Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert (eBook)
387 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44978-4 (ISBN)
Elke Seefried ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit (19.-21. Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen.
Elke Seefried ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit (19.-21. Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen.
Zukunft als Praxis. Kommunismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Andreas Wirsching
Die Geschichte ist mit dem »Sieg« des Westens im Kalten Krieg nicht stehen geblieben, im Gegenteil: Heute mehr denn je muss sich das westliche liberale System selbst die Frage nach seiner eigenen Zukunftsfähigkeit stellen lassen.114 Globalisierung und Digitalisierung entfesselten eine neue Spielart des (Finanz-)Kapitalismus; lange Zeit verbürgte Sicherheiten über den produktiven Zusammenhang von Demokratie und Kapitalismus geraten ins Wanken.115 Dementsprechend hat eine neue antikapitalistische Kritik an Boden gewonnen. Immer wieder einmal wird eine »Renaissance des Marxismus« postuliert, bezugnehmend insbesondere auf Karl Marx’ Kritik der politischen Ökonomie.116 Von den anderen konstitutiven Merkmalen des Marx’schen Denkens wie vor allem der Epistemologie des Historischen Materialismus ist dagegen weniger die Rede.
Das ist kein Zufall, denn die Geschichtsmetaphysik des Marxismus lässt sich im frühen 21. Jahrhundert kaum wiederbeleben. Im Gegenteil: Dass der Kommunismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Millionen von Anhängern in seinen Bann zu ziehen vermochte, wirkt heute erstaunlich, ja geradezu befremdlich.117 Jedenfalls gilt das für den auf Moskau und die Dritte Internationale fixierten Marxismus-Leninismus, von dem in diesem Aufsatz vor allem die Rede sein soll. Denn diese sprichwörtlich orthodoxe Hauptvariante des Kommunismus stellte nicht einfach nur eine besonders radikale Form der Kritik am Kapitalismus dar, auf die heute möglicherweise wieder zurückzugreifen wäre. Vielmehr begründete sie einen in sich geschlossenen ideologischen Zusammenhang der Weltaneignung. Auf seiner Basis erzeugte der Kommunismus ein sprachliches Aussagesystem, das die gesamte Wirklichkeit zu erfassen beanspruchte. Der entscheidende Fluchtpunkt dieses Aussagesystems war die Zukunft, dies allerdings in einem sehr spezifischen Sinne: An der Wurzel lag zunächst der Anspruch auf wissenschaftliche Erkenntnis der Zukunft. Aus der Sicherheit der Erkenntnis folgten Aneignung und tätige Gestaltung der Zukunft. Zusammen formten diese essentiellen Merkmale der kommunistischen Weltsicht eine sehr spezielle Form des Zukunftswissens oder auch der Zukunftsgewissheit. Sie werden im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen. Dabei konzentrieren wir uns auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. In dieser Phase war der Kommunismus noch nicht vollends zum System erstarrt, sondern befand sich in dynamischer Bewegung. Zum Angelpunkt eines neuen geschichtlichen Zeitalters machte ihn seine unbedingte Verpflichtung auf die Zukunft, was gleichermaßen ungestüme Bewunderung wie elementaren Hass hervorrief.
1.Natur und Geschichte: ein positivistischer »Zeitgeist« im 19. Jahrhundert
Wer nach den erkenntnistheoretischen Grundlagen des kommunistischen Zukunftswissens sucht, begibt sich zunächst tief in die Philosophie- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. In Deutschland war Wissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark von idealistischen und neuhumanistischen Vorstellungen geprägt. Wissenschaftliche Bildung galt zunächst als Geistesbildung, die das Individuum zur geistigen Reife und damit zur Freiheit führen sollte. Konzentriert auf Altertumskunde, klassische Philologie und die Welt der Künste, entfaltete der Neuhumanismus eine Bildungstheorie, in der der Fortschritt menschlicher Erkenntnis und die Perfektibilität des sittlichen Menschen zusammenwirkten. Dieses eng mit Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt verbundene Wissenschafts- und Bildungsverständnis geriet im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker unter Druck. Es harmonierte nicht wirklich mit den großen Trends des Jahrhunderts. In einem Zeitalter der Massen und des gewaltigen technologischen Fortschritts, in dem ganz neue Arbeits- und Produktionsverhältnisse in den Mittelpunkt rückten, erschien die Idee der Freiheit des allseitig gebildeten Individuums zunehmend als elitär und wirklichkeitsfremd. Und in einem Zeitalter, in dem den Naturwissenschaften und dem Wissen aufgrund von Erfahrung immer größere Bedeutung zukam, erschienen Idealismus und die neuhumanistische Idee der Geistesbildung als spekulativ und der Metaphysik verhaftet. Beides wurde »unmodern«, auch wenn sich der deutsche Idealismus gewissermaßen modernisierte und mit Hegel die dialektische Dynamik der Geschichte und die zugrunde liegende »konkrete« Wirklichkeit erfasste.118
Mithin etablierten sich gegen die Mitte des 19. Jahrhundert andere, gleichsam moderne Gegenmodelle wissenschaftlichen Denkens. Am wichtigsten wurde ein naturalistisches und materialistisches Wissenschaftsverständnis, das zum Gegenspieler des Idealismus wurde. Hintergrund war der gewaltige Fortschritt in den exakten Naturwissenschaften und den sich hieraus ergebenden technisch-industriellen Nutzanwendungen. Zugleich enthielt der Positivismus auch Motive einer Reaktion auf die Auflösung der mittelalterlich-ständischen Gesellschaft, die als Verlust und Verfall betrachtet wurde. So kennzeichneten den frühsozialistischen Utopismus eines Henri Saint-Simon und das System seines Schülers Auguste Comte (1798–1857) durchaus auch romantische und traditionalistische Züge, selbst wenn beide Theologie und Metaphysik als Erkenntnisquellen der Gegenwart ablehnten. Comte insbesondere suchte stattdessen nach einem neuen allgemeingültigen Prinzip, das die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit ordnen sollte. Damit reagierte er auf die von ihm diagnostizierte soziale Anarchie, die Aufklärung und Revolution erzeugt hätten.
