Im Rausch des Vergnügens (eBook)
496 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60210-5 (ISBN)
Ian Mortimer, geboren 1967 in Petts Wood (Kent), studierte Geschichte und Literatur in Exeter und London. Mittlerweile ist er einer der erfolgreichsten britischen Autoren über das Mittelalter, schreibt Sachbücher genauso wie historische Romane, und gilt in diesem Genre als einer der innovativsten Historiker weltweit. Ian Mortimer lebt mit seiner Frau und drei Kindern an der Grenze zum Dartmoor Nationalpark in der südwestenglischen Grafschaft Devon.
Ian Mortimer studierte Geschichte und Literatur in Exeter und London. Mittlerweile ist er einer der erfolgreichsten britischen Mittelalterhistoriker, schreibt Sachbücher genauso wie historische Romane und ist international bekannt für seine ungewöhnlichen »Zeitreisen«. Mortimer lebt mit seiner Frau und drei Kindern an der Grenze zum Dartmoor Nationalpark in der südwestenglischen Grafschaft Devon.
Einleitung:
Willkommen im Regency – einer Zeit der Widersprüche
Am Donnerstag, dem 28. Januar 1790, wischte sich der Reverend Thomas Puddicombe den Schmutz von den Händen und kehrte in sein Pfarrhaus im Dorf Branscombe an der Küste von Süd-Devon zurück. Die Zeremonie, die er gerade geleitet hatte, war in vielerlei Hinsicht Routine. Die Worte des Beerdigungsgottesdienstes waren uralt und wohlvertraut; die dunkle Kleidung der Teilnehmenden vom Brauch vorgeschrieben, ihre Trauer nicht überraschend. Nicht weniger normal war seine letzte Pflicht an diesem Tag – der Eintrag des Datums und des Namens des Toten in das Sterberegister seines Kirchenbuchs. Doch als er sich an seinen Schreibtisch setzte und den Federkiel in die Tinte tunkte, schrieb er keinen ganz normalen Eintrag. Er fügte die Todesursache hinzu:
White, John, 77 Jahre alt. Dieser Mann verlor sein Leben durch einen ganz banalen Unfall: Er schnitt seinen Zehennagel mit einem Federmesser etwas zu kurz, sodass es leicht blutete: Die offene Stelle wucherte, und eine einsetzende Entzündung machte ihm innerhalb weniger Tage den Garaus.
Diese Detailfülle wird jeden überraschen, der englische Kirchenbücher kennt. Doch Mr Puddicombe schrieb oft etwas über die Todesursachen seiner Schäfchen. Nachdem Joseph Hooke, der dreizehnjährige Sohn eines Bauern im Dorf, 1803 einem Unfall zum Opfer gefallen war, fühlte sich der Pfarrer verpflichtet festzuhalten, dass der Junge »auf einem durchgegangenen Pferd saß, an der Straßenecke beim Hangman’s Stone hinunterfiel; eine halbe Meile weit mitgeschleift und auf der Straße ein Stückchen oberhalb von Higher Watercombe tot gefunden wurde«. Und als Jane Toulmin, eine fünfundzwanzigjährige Frau, im Mai 1798 ins Wasser ging, schrieb er eine Dreiviertelseite über die letzten beiden Tage ihres Lebens. Seine Abschlusssätze lauteten:
Bevor sie das Haus ihrer Schwester verließ, holte sie all ihr Geld hervor und ließ es in ihrem Schlafzimmer, und in diesem Zustand, ohne einen Sixpence in der Tasche, wanderte sie bis zum Dienstagmorgen umher, dem Tag, an dem sie, so ist zu befürchten, ihrer Existenz ein Ende bereitete. Sie wurde in Beer gesehen, wie sie zwischen drei und vier Uhr sehr schnell die Common Lane hinaufging; und um etwa Viertel nach fünf Uhr wurde sie von einem gewissen John Parrett, einem Zimmermann, im Wasser gefunden.
