Die Psyche des Homo Digitalis (eBook)
Markus Lanz in: Podcast LANZ & PRECHT, 11.11.22
Der Psychologe und Psychotherapeut Johannes Hepp zeigt, was uns im Zuge der rasant voranschreitenden Digitalisierung neurotischer werden lässt, welche Gründe dafür verantwortlich sind, wie wir uns dieser Entwicklung bewusst werden und wie wir selbstbestimmt und selbstwirksam gegensteuern können.
Unterteilt in Liebe, Arbeit und Sinn stellt Hepp dazu 21 Neurosen des 21. Jahrhunderts vor. Er spannt dabei einen Bogen von Internet- und Online-Sexsucht, Beziehungsängsten und wachsender Einsamkeit (trotz globaler Vernetzung), von der Dating- und Profilneurose über Erziehungswettstreit und krank machenden Perfektionismus, Selbstoptimierungs- und Einzigartigkeitszwängen bis hin zu den Ewigkeitsversprechen der Altersforschung und neuen Datenreligion.
Damit wir zu diesen schwindelig machenden Prozessen ein gesundes Verhältnis entwickeln können, liefert der Autor für unsere Turbozeit aus Bits und Bytes eine scharfsinnige, aber auch hoffnungsfrohe und humorvolle Auseinandersetzung. Durch konkrete Hinweise, persönliche Erfahrungen und Beispiele aus der psychotherapeutischen Praxis hilft Hepp dabei, unsere psychische Widerstandskraft zu stärken und heil durch den digitalen Dschungel zu finden.
Johannes Hepp, geboren 1969 und Vater von zwei Söhnen, arbeitet als Psychologe, systemischer Paar- und Familientherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in München. Er studierte Philosophie im Kongo, lernte von Otto Kernberg in New York, studierte das Leben als freier Künstler in Buenos Aires, interessierte sich als Fotojournalist und scharfer Beobachter für die Abgründe des Lebens und war als psychologischer Sachverständiger für Familienrecht in Bayern tätig - und verlor dennoch nie seinen Humor.
EINLEITUNG // NETZNEUROSEN
Vor zehn Jahren kam ein verzweifelter 35-jähriger IT-Spezialist in meine psychotherapeutische Praxis, nachdem er sich aus Eifersucht das Leben hatte nehmen wollen. In letzter Sekunde hatte er beschlossen, nicht abzudrücken, sondern therapeutische Hilfe zu suchen. So kam ich zu meinem ersten Patienten, der mich auf die neuen Neurosen des Homo Digitalis aufmerksam machte.
Er wohnte mit seiner Lebenspartnerin seit zehn Jahren gemeinsam in einem Einfamilienhaus mit Garten und seit einigen Jahren in einem Smart Home, das er eigenhändig mit Sensoren und den neusten Technologien ausgestattet hatte. Als er begann, von den vermuteten Seitensprüngen seiner Partnerin zu erzählen, und ich wissen wollte, weshalb er sich denn so sicher sei, betrogen worden zu sein, streckte er mir sein Smartphone entgegen und sagte: »Hier drin habe ich alles schwarz auf weiß.«
Dann zeigte er mir Diagramme, Zahlen und Kurven und begann zu erzählen: Als er vor zwei Monaten auf Dienstreise gewesen sei, sei die Schlafzimmertemperatur zwischen zehn und elf Uhr vormittags um vier Grad Celsius angestiegen und das, obwohl um elf Uhr der Rollladen mit der Fernbedienung runtergefahren und die Heizung nicht hochgeregelt worden sei. Er schaute mich mit großen Augen erwartungsvoll an, aber ich stand noch auf dem Schlauch.
Seine Freundin habe behauptet, jenen Dienstag wie gewöhnlich im Büro verbracht zu haben. Doch ihr Auto sei den ganzen Vormittag vor dem Haus geparkt geblieben, was er mir mit einem Video einer Überwachungskamera belegen wollte, was ich dankend ablehnte. Des Weiteren sei um 10:17 Uhr und um 12:34 Uhr die Haustüre geöffnet und ungewöhnlich lange nicht geschlossen worden, was er sich mit Küssen im Türrahmen erklärte. Seit Wochen schaffe er es nicht mehr, sich um seine Firma zu kümmern, starre ständig auf sein Smartphone, gehe zwar noch in die Firma, aber nur damit seine Freundin nicht Verdacht schöpfe, dass er ihr weiterhin nachspioniere.
