Nie gut genug (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00784-0 (ISBN)
Thomas Curran ist Assistant Professor am Department of Psychological and Behavioural Science der London School of Economics. Sein Hauptforschungsgebiet ist der Perfektionismus und seine Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Currans Studie mit 40.000 Absolventen zeigte einen alarmierenden Anstieg des Perfektionismus in den letzten 30 Jahren und mündete in seiner Theorie der kulturellen Einflüsse auf den Perfektionismus. Curran hat für die Harvard Business Review geschrieben, und über seine Forschungen wurde im New Scientist (Cover Story), The Guardian, Telegraph und vielen anderen Medien berichtet.
Thomas Curran ist Assistant Professor am Department of Psychological and Behavioural Science der London School of Economics. Sein Hauptforschungsgebiet ist der Perfektionismus und seine Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Currans Studie mit 40.000 Absolventen zeigte einen alarmierenden Anstieg des Perfektionismus in den letzten 30 Jahren und mündete in seiner Theorie der kulturellen Einflüsse auf den Perfektionismus. Curran hat für die Harvard Business Review geschrieben, und über seine Forschungen wurde im New Scientist (Cover Story), The Guardian, Telegraph und vielen anderen Medien berichtet.
Teil 1 Was ist Perfektionismus?
1. Unsere Lieblingsschwäche
oder Der Perfektionswahn in der modernen Gesellschaft
Ich bin Perfektionistin, damit mache ich mich selbst verrückt – und andere genauso. Andererseits glaube ich, das ist einer der Gründe für meinen Erfolg. Weil mir wirklich wichtig ist, was ich tue.
MICHELLE PFEIFFER (US-amerikanischer Filmstar)
Die Erzählung Das Muttermal von Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1843 handelt von Aylmer, einem angesehenen Wissenschaftler, der Georgiana heiratet, eine perfekte junge Frau, deren Vollkommenheit allein durch ein kleines Muttermal auf ihrer linken Wange getrübt wird. Dieses angeborene Mal sticht aus Georgianas ansonsten makellosem Gesicht hervor, und das stört den Perfektionisten Aylmer, der diesen einzigen Schönheitsfehler seiner Frau einfach nicht übersehen kann. «Wie ein purpurroter Schandfleck im Schnee.»
Für Aylmer ist Georgianas Muttermal ihre «fatale Schwachstelle». Nicht lange, und seine Abscheu färbt auf sie ab, sodass sie das von ihm erschaffene verzerrte Bild ihrer selbst zu hassen lernt. Sie bittet Aylmer inständig, seine wissenschaftlichen Kenntnisse zu nutzen, um den Fehler in ihrer makellosen Erscheinung zu beseitigen, «koste es, was es wolle».
Also schmieden sie einen Plan. Aylmer, ein versierter Chemiker, experimentiert mit verschiedensten Substanzen, um ein geeignetes Mittel zu finden. Er arbeitet Tag und Nacht, aber die perfekte Rezeptur will nicht gelingen. Während er über seinen Reagenzgläsern brütet, erhascht Georgiana eines Tages einen Blick in Aylmers Notizen und stößt dabei auf eine Liste mit Fehlversuchen. «So viel er auch erreicht hat», stellt sie fest, «gemessen an seinen Zielen waren selbst die besten Ergebnisse so gut wie ausnahmslos Misserfolge.»
Dann plötzlich: «Heureka!» Aylmer ist es gelungen, ein alchemistisches Wundermittel zu brauen. Hastig trinkt Georgiana das «Wasser aus himmlischer Quelle», ehe sie erschöpft zusammenbricht, um am nächsten Tag ohne eine Spur ihres Muttermals zu erwachen. Aylmer kann seinen Erfolg kaum fassen: «Du bist perfekt!», erklärt er seiner nunmehr makellosen Frau.
Doch Hawthornes Geschichte hat einen Haken. Denn Aylmers Trank lässt zwar Georgianas Schönheitsfehler verschwinden, doch sie muss dafür mit dem Leben bezahlen. Nicht nur das Muttermal hört auf zu existieren – bald darauf tut es auch Georgiana.