Solche Schilderungen passen irgendwie so gar nicht zu unserem Bild der Jane-Austen-Zeit – zu den vornehmen Häusern, den Kleidern und Kutschen. Doch natürlich gehören auch Friedhöfe auf dem Dorf, Reitunfälle und junge Frauen in tiefster Verzweiflung in diese Epoche. Und jeder ausführliche Eintrag in Thomas Puddicombes Sterberegister führt uns zu weiteren Fragen. War es im Jahr 1790 üblich, dass sich die Menschen ihre Zehennägel mit dem Federmesser schnitten? Passierten häufiger Reitunfälle wie der von Joseph Hooke? Und wussten die Menschen in den 1790er-Jahren etwas über psychische Krankheiten? Bei Jane Austen findet man auf diese Fragen keine Antworten, und doch erzählen sie von der Welt, in der sie lebte, ebenso viel wie die komplizierten Interaktionen der Figuren in ihren Büchern.
Mr Puddicombes ausführliche Sterberegistereinträge enden abrupt im Jahr 1812. Von da an wurde er von offizieller Seite stark eingeschränkt: Die Regierung führte ein gedrucktes Formular ein, auf dem die Einzelheiten einer Beisetzung festgehalten wurden. Jede Seite bestand aus einer Reihe von Kästchen, in die der diensttuende Geistliche den Namen des Toten, sein Alter, seinen Wohnort und sein Beisetzungsdatum schreiben sollte – und sonst nichts.
Diese Verschiebung vom überschwänglichen Individualismus hin zu einer von oben aufgezwungenen Standardisierung verweist auf die größeren Veränderungen der Epoche. In den 1860er-Jahren erschien der Anfang des Jahrhunderts vielen Menschen als die letzte Zeit wahrer Freiheit, bevor die Regulierung der Gesellschaft ernsthaft begann. Das Reformgesetz von 1832 signalisierte den Anfang vom Ende der politischen Herrschaft des Hochadels und der landbesitzenden Gentry. 1833 beschränkte das Fabrikgesetz die Zahl der Stunden, die Kinder jeden Tag arbeiten durften. Im selben Jahr wurde in allen britischen Kolonien die Sklaverei abgeschafft. Seit 1834 wurden Mörder nicht mehr am Galgen aufgeknüpft. Der einst so vertraute Anblick öffentlicher Hinrichtungen wurde zur Seltenheit, da ihre Gegner mit wachsendem Erfolg gegen die Todesstrafe zu Felde zogen. Grausame Sportarten wie Hahnenkampf und Bärenhatz wurden 1835 verboten. Die verpflichtende staatliche Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen begann 1838. Die Standardisierung des Schraubengewindes wurde 1841 eingeführt und bahnte der Massenfertigung den Weg. Seit Mitte der 1840er-Jahre sorgte der Telegraf dafür, dass man Botschaften über weite Entfernungen senden konnte. Züge ersetzten die Postkutschen und machten die Straßenräuber arbeitslos. Die Fotografie begann der Malerei Konkurrenz zu machen, wenn es darum ging, Szenen und Porträtbilder festzuhalten.
Und zu all diesen Veränderungen kam noch, dass in der frühviktorianischen Zeit eine neue Moral die Gesellschaft erfasste und die Freiheiten der Menschen einschränkte. Vor allem die Einstellungen zu Ehebruch, Spielleidenschaft und ungezahlten Schulden verhärteten sich. Man kann verstehen, dass diejenigen, die von den 1860ern aus zurückblickten, ihre Vorfahren um die Jahrhundertwende als eine zügellose, wilde Gesellschaft sahen. Damals konnten Gentlemen und Ladys, Bettler und Geistliche, Soldaten und Herumtreiber, Unternehmer und Kurtisanen in einer Welt voller Gold und Heldentum, Alkohol und Sex, Begeisterung und Möglichkeiten im großen Ganzen tun und lassen, was sie wollten.