Nach ein paar Wochen kam seine Lebenspartnerin zu einer gemeinsamen Sitzung mit in die Praxis, setzte sich und verkündete ohne Umschweife: »An jenem Dienstag hatte ich ihn noch nicht betrogen, aber als ich erfuhr, dass er unser Haus mit dem ganzen Spionagekram verwanzt hat, habe ich es getan. Das ist kein Smart Home, das ist eine beschissene Stasi-Zentrale! Hier will ich heute nur noch sagen, dass ich mich trennen werde.« Dann stand sie auf und ging.
Wir verbrachten noch viele Stunden mit der Aufarbeitung dieses kurzen Auftritts, und letztlich konnte ich seine paranoide Eifersuchtsneurose innerhalb eines Jahres erfolgreich behandeln. Natürlich war diese das eigentliche Problem, und die ganze Überwachungstechnik verstärkte nur eine psychische Störung, die schon zuvor angelegt war. Krankhafte Eifersucht ist eigentlich immer ein Ausdruck von abgewehrten Minderwertigkeitskomplexen, entweder gegenüber der Partnerin oder dem Partner oder gegenüber einer (potenziellen) Konkurrentin oder einem (mutmaßlichen) Nebenbuhler. Dennoch trugen die technischen Spionagemöglichkeiten entscheidend dazu bei, dass sich mein Patient nicht mehr entspannen konnte und sich immer weiter in seinen Eifersuchtswahn hineinsteigerte, bis er sogar kurz davor gewesen war, sich zu erschießen – nur aufgrund verdächtiger Daten, erzeugt von Smartphone-Apps.
WAS INDUSTRIE 4.0 UND NEUROSE 4.0 GEMEINSAM HABEN
Das war meine erste Neurose 4.0, die ich behandelte, und es sollten jedes Jahr mehr werden. Neurosen, die selbst zwar nicht neu sind, aber ihre Auslöser sind neu und die (meist digitalen) Mechanismen, die sie immer weiter befeuern, ebenfalls. Mit der Bezeichnung »4.0« soll das Ziel zum Ausdruck gebracht werden, eine vierte (industrielle und gesellschaftliche) Revolution einzuleiten.
Die erste industrielle Revolution bestand in der Mechanisierung mittels Wasser- und Dampfkraft. Darauf folgte die zweite industrielle Revolution, geprägt durch Massenfertigung mit Hilfe von Fließbändern und elektrischer Energie. Und daran schloss sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die dritte industrielle Revolution oder digitale Revolution an mit Einsatz von Elektronik und IT zur Automatisierung.
Die vierte Revolution beginnt im neuen Jahrtausend mit selbstlernender künstlicher Intelligenz über Feedbackschleifen und über einen Austausch der Systeme untereinander, sogenanntes »maschinelles Lernen« oder »Data Mining«. Roboter – aber auch Kühlschränke neuer Bauart, oder Alexa von Amazon – perfektionieren mittlerweile ihre Sprache, je öfter und länger wir mit ihnen sprechen (Feedbackschleife), sie beobachten unser Verhalten und stellen sich immer besser auf uns ein, sie können zunehmend unsere Bedürfnisse erahnen. Das Internet der Dinge (IoT: Internet of Things) breitet sich aus. Das Smart Home wird aus vielen selbstlernenden künstlichen Intelligenzen bestehen, die sich fortwährend weiter perfektionieren. Immer mehr Dinge werden miteinander vernetzt sein, die dadurch ihre Lernerfolge miteinander teilen können – ganz so, wie wir Menschen auch voneinander lernen. Vielleicht können bald all die klugen Geräte im Haushalt eine Vorwarnung versenden, wann mit einer Wahrscheinlichkeit von 93 Prozent und innerhalb der nächsten 24 Stunden mit einem Ehebruch zu rechnen ist. Dazu müsste nur ein entsprechender Algorithmus mit sämtlichen Datenpunkten der Ehepartner trainiert werden. Algorithmische Wahrscheinlichkeitsberechnungen könnten auf dem Handy graphisch aufbereitet werden – mit noch gravierenderen Folgen, als im Eingangsbeispiel beschrieben. Denn eine Liebesbeziehung gibt es ohne Vertrauen nicht, da hilft auch keine App.
Smart Cities werden aus vielen Smart Homes und Smart Apartments bestehen, die alle miteinander vernetzt sein werden, und am Ende werden sogar Smart Cities ihre Daten miteinander austauschen und vergleichen können. Ein Wettstreit um die höchste Energieeffizienz wird entbrennen, um weniger Straftaten und höhere Aufklärungsraten, um die beste Luftqualität und die geringsten Kosten, vielleicht aber auch um die geringste Rate an Ehebrechern und Fremdgeherinnen. Vielleicht werden wir schon bald nicht mehr Werbeschilder lesen wie »Sachsen, Land der Frühaufsteher«, sondern »Hainan, Insel der Treue«, und alle möchten mit krankhaften Verlustängsten auf die südchinesische High-Tech-Insel ziehen.