Kurz nachdem Hawthorne Das Muttermal verfasst hatte, schrieb ein anderer Autor des Horror- und Schauergenres, Edgar Allan Poe, eine ebenso beklemmende Studie über das verhängnisvolle Wesen des Perfektionismus. In Poes Kurzgeschichte Das ovale Porträt sucht ein Verwundeter Schutz in einem verlassenen Haus in Italien. Sein Diener ist bemüht, die Wunden zu versorgen, muss aber schließlich aufgeben. Der Verletzte erkennt die Hoffnungslosigkeit seiner Situation und verkriecht sich in einem der zahlreichen Schlafzimmer des Hauses, um zu sterben.
Als er zitternd und fiebrig auf dem Bett liegt, fallen ihm plötzlich die vielen Gemälde an den Zimmerwänden auf. Auf dem Kopfkissen neben ihm liegt ein kleines Buch, das die Bilder angeblich erklärt. Als er den Kerzenleuchter zurechtrückt, um besser lesen zu können, fällt das Licht in eine dunkle Nische hinter dem Bettpfosten und gibt den Blick frei auf das Porträt einer jungen Frau in einem ovalen Rahmen. Der Mann ist fasziniert. Er blättert das Buch auf und findet den Eintrag zur Geschichte des Bildes.
Die Frau auf dem ovalen Porträt war die Braut eines ebenso begabten wie gebeutelten Malers. Sie war «ein Mädchen von seltener Schönheit», doch ihr Mann war so besessen von seiner Kunst, dass er sie kaum beachtete. Eines Tages fragte der Maler seine Frau, ob er ihr Porträt malen dürfe. Sie stimmte zu, schließlich ergab sich dadurch endlich eine Gelegenheit, kostbare Zeit mit ihrem Ehemann zu verbringen. Sie betrat also sein Atelier in einem dunklen, hohen Turmzimmer und nahm geduldig Platz, während der Maler ihre fast schon überirdische Schönheit verewigte.
Doch wie Aylmer war auch der Maler ein Perfektionist. «Er vertiefte sich in seine Arbeit, Stunde um Stunde, Tag um Tag.» Viele Wochen vergingen. Der Maler verlor sich derart in seiner Kunst, dass er gar nicht bemerkte, wie seine Frau darunter litt. «Er sah nicht, wie das Licht, das so fahl in den einsamen Turm einfiel, die Gesundheit und die Lebensgeister seiner Frau verwelken ließ, die – allen außer ihm selbst ersichtlich – dahinsiechte.»
Dennoch fügte sie sich klaglos dem Perfektionismus ihres Gatten. Und der Maler war so besessen davon, das Ebenbild seiner Frau zu erschaffen, dass er irgendwann nur noch das Porträt betrachtete. «Er registrierte nicht, dass er die Farbe, die er auf der Leinwand verteilte, von den Wangen derjenigen nahm, die neben ihm saß.» Weitere Wochen vergingen. Und die Frau des Malers wurde immer schwächer.
Dann machte er den letzten Pinselstrich an seinem Meisterwerk und rief: «Das ist wahrhaftig das Leben selbst!»
Als er sich seiner Frau zuwandte, sah er, dass sie tot war.
Es stellt durchaus eine gewisse Herausforderung dar, Hawthorne und Poe aus heutiger Perspektive zu lesen. Ihre Geschichten haben einen bitteren Beigeschmack. So ähnelt Hawthornes Georgiana den vielen Männern und Frauen, die in ihrem Streben nach Perfektion durch Schönheitsoperationen entstellt worden sind oder gar ihr Leben verloren haben. Und Poes Maler wiederum erinnert auffallend an die gestressten Banker und Juristen, die sich Tag und Nacht abrackern, um ein Geschäft oder einen Vertrag abzuschließen, wodurch ihnen keine Zeit für Familie und Freunde bleibt.
Doch noch aufschlussreicher als diese Parallelen sind die Gegensätze. Als Andrew Jackson 1829 bis 1837 Präsident der USA war, taugte Perfektionismus bestenfalls als Stoff für die damals beliebten Horror- und Schauerromane, davon abgesehen galt er aber als lächerlich und alles andere als erstrebenswert. Das hat sich von Grund auf geändert. Heute verherrlichen wir Perfektionismus als lobenswerte Eigenschaft, mit der wir uns schmücken wollen, die wir bewundern und für die wir bereit sind, hart zu arbeiten und alles zu geben.