Unsere eigenen Eindrücke der Jahre zwischen 1789 und 1830 sind eigentlich ganz ähnlich. Noch heute gilt diese Phase als eine Zeit des Überschwangs und des ungeahndeten schlechten Benehmens. Wegen der Zügellosigkeit des Prinzregenten und seiner Gefährten erscheint uns die Oberschicht als besonders unmoralisch. Die Inschrift auf dem antiken Apollontempel in Delphi mochte den Weisen geraten haben, »nichts im Übermaß« zu tun, doch die klassisch gebildete englische Oberschicht schien diesen Ratschlag als Herausforderung zu verstehen, alles im Übermaß zu tun.
Wir haben es also mit einem Königshof voller Wüstlinge, Dandys und Höllenhunde zu tun, die sich mit teurem Essen vollstopften, gewaltige Mengen Portwein in sich hineinschütteten und bis in die frühen Morgenstunden ganze Vermögen verspielten. Dann gingen sie entweder mit ihren Geliebten ins Bett oder legten sich auf dem Weg nach Hause irgendwo zum Schlafen nieder – »in den Stiefeln auf den Sofas schnarchend«, wie Prinzessin Caroline es ausdrückte –, bis sie irgendwann aufwachten und verkatert ins Parlament gingen, wo sie Reden über die Zukunft des Landes hielten.
Neben diesen privilegierten Taugenichtsen gab es eine große Palette anderer zweifelhafter Charaktere: schneidige Wegelagerer, gerissene Schmuggler, Gentleman-Faustkämpfer und politische Duellanten aller Couleur. Kurz gesagt, diese Zeit war für viele schlichtweg das Zeitalter des Übermaßes. Eingekeilt zwischen der leicht langweiligen Eleganz des 18. Jahrhunderts und der prüden moralischen Überlegenheit der Frühviktorianer wirkt es liederlich, unanständig, grell, gefährlich, schockierend, anstößig – und doch so unterhaltsam und anziehend.
Moment mal, könnten Sie sagen: War das nicht auch die Zeit, in der John Nash Regent Street und Regent’s Park in London mit ihren prächtigen Häuserzeilen baute? War das nicht das Zeitalter, in dem George Stephenson seine bahnbrechenden Dampfmaschinen konstruierte und Michael Faraday den Elektromotor entwickelte? Und habe ich vergessen, dass das frühe 19. Jahrhundert die Gründung der National Gallery erlebte, die Entzifferung der Hieroglyphen und den Aufbau der Elgin Marbles im British Museum? Stehen das zügellose Wesen der Zeit und diese kulturellen Errungenschaften nicht im Widerspruch zueinander? Ja, das stimmt. Und man könnte diese Argumentation noch weiter treiben. Was die neuen Häuser überall im Lande angeht, nun, genau in diesen herrschaftlichen Anwesen, an diesen städtischen Plätzen und halbmondförmigen Straßenzügen lebten die zügellosesten Menschen. Denken Sie an die Landschaftsgärten der großen Häuser, die Humphry Repton und Lancelot »Capability«...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2022 |
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Übersetzer | Karin Schuler |
Zusatzinfo | Mit farbigem Bildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | 18. Jahrhundert • 19. Jahrhundert • Buch • Bücher • England • Georg der vierte • Georgette Heyer • Georg IV • Greek Revival • Im Mittelalter • Industrialisierung • Jane Austen • John Claudius Loudon • Königreich • Leben früher • Lesen gegen Langeweile • Lord Byron • Politische Geschichte • Prince of Wales • Regency • Shakespeares Welt • Thomas Lawrence • time traveller • Übergang • Vereinigtes Königreich • Weltgeschichte • Zeitalter • Zeit der Erkenntnis • Zeitreise • Zeit zu Hause |
ISBN-10 | 3-492-60210-X / 349260210X |
ISBN-13 | 978-3-492-60210-5 / 9783492602105 |
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