Mit dem Ausdruck »4.0« wird Bezug genommen auf die bei Software-Produkten übliche Versionsnummerierung. Bei tiefgreifenden Änderungen einer Software spricht man von einer neuen Version, wobei die erste Ziffer der Versionsnummer um eins erhöht und gleichzeitig die zweite Ziffer auf null zurückgesetzt wird.
Wir stehen erst am Anfang dieser tiefgreifenden vierten Umwälzung nicht nur technischer, sondern auch psychischer Art. Und wir sind insgesamt in unserem Selbstverständnis als Menschen herausgefordert. Es ist erst der Anfang dieser vierten und letzten technologischen Revolution, doch wir können schon erahnen, wie grundlegend sich die neuen Technologien und die neuen Verhaltensweisen des Homo Digitalis auf seine Psyche auswirken werden. Manche Kapitel im Buch sind in dieser Hinsicht etwas mehr Zukunftsmusik als andere. Mit manchen Themen hingegen werde ich schon heute täglich in meiner Praxis konfrontiert.
DIE LETZTE UND UMFASSENDSTE KRÄNKUNG DER MENSCHHEIT
Sigmund Freud sprach von den drei großen Kränkungen der Menschheit. Die erste sei durch Nikolaus Kopernikus (1473–1543) erfolgt: mit seiner Entdeckung, dass nicht wir Menschen auf der Erde, sondern die Sonne das Zentrum unseres Universums bilde (Heliozentrisches Weltbild). Danach sei Charles Darwin (1809–1882) mit seiner Evolutionstheorie gekommen, und der Mensch sei in der Folge als höher entwickelter Affe und nicht mehr als Krone der Schöpfung gesehen worden. Und schließlich sei er selbst auf den Plan der Geschichte getreten: Sigmund Freud (1856–1939), der uns in aller Unbescheidenheit bewusst gemacht habe, dass wir noch nie »Herren im eigenen Haus« gewesen seien. Sprich: Wir bildeten uns nur ein, vernünftig und rational zu handeln. In Wahrheit bestimmten unbewusste Triebe, Gefühle und Wünsche unser Tun, Fühlen und Denken. Eher selten machten wir tatsächlich auch, was wir uns bewusst, rational und willentlich irgendwann vorgenommen hätten. Thesen, vor über hundert Jahren postuliert, die heute von den Neurowissenschaften längst bestätigt worden sind.1 Die Macht des Rationalen, der Verstand, werde über- und die Macht der Gefühle und Begierden unterschätzt. Freud war der Meinung, dass die Welt nach seinen Entdeckungen unumkehrbar eine andere geworden sei.
Die Macht unbewusster Wünsche und Begierden haben die Big-Data-Konzerne im Silicon Valley längst für sich entdeckt. So könnte man heute noch eine vierte Kränkung der Menschheit hinzufügen: diejenige durch Steve Jobs (1955–2011), Mark Zuckerberg oder Bill Gates. Denn unser Smartphone kann mehr als wir, und Apple oder Facebook kennen uns besser als unsere Mütter (was für eine Kränkung), ja, besser als wir uns selbst kennen. Das belegen sogar wissenschaftliche Studien, von denen wir noch sprechen werden. Denn die großen Datenmonopolisten kennen inzwischen sogar unsere unbewussten Triebe, Wünsche und Gefühle.
Hätte ich zu Sigmund Freud in seinem Büro in der Wiener Berggasse gesagt: »In hundert Jahren werden Maschinen bis hinters Komma das unbewusste Seelenleben eines jeden Bürgers berechnen können, um ihnen zu sagen, was sie wollen und was sie in einer Stunde wollen werden, ja selbst, was sie tun...
Erscheint lt. Verlag | 24.8.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | 2022 • Digitale Revolution • Digitale Seele • Digitale Welt • Digitalisierung • eBooks • Gesundheit • Internetzeitalter • Neuerscheinung • Neurose • Neurotiker • Profilneurose • Psychische Probleme • Psychologie • Ratgeber • seelische Probleme • Selbstdarstellung • Selbstprofilierung |
ISBN-10 | 3-641-29459-2 / 3641294592 |
ISBN-13 | 978-3-641-29459-5 / 9783641294595 |
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