Natürlich sind wir nicht so naiv wie Hawthornes Aylmer und Poes Maler. Uns ist sehr wohl bewusst, dass der Perfektionismus uns auch einiges abverlangt. Das unermüdliche Streben nach Perfektion, die zahllosen persönlichen Opfer, die wir bringen, und der gnadenlose selbst auferlegte Druck fordern ihren Tribut. Aber ist nicht genau das der springende Punkt? Perfektionismus ist in der modernen Kultur das Erkennungszeichen des selbst aufopfernden Erfolgs, eine Art goldene Mitgliedsnadel, mit der über eine gänzlich andere Realität hinweggetäuscht wird.
Deshalb entlarven gerade Vorstellungsgespräche unsere Bereitschaft für Perfektionismus. Unter all dem Druck geben wir einiges darüber preis, wie wir gesehen werden wollen und welche Masken wir tragen, um unser Gegenüber davon zu überzeugen, dass wir die Investition wirklich wert sind.
Der eindeutigste Teil des Kreuzverhörs ist immer die Antwort auf die Killerfrage: «Worin besteht Ihre größte Schwäche?» Wie wir darauf antworten, verrät, was wir für sozial akzeptable Schwächen halten – Schwächen, die unsere Eignung nur unterstreichen, Schwächen, die uns zugutekommen. «Meine größte Schwäche?», sagen wir und tun dabei so, als begäben wir uns auf der Suche nach der Antwort in die Tiefen unseres Selbst. «Ehrlich gesagt ist das wohl mein Perfektionismus.»
Diese Antwort ist abgedroschen. Laut Umfragen bezeichnen Personalverantwortliche den Satz «Ich neige manchmal zu Perfektionismus» als das am häufigsten bemühte Klischee in Vorstellungsgesprächen.[1] Doch wenn wir uns jenseits davon die Frage stellen, warum wir es verwenden, wird klar, dass wir damit unsere Eignung deutlich machen wollen. In einem Wirtschaftssystem, in dem gnadenlose Wettkämpfe und eine kompromisslose Siegermentalität der Alltag sind, verkommt «Durchschnitt» regelrecht zu einem Schimpfwort. Geben wir zu, dass wir damit zufrieden sind, einfach nur unsere Arbeit zu erledigen, gestehen wir im Klartext ein, dass wir weder den Ehrgeiz noch die Entschlossenheit haben, uns zu verbessern. Und wir glauben nun mal, dass Arbeitgeber nichts weniger als Perfektion erwarten.
Was wir im Übrigen eins zu eins von der Gesellschaft denken. Anders als noch zu Hawthornes und Poes Zeiten ist Perfektionismus in der modernen Welt ein notwendiges Übel, ein ehrenwerter Makel, unsere Lieblingsschwäche. Als Mitglieder dieser Gesellschaft sind wir so verstrickt in ihre Absurditäten, dass wir diese kaum noch als solche wahrnehmen. Doch wir sollten näher hinsehen. Hawthornes Aylmer und Poes Maler sind abschreckende Beispiele dafür, welchen Preis wir dafür zahlen, wenn wir unser Leben danach ausrichten, die schwindelerregenden Höhen der Vollkommenheit zu erklimmen. In diesem Buch werden wir gemeinsam herausfinden, was Perfektionismus wirklich bedeutet, ob er uns tatsächlich nützt, warum er eine größere Rolle spielt als jemals zuvor und wie man mit alldem umgehen kann.
Also, lassen Sie uns doch mal rational an die Sache herangehen. Dann wird nämlich deutlich, wie irrational es ist, den Perfektionismus zu verherrlichen. Im Grunde genommen ist Perfektion ein utopisches Ziel. Sie ist nicht...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
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Übersetzer | Lucien Deprijck |
Zusatzinfo | Mit Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Angst • Bücher zum nachdenken • Burnout • Depression • Depression/Burnout • Depressionen • Effizienz • Einstellungsänderung • Erfolg • Fehlerkultur • Gefühle • Gesellschaftlicher Druck • Glück • Kapitalismuskritik • Lebensratgeber • Lebenssinn • Mental Health • Motivation • Optimierung • Panikattacken • Perfektion • Perfektionismus • Produktivität • Psychologie • Psychologiebuch • psychologie bücher • Resilienz • Scheitern • Selbstfindung • Selbstliebe • Selbstoptimierung • Selbstvertrauen • Selbstwertgefühl • Selbstwirksamkeit • Selbstzweifel • Sinn des Lebens • Stress • Stressbewältigung • Unzulänglichkeit • Verhaltenspsychologie • Zwänge |
ISBN-10 | 3-644-00784-5 / 3644007845 |
ISBN-13 | 978-3-644-00784-0 / 9783644007840 |
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