher Geschichte werde ich gewesen sein?
So wie die Frage nach dem richtigen Leben
Ist die Frage nach der Geschichte, in der ich bin
Eine des Lesens, der Lesart, des Standpunkts
Von wo aus und wie betrachte ich mich?
Lese ich mein Leben vom Ende her
Stelle ich mir vor, wie ich es sehen und
Verstehen werde auf dem Strebebett
Oder lese ich meine Geschichte
Aus dem Geschehen heraus
Im Moment des Erlebens
Nicht, dass ich die Wahl hätte
Auch die letzte Stunde auf dem Sterbebett
(Von der ich nicht wissen kann, ob es wirklich die letzte ist)
Wird nur eine Aneinanderreihung von Momenten sein
Ein Geschehen, dessen Geschichte ich mir
Zusammenreimen muss
Auch wenn das Ende ganz nah ist
Werde ich nicht wissen, wie es kommt
Und wann genau
Auch auf dem Sterbebett
Bleibt das Ende eine Fiktion
Eine sehr mächtige
Aber eine Fiktion bis zuletzt
Beim Lesen des eigenen Lebens
Gibt es keinen Standpunkt außerhalb
Keine Lesart vom Ende her
Nie werde ich das Ende wissen
Wenn es geschieht, ist es um mich geschehen
Ich habe keine andere Wahl
Als im Geschehen die Geschichte zu erkennen
In der ich bin und immer sein werde
In unaufhörlicher Gegenwart
Wenn das Ende gekommen ist
Bin ich nicht mehr da
Niemand ist vor seinem Tod selig zu nennen
Das Leben und Sterben der anderen lässt sich
Leicht überblicken, über die letzte Stunde hinaus
Das Ende gilt. Es kommt nichts mehr
Geschehen wird Geschichte
Abgeschlossene Vergangenheit
Die man beschreiben und bewerten kann
Unter Einrechnung dessen, was bleibt
So viel Abstand hat der Erzähler
Seiner Geschichte im Geschehen nicht
Er ist gefangen in der Vorläufigkeit seines Lebens
Und wird es auch noch auf dem Sterbebett sein
Selbst wenn ihm ein friedlicher Abschied vergönnt ist
Eine Rückschau mit einer inneren Ruhe
Die dem Blick von außen nahe kommt
Selbst dann gibt es keine Gewähr, keine Gewissheit
Dass sich im nächsten Moment nicht doch
Ein Abgrund auftut, wenn (falls)
Der Schleier weggezogen wird und enthüllt
Was keiner so hatte kommen sehen
Der Erzählende in seiner Erzählung zuallerletzt
Das Ende wird immer von anderen erzählt
Seine innere Wahrheit bleibt verschlossen
Sie kann tief sein und erschütternd
Doch auch sie ist immer jetzt, im Moment
Mit allen Störungen und Widerständen
Allen Unzulänglichkeiten der Gegenwart
Einem Kissen, das drückt, einer Stelle
Die schmerzt, einem Gedanken
Der mir entfällt
Warum sollte mein letzter Moment
Endgültig sein, warum mehr gelten
Als tausend andere Momente meines Lebens
In denen ich besser bei Kräften bin
Klarer sehe und denke
Warum sollte mein letzter Satz
Mehr über mich aussagen
Mehr Wahrheit enthalten
Nur weil ihm kein nächster folgt
Warum sollte die Rückschau
Die ich auf dem Sterbebett halte
Die Summe meines Lebens umfassen
Wenn mir schon vorher so vieles entglitten
Und für immer verloren gegangen ist
Nur weil ich nach diesem Blick zurück
Nicht mehr die Augen aufschlage
Es gibt beim Lesen des eigenen Lebens
Keinen ultimativen Standpunkt
Keine zeitlose Wahrheit
Keine Weisheit
Auf die es sich zu warten lohnt
Was mir in diesem Moment
Endgültig erscheint
Muss es im nächsten Moment
Nicht mehr sein
In der Vorläufigkeit meines Lebens
Schreibe ich mein Ende nicht selbst
Der letzte...
Erscheint lt. Verlag | 15.11.2022 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Geisteswissenschaften | |
Schlagworte | Achtsamkeit • asketisch • Brevier • Einkehr • Erkenntnis • Gedanken • Italien • Klarheit • Lebensbetrachtung • Lebensphilosophie • Lebenssinn • Lebensweise • Maß • Meditation • Minimalismus • Nachdenken • persönlich • Philosoph • Philosophie • Reflexion • Regeln • Selbstbesinnung • Selbsterkenntnis • Stundenbuch • Suche • Tag • Tagebuch • wer bin ich • wesentlich |
ISBN-10 | 3-8321-8265-9 / 3832182659 |
ISBN-13 | 978-3-8321-8265-6 / 9783832182656 |
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