In dieser wissensbasierten Weltanschauung, die er selbst als »positive Philosophie« beziehungsweise als »système de politique positive« bezeichnete, galten allein die methodisch streng zu ermittelnden materiellen Tatsachen als Quelle der Erkenntnis.119 Die Tatsachen zu erforschen, war Aufgabe der Wissenschaft, allerdings nicht im Sinne einer bloßen Deskription. Vielmehr ging es darum, die gesetzmäßigen Zusammenhänge zu erkennen, denen die Tatsachen folgen. Positive Wissenschaft ist nach Comte die methodisch exakte Wissenschaft, die zu einer solchen Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge in der Lage ist. Es geht also darum, einerseits die in der Welt erfahrbaren, also die empirisch erforschbaren Tatsachen zu sammeln, zu klassifizieren und exakt zu beschreiben, andererseits aber diese Tatsachen mit Hilfe allgemeiner Gesetze und Theorien zu erklären und in einen Zusammenhang zu bringen.
Auf diesen Grundsätzen entwickelte Comte sein »Drei-Stadien-Gesetz«. Ihm zufolge schritt die Geschichte in einer naturgesetzlichen Form fort: von dem »theologischen« über das »metaphysische« in das »positive« oder »wissenschaftliche« Stadium. Dieses universalgeschichtliche Entwicklungsmodell, das Comte in seiner langfädigen und umständlichen Sprache wieder und wieder zu beweisen suchte, blieb für sich genommen ephemer. Viel wichtiger war aber die zugrunde liegende Epistemologie. Durch Erfahrung gewonnene Tatsachen und aus ihnen abgeleitete natur-analoge Gesetzmäßigkeiten avancierten Mitte des 19. Jahrhunderts zu den entscheidenden Stichworten eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses. Sie beeinflussten wesentliche Aspekte des philosophischen und politisch-gesellschaftlichen Denkens und erzeugten eine Art positivistischen »Zeitgeist«. Er entfaltete sich unabhängig von den großen Autoren, beförderte aber eine sehr spezifische Anschauung von Natur und Geschichte und begründete damit eine neue Form der »Modernität«. Viele Wissenschaftler, Intellektuelle und gebildete Zeitgenossen waren fasziniert von dem Gedanken, eine Parallele ziehen zu können zwischen Natur und Naturgesetzen einerseits und Gesetzen in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung andererseits. Tatsächlich könnte nichts die Macht der Naturwissenschaften und des positivistischen Denkens besser ...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2022 |
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Co-Autor | Frank Bajohr, Gideon Botsch, Fernando Esposito, Jürgen Frölich, Stefan Gerber, Ewald Grothe, Silke Mende, Eva Oberloskamp, Thomas Rohkrämer, Elke Seefried, Detlef Siegfried, Martina Steber, Anna Strommenger, Hermann Wentker, Andreas Wirsching |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | 1968 • Anarchismus • Bundesrepublik • Bundesrepublik Deutschland • CDU • CSU • DDR • Deutschland • Erwartung • Faschismus • F.D.P. • FDP • Friedensbewegung • Grüne • Horizont • Kaiserreich • Katholizismus • Komintern • Kommunismus • Konservatismus • KPD • Liberalismus • Nationalismus • Nationalsozialismus • Neue Linke • NSDAP • Partei • Parteien • Politik • SED • Sozialdemokratie • Sozialismus • SPD • Umweltbewegung • Utopie • Weimarer Republik • Zentrum • Zukunft • Zukunftserwartungen |
ISBN-10 | 3-593-44978-1 / 3593449781 |
ISBN-13 | 978-3-593-44978-4 / 9783593449784 